Martin Compart


KRIMIAUTOREN VON ABEL BIS ZELTSERMAN: Meine Top 15 des Jahres by Martin Compart

https://krimiautorena-z.blog/2022/12/31/meine-top-15-des-jahres/



REZENSIONEN ZU BUCHAN by Martin Compart

Axel Bussmer in seiner KRIMINALAKTE (sie erscheint seit 2007!): https://kriminalakte.org/2022/07/05/alter-scheiss-john-buchan-der-uebermensch/

Nils Heuner in KULTURNEWS: https://kulturnews.de/john-buchan-der-uebermensch/

John Buchan – Der Übermensch

Da die Erstauflage von 2014 noch nicht so lange her ist, freuen mich die Rezensionen natürlich besonders.



IM HERBST 2022:KENNETH FEARING BEI ELSINOR by Martin Compart




DIE PROVINZ BRENNT: DER NEUE GRANGÉ by Martin Compart

Das Elsass während der Weinernte: In einer Kapelle wird unter den Trümmern eines Freskos die Leiche eines Mannes entdeckt. Das Gebetshaus liegt unweit des Wohnorts einer religiösen Gemeinschaft, deren Bewohner ein Leben wie vor 300 Jahren führen und sich durch den Weinbau finanzieren.
Kommissar Pierre Niémans ahnt schon bald, dass der mysteriöse Todesfall nicht das einzige finstere Geheimnis der Täufergemeinde ist. Um mehr zu erfahren, beschließt er, seine Assistentin Ivana undercover als Erntehelferin einzuschleusen. Als ein weiterer Mord geschieht, gerät auch Ivana in große Gefahr…

Lübbe Belletristik
Hardcover, 22,00 €, 366 Seiten
ISBN: 978-3-7857-2787-4
Ersterscheinung: 29.04.2022

eBook (epub) 16,99 €
Hörbuch (CD) gekürzt 19,99 €
Hörbuch (Download) gekürzt 13, 99€

In Deutschland sind die Zeiten vorbei, in denen der neue Grangé regelmäßig die Bestsellerlisten anführte.
Aber er hat auch hier noch ein großes und treues Stammpublikum, jenseits der  intellektuellen Verknappung der Kriminalliteratur im deutschsprachigen Raum, das nach wie vor vom Lübbe-Verlag bestens bedient wird. So ist auch dieser Band wieder exzellent ediert und produziert. Ersteres durch die Arbeit der langjährigen Grangé-Lektorin Iris Gehrmann und der Übersetzerin Ulrike Werner (die angesichts des vom Autor viel verwendeten Elsässer Dialekts hart gefordert wurde).

Für Grangés Werk ist dies ein kurzer Roman.
Das hat damit zu tun, dass er – wie schon sein Vorgänger, DIE LETZTE JAGD, – auf einem Drehbuch der erfolgreichen TV-Serie DIE PURPURNEN FLÜSSE basiert.
Für die Fernsehserie reanimierte Grangé extra seinen populärsten Helden, Kommissar Pierre Niémans (der dank der Darstellung durch Jean Reno in zwei erfolgreichen Kino-Filmen zum Serienhelden mutierte).

Mit Niémans nutzt Grangé einmal mehr das Klischee – oder charmanter ausgedrückt: den kriminalliterarischen Topos – des bärbeißigen Macho-Bullen. In den Romanen ist er noch mürrischer als in der TV-Serie („ Seine guten Vorsätze hielten nicht lange. Weder Sanftheit noch gute Laune passten zu ihm.“ „Die heutige Zeit, die nur noch aus Vorsorge für alle Eventualitäten zu bestehen schien, fand er zum Kotzen.“). Für ihn gelten natürlich weder Regeln noch Vorschriften, genauso wenig wie Hierarchien. Er neigt dazu, wie eine Abrissbirne ins Geschehen zu schlagen.

Ihm zur Seite steht die junge Kollegin Ivana (wohl auch ein Zugeständnis an die TV-Serie, die dort Camille heiß). Ivana, verletzlich, umtriebig, rücksichtslos und scharfsinnig, ist eine „moderne“ Frau mit turbulenter Vergangenheit. Als Typus inzwischen ebenso ein populärkulturelles Klischee – Verzeihung: Topoi – wie der griesgrämige Macho-Bulle.
Schlechte Autoren langweilen mit solchen Konstellationen, Grangé kommt damit nicht nur durch, er amüsiert und unterhält.

Wieder mal hat er sich die/eine französische Provinz vorgenommen und ihre Widerwärtigkeiten enttarnt. Immer wieder zeigt Grangé ein Frankreich-Bild, das sogenannte Patrioten zum Kotzen bringt. Außerdem variiert er zwei seiner „Lieblingsthemen“: Kinder als Opfer und Sekten.

Auch hier gelingen dem „Archäologen des Bösen“ eindringliche Bilder des Schreckens, die über visualisierte Umsetzungen hinaus reichen und Motive der Gothic Novel aktualisieren. Viele Romane des Autors beeindrucken als moderne Gothic Novels, verdanken einiges dem Marquis de Sade und Dekadenten wie Joris-Karl Huysmans.

Sein filmischer Stil, der die Szenen wie im Kino am Zuschauer vorbei rollen lässt, trügt häufig darüber hinweg, dass Grangé zu den besten Stilisten der aktuellen Noir-Literatur gehört.

Auch im TAG DER ASCHE finden sich wunderbare Apercus wie „Er nahm den Fuß vom Gaspedal wie ein Mörder, der plötzlich den Griff um den Hals seines Opfers lockert.“ Oder „Das Gehirn eines Polizisten ist wie eine Bibliothek. Temperatur und Luftfeuchtigkeit müssen ständig überwacht werden.“.

Die Kapitel sind kurz. Und wie immer wird man sofort mit Beginn des Buches in die Handlung gesogen.
Atmosphäre, Stil, Charaktere, Handlung und Rhythmus sind ganz so, wie man es von einem Grangé-Roman erwarten darf. Aber es dauert ziemlich lang, bis die Geschichte Fahrt aufnimmt und Action generiert. Das Ende erscheint mir ein bisschen schlampig gebaut. Für einen durchschnittlichen Thriller-Autor wäre TAG DER ASCHE ein Quantensprung.

Aber für Grangé gelten andere Maßstäbe.

Dies ist also mit Sicherheit nicht sein bester Roman (allerdings auch mehr als die ambitionslose novelization eines Drehbuchs). Aber das spielt keine wirkliche Rolle, denn es ist ein neuer Grangé!

Und der hat sich seit über zwei Jahrzehnten als eine der faszinierendsten und eigenwilligsten Stimmen in der Noir- und Thriller-Literatur etabliert.

Der Autor mit den Hauptdarstellern der TV-Serie: Erika Sainte und Olivier Marchal.

2020 erzählte Grangé bei Europe 1 über seine nächsten Projekte folgendes:

„Momentan adaptiere ich meinen Roman LOTANTO (PURPURNE RACHE) für eine TV-Mini-Serie. Außerdem arbeite ich an einem Buch über das Nachtleben und den Untergrund in Tokio. Und ich schreibe an meinem ersten rein historischen Roman, der sehr umfangreich werden wird. Mindestens 800 Seiten. 400 Seiten habe ich bereits, aber um auf 800 zu kommen, brauche ich für die erste Fassung 1200 Manuskriptseiten. Der Roman spielt 1935 in Berlin. Außerdem arbeite ich an einer neuen Fernsehserie, ein Originalstoff für viele Folgen. Das ist eine Menge Arbeit. Niemand kann behaupten, dass ich untätig bin und dem Müßiggang fröhne“

Jedes dieser Projekte wird von mir sehnsüchtig erwartet).



RALF STIFTEL ÜBER JOHN MAIR by Martin Compart
27. Januar 2022, 10:42 am
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2022-01-25_TZHamm_31.pdf



KLASSIKER DES POLIT-THRILLERS: JOSEPH R.GARBERS VERTIKALE MENSCHENJAGD by Martin Compart

Jeden Morgen vor Arbeitsbeginn genießt Dave Elliot die Stille seiner Chefsuite im 45. Stockwerk eines New Yorker Bürohauses. Doch an einem bestimmten Tag ist alles anders.

An diesem Tag versucht jeder, der Dave begegnet, ihn umzubringen. Sein Chef macht den Anfang, als er ihm mit durchgeladener Pistole und der festen Absicht, ihn zu erschießen, gegenübertritt. Und der 50stöckige Büro-Tower scheint zu wimmeln von Leuten, die nur eines im Sinn haben: Dave Elliots Leben auszulöschen.
Er hat 24 Stunden Zeit, um herauszufinden, warum…

Dave kämpft einen fast aussichtslosen Kampf gegen einen überlegenen Gegner, der alle Vorteile auf seiner Seite hat. In dieser Situation erwachen in ihm plötzlich wieder alle Instinkte und Überlebenstechniken aus seiner Zeit als Green Berets, die er längst vergessen zu haben glaubt. So eskaliert die höllische Verfolgungsjagd durch die Fahrstuhlschächte, Treppenhäuser und über die Fassade des Wolkenkratzers in einen erbarmungslosen Schlagabtausch zwischen den zahlenmäßig und technisch überlegenen Häschern auf der einen und dem Erfindungsreichtum und der Schnelligkeit des Opfers auf der anderen Seite.


Und es sind nicht nur die Verfolger, denen Dave Elliot sich stellen muss: es gibt da eine unbeglichene Rechnung aus der Vergangenheit, die jetzt fällig zu werden scheint

Piper Verlag
366 Seiten in unterschiedlichen Ausgaben

Dieser Roman liest sich schneller, als man DIE HARD gucken kann. Dave Elliot führt den Leser zu Orten, die John McLane nicht mal erahnen würde. Und dank Garbers gemeiner Prämisse (und schriftstellerischem Können), bleibt der Roman auch länger in Erinnerung.

There`s no time for sex in the book. Hell, there`s barely time for lust.
sagte einst der Autor.

DER SCHACHT steht ganz in der Tradition der großen Jagd-und-Flucht-Romane. Spätesten seit dem Alan Breck Stuart und David Balfour durch die Highlands gejagt wurden, gehört die Menschenjagd zu den großen Topoi der Thriller-Literatur. Garber – äußerst belesen – kannte das Genre gut: „I certainly had Hitchcock in mind when I wrote Vertical Run. And surely I was influenced by the late Geoffrey Household whose man-on-the-run thrillers are the best ever written (try his Dance of The Dwarves, which is the scariest novel I have ever read)… I framed it as the ultimate paranoid nightmare: suppose everybody in the world wants you dead.

Im Subtext geht es auch darum, dass Dave Elliot Männer bekämpft, zu denen er einst gehörte und nie wieder gehören wollte. Um sie zu besiegen, muss er wieder wie sie werden, ins Überwundene zurückkehren. Die ganze Handlung wird aus seiner Perspektive erzählt. Plot und Charakter interagieren auf eine erzählerisch höchst raffinierte Weise. Dass es funktioniert, zeigt Garbers ganze Klasse.

In Zeiten der Corona-Pandemie erreicht der Thriller wieder zusätzliche Aktualität:

ACHTUNG SPOILER: As for the surprise at Lockyear, I`ve always been aware of the incredibly ghastly experiments conducted by Shiro Ishii and Unit 731 during World War II. The Japanese army used Chinese civilians and both American and British POWs as lab rats in a horribly large number of unspeakable medical tests. All of this was covered up quite thoroughly by American war crimes investigators, and it struck me as obvious that the reason for the coverup was that our nation wanted to get its hands on the Japanese research results. Now, fifty-five years after the fact, we know that is precisely what happened.
Nach Garbers Überzeugungen und Erfahrungen beherrschen Verschwörungen nicht nur das Geschäftsleben, sondern auch – man glaubt es kaum! – politische Interessen.

In DER SCHACHT (VERTICAL RUN) beschreibt Garber eine vertikale Menschenjagd, in seinem Folgewerk, IM AUGE DES WOLFES, eine vertikale. Während Dave Elliot rauf und runter durch einen Wolkenkratzer gehetzt wird (wie Bruce Willis in DIE HARD nach Roderick Thorpes NOTHING LAST FOREVER), flüchtet Jack Taft horizontal durch eine ihm fremde Stadt (Singapur).

Die deutsche Ausgabe von VERTICAL RUN unterscheidet sich entscheidend von der englischsprachigen:
The principal difference between my original version and what was published in this country is that Dave died at the end of the original version — as did Marge. The publisher (hoping for a sequel, no doubt) and Warner Brothers both wanted them to live. Insofar as Warner Brothers was paying quite good money for the service, I added the scene in which Marge is discovered alive and rescued, and added a single page ending that keeps Dave alive. The Germans liked the original, darker version and, with my permission, published it. In the final analysis, I think keeping both characters alive was a good choice — it delivers extra surprises and lets readers close the book with satisfied grins on their faces.
Der damalige Piper-Boss, Viktor Nieman, hatte es eher mit düsteren Thrillern.

Es kam (bisher noch) nicht zur Verfilmung, noch zu einem Dave Elliot-Sequel.
Der Workaholic Garber starb 2005 im Alter von 61 Jahren an einem Herzinfarkt.

Joseph Rene Garber wurde am 14.August in Philadelphia in eine Soldatenfamilie geboren. Wegen der ständigen Versetzungen wurden Bibliotheken zur eigentlichen Heimat des Jungen. Er besuchte die University of Virginia, brach das Studium aber ab, um wie sein Vater zur Armee zu gehen. „I spent two years at the University of Virginia majoring in beer-drinking, a discipline for which little academic credit was awarded.” Anschließend ging er reumütig an die Hochschule zurück und schloss 1968 sein Studium der Philosophie erfolgreich ab. Er machte in der Wirtschaft eine Managementkarriere, die den Hintergrund seiner Romane bildet. In VERTICAL Run nutzte er sogar seinen alten Arbeitsplatz bei Booz Allen, 200 Park Avenue, als Handlungsort. Ein Schelm, der böses dazu denkt.

Seine Betrachtungen des Managements strotzen vor Zynismen. Nebenher hatte er immer geschrieben; u.a. war er Kolumnist für „Forbes“, wurde aber immer unzufriedener mit seiner Arbeit für große Wirtschaftsunternehmen. 1989 veröffentlichter er seinen ersten Roman, RASCAL MONEY. Eigentlich war er als Sachbuch (unter dem schönen Titel IN SEARCH OF SHABBINESS) angelegt, aber die Rechtsabteilung des Verlages hatte Bedenken und riet ihm Fiktion daraus zu machen. Mit seinem zweiten Buch, VERICAL RUN, 1995, hatte er zu seiner Überraschung einen internationalen Bestseller. Zwischen 1995 und 2020 wurden 40 Ausgaben in 13 Sprachen veröffentlicht; in Deutschland hatte das Buch bis 2002 acht Auflagen.

Garber war hochintelligent, hatte einen schrägen Sinn für Humor und galt als großzügig, was sich auch in der Unterstützung von Non-Profit-Organisationen ausdrückte.

I am a sharply sardonic person who usually looks for (and finds) humor in even the most ghastly circumstances. Keeping that out of serious books is probably my greatest single challenge as a writer.

Er war u.a. mit Tippi Hedren befreundet, mit der er auch die leidenschaftliche Tierliebe teilte.

Auf die Frage nach seinen Lieblingsautoren antwortete er:
I read omnivorously, so that’s an unfair question. Off the top of my head: Twain, Conrad, Hemingway, Iris Murdoch, John Fowles, Brian Moore, Ian McEwen, the authors of the Icelandic Sagas, Iain Banks, Terry Pratchett, Patrick O’Brian, Bernard Cornwall, Shusako Endo, Russell Hoban, Angela Carter, Barry Unsworth, Robert Stone, Thomas Pynchon, Robert Goddard, Geoffrey Household — and ten pages more.

Zum Abschluss noch eine nette Geschichte aus dem Vorfeld der Veröffentlichung des Romans:

There`s a cute story here: when she first got the manuscript, my agent put it in the trunk of her car prior to going upstate for the weekend. Then she drove to her office, parked outside, and dashed upstairs for a few minutes. By the time she got back (welcome to New York), the car had been burglarized, and the manuscript was gone.
The burglar dumped it (along with other stuff he didn`t want) on the street in Queens. A hairdresser found it, and read it over the weekend. On Monday he called my agent and told her that he had it, and would be happy to return it. She offered him a reward for his trouble. He declined. She insisted. To which he replied, “The only reward I want is a signed copy of the book, because it`s the best thriller I`ve ever read.” So my agent knew she had hit… and the hairdresser DEFINITELY got a signed copy.



KLASSIKER DES NOIR-THRILLERS: „DIE ERSTE TODSÜNDE“ von LAWRENCE SANDERS by Martin Compart

Mitternacht in New York: In einer Straße der vornehmen Upper East Side wird ein Mann ermordet aufgefunden. Der Tote war ein einflussreicher Politiker, der lautstark für Recht und Ordnung eintrat. Aber dieses Verbrechen ist nur das erste Glied in einer Kette von Morden ohne erkennbares Motiv, die die ganze Stadt in Angst und Schrecken versetzen.

So beginnt dieser Roman zweier Männer: Captain Edward X. Delaney, Leiter des 251. Polizeireviers in Manhattan, seit über 25 Jahren im Polizeidienst, guter Ehemann und Vater, stolz auf seine Familie, seine Stadt, sein Revier und vor allem auf seinen Beruf. Daniel Blank, mit 36 Jahren Vertriebsleiter eines großen Zeitschriften-Konzerns, stolz auf seine intellektuellen Fähigkeiten genießt die Früchte seines Erfolgs: er besitzt eine Luxuswohnung, fährt einen schnellen Wagen, hat ein sehr männliches Hobby: als Bergsteiger unternimmt er gern gewagte Kletterpartien.

Aber es gibt Risse im Leben beider Männer: Delaneys Frau wird von einer geheimnisvollen Krankheit befallen. Auch beruflich: Politiker der Stadt mischen sich in seine Arbeit ein, undurchsichtige Machtkämpfe schaffen bald eine Atmosphäre des Misstrauens und bedrohen das festgefügte Weltbild des Captains. Für Daniel Blank endet eine nach außen glückliche Ehe mit der Scheidung von seiner Frau Gilda. Dann tritt die exotische, reizvolle Celia Montfort in sein Leben. Ihre bloße Gegenwart entfesselt dunkle, abseitige Triebe in Daniel, die ihn selbst erschrecken.
Inzwischen häufen sich die Morde, es gibt kein Motiv, keine Erklärung für sie – die Polizei kann nicht einmal die Tatwaffe feststellen. Hier beginnt der einsame Kampf Captain Delaneys, der sich geschworen hat, den Mörder zu überführen und die Gesellschaft gegen die Macht des Bösen zu schützen.

Der Leser wird mit Männern und Frauen diesseits und jenseits des Gesetzes konfrontiert, mit Opfern des Zufalls und der Umstände. Er wird hineingerissen in einen Strudel von Ehrgeiz, Hochmut und Stolz, Sex, Liebe und Leidenschaft.

Im Wesentlichen aber handelt diese Geschichte von Verbrechen und Bestrafung, von dem Kampf zwischen Polizisten und Mördern, zwischen Jäger und Gejagten, von dunklen Besessenheiten und vor allem von der ersten Todsünde, dem Hochmut, der beide einander immer ähnlicher werden lässt, der ihre Identitäten zu zerstören droht, ein psychologisches Duell, das an die Moral der Gesellschaft rührt. Noch kein Roman hat den gigantischen Polizeiapparat einer Metropole, das raffinierte Räderwerk kriminalistischer Ermittlungen, aber auch die menschlichen Unzulänglichkeiten und Rivalitäten der Beamten so überzeugend und detailliert dargestellt. Atemberaubende Wirklichkeit. Schuld und Sühne in New York.
(KLAPPENTEXT)

Von den 1970er – bis in die 1990er Jahre war Lawrence Sanders (1920-98) in den USA ähnlich populär wie Stephen King. Und er hatte einen ähnlich hohen Ausstoß dank – wie man heute weiß – der Beschäftigung von Ghostwritern oder Co-Autoren. Sanders war ein sehr ungleichmäßiger Schriftsteller, der neben faszinierenden und fesselnden Romanen auch banalen Trash produzierte. Die meist gleichmäßige Qualität bei hohem Ausstoß, wie man sie von King kennt, gelang ihm nicht.

1985, auf dem ersten Höhepunkt seiner Popularität, waren von seinen 20 Büchern 25 Millionen Taschenbücher und 1.5 Millionen Hardcover in 15 Sprachen verkauft worden.
In seinem Todesjahr hatten seine 23 Bücher, die in 30 Ländern veröffentlicht worden waren, allein in den USA fast 60 Millionen Exemplare verkauft.

Sanders, der zuvor im Vertrieb der Verlagsbranche und als Lektor tätig war, begann erst relativ spät zu schreiben: Er war 50 Jahre alt, als er seinen ersten Roman veröffentlichte (den aus fiktiven Dokumenten und Abhörprotokollen konzipierten THE ANDERSON TAPES). Für ihn bekam er den damals bei Debütanten üblichen Vorschuss von $ 3.000, aber sein Agent verkaufte anschließend die Filmrechte für $ 100.000 und die Taschenbuchrechte für $ 210.000.

Er verdiente in drei Jahrzehnten Millionen Dollar, hätte sich zurücklehnen können und darauf warten, wie die Tantiemen aufs Konto rollten. Stattdessen arbeitete er täglich bis zu seinem Tod:

„I don’t have hobbies. I have no desire to travel. I start writing every night a 17 and finish at 21:30 p.m. Sound boring? Writing is the most important thing in my life—above marriage. You can live a million lives. All your fantasies come true. It’s all from imagination and newspaper clips.”
Er schrieb handschriftlich auf Schreibblöcken fünf Seiten pro Sitzung, sieben Tage die Woche.

Lawrence Sanders war der erste Autor, der eine bis heute gültige Formel für den Serienkiller-Thriller fand.

In seinem Bestseller THE FIRST DEADLY SIN nahm er weitgehend voraus, was dann Thomas Harris in seinen Lecter-Romanen perfektionierte: Das Katz-und-Maus-Spiel zwischen Jäger und Gejagten, erzählt in wechselnden Perspektiven. Diese Perspektivwechsel zwischen Prota- und Antagonisten bewährten sich, da sie mehr Dynamik in den Handlungsablauf bringen.

Sanders Detektiv versucht sich naiv behavioristisch in den Mörder zu versetzen. Er verfügt noch nicht – wie Harris´ FBI-Profiler – über die Erkenntnisse der Behavioral Science Unit. Das macht die retrospektive Lektüre sowohl interessant wie auch antiquiert. Ein wenig so, als würde man die langen Landschaftsbeschreibungen bei Walter Scott lesen.

Er brachte den Polizeiroman wie auch den Serienkillerroman als erster auf die Bestsellerlisten. Zuvor waren die „police proceduralsˮ zumeist kurze Taschenbuchoriginalausgaben gewesen. Sanders schrieb Hardcover, die zwischen 400 und 600 Seiten lang sind. Genug Platz für Charakterisierungen, die man so zuvor noch nicht gelesen hatte.

THE FIRST DEADLY SIN, und die drei weiteren Captain Edward X. Delaney-Romane beschrieb ein Kritiker als „psychosexual thriller”, der den Standard für die weiteren Entwicklungen des Subgenre setzten.

Sensibel wird der Leser gleich zu Beginn des Romans in die Geschichte und Persönlichkeit des Killers Daniel Blank eingeführt. Er ist wahrlich böse, aber im Gegensatz zu späteren Serienkillern kein Sadist und an jeder Form von perverser Erotik interessiert. Seit jungen Jahren ist er fasziniert von der Entgrenzung des Bösen.

Nicht weniger sensibel wird auch sein Gegenspieler dem Leser nahegebracht: Edward X.Delaney hatte zuvor sein Debüt in dem experimentellen Erstling von Sanders, THE ANDERSON TAPES, der mit dem Edgar ausgezeichnet und mit Sean Connery verfilmt wurde. Delaney ist ein alter Hase, knallharter Ermittler, aber auch um seine kranke Frau rührend besorgt. Er respektiert Frauen und ist ein ungewöhnliches Beispiel aus einer Zeit, in der ein Ermittler meistens ein männlicher Chauvinist ist.

„I don’t like him,“ sagte Sanders. „I think he’s an old expletive . An opinionated, pontifical SOB. But the readers love him, mostly the women. I don’t understand it. The guy took on a life of his own.“

Liest man das Buch heute, hat es bei allen zeitlosen Qualitäten auch etwas von einer Zeitreise. Wie eingefroren liegt das damalige New York vor einem; es hat so gut wie nichts mit der heutigen Stadt zu tun. New York war ein gefährliches Pflaster in den frühen 1970er Jahren, mit täglich mindestens fünf Mordfällen allein in Manhattan. Brave Bürger blieben abends daheim und mieden sinistere Orte wie etwa den damaligen Times Square.
Von 1963 bis 1972 war die Zahl der Morde in New York von 550 auf 1691 gestiegen. New York war in den 1970er Jahren ein Ort der Stadtflüchtlinge, für die selbst die Lichtquellen die Farbe der Finsternis angenommen hatte. Das vermitteln Sanders Romane ziemlich eindrucksvoll. New York ist als Hintergrundrauschen in den SIN-Romanen allgegenwärtig.

Heute ist vielen Lesern der Roman viel zu lang. Der Plot hebt erst ab Seite 200 richtig ab. Zuvor nutzt er den Raum, um seine Charaktere sorgfältig zu entwickeln. Das verlangt eine Geduld, die der heutige Leser kaum noch aufbringt (die aktuellen „dicken Schinken“ unter den Thrillern zeichnen sich meistens durch nervtötende Redundanz aus, nicht durch Stil oder sorgfältige Charakterisierung).

Sanders galt als heiß (und ab 1973 war er Stammgast auf den Bestsellerlisten) und verkaufte umgehend die Filmrechte von SIN an Columbia.

Es dauerte sieben Jahre, bis die Adaption in die Kinos kam. Ursprünglich war Roman Polanski als Regisseur vorgesehen. Nachdem er aber nach Frankreich geflogen war, um der Strafverfolgung wegen seiner Vergewaltigungsanklage zu entgehen, übernahm Brian G.Hutton. Frank Sinatra spielte überzeugend den Detektiv und Bruce Willis gab als „Man entering Diner“ sein Leinwanddebut.

Das Ende des Romans wurde für den Film drastisch geändert. Faye Dunaway, die Delaneys kranke Frau spielte, wurde als schlechteste Schauspielerin des Jahres ausgezeichnet. Sicherlich kein großer Film, aber man kann ihn sich immer noch ansehen.

Sanders Roman ist zusammen mit KILL von Shane Stevens der wichtigste Vorläufer für den Serial Killer-Boom seit den späten 1980er Jahren. Inzwischen scheint das Subgenre als Teil der Sublimierungskultur totgetrampelt. Trauriger Endhöhepunkt sind Romane wie die von Ethan Cross um eine „Familie der Serienkiller“ (nein, es handelt sich dabei nicht um surrealistische Werke). Mit dem Roman THE THIRD DEADLY SIN führte Sanders 1981 den wahrscheinlich ersten weiblichen Serienkiller im Subgenre ein.
DIE ERSTE TODSÜNDE führt ebenfalls die Darstellung des Serienkillers als Pathographie ein.

“The vision of life that Lawrence Sanders communicates has been called depressing. The sweaty sex, the deadpan descriptions of sadistic killings, the downbeat endings – Delaney has an unattractive tendency to toy with his villains until they destroy themselves – leave some readers slightly queasy. Sanders says that’s just the way things are.“ (THE WASHINGTON POST)

Edward X. Delaney–Serie

1970 The Anderson Tapes (dt. 23 Uhr, York Avenue. Molden, Wien 1971)
1973 The First Deadly Sin (dt. Die erste Todsünde. Rowohlt, Reinbek 1975)
1977 The Second Deadly Sin (dt. Die zweite Todsünde. Rowohlt, Reinbek 1980)
1981 The Third Deadly Sin (dt. Die dritte Todsünde. Blanvalet, München 1987)
1985 The Fourth Deadly Sin (dt. Die vierte Todsünde. Blanvalet, München 1986)

„Ich hab den Sinnattra immer gern gehört. Besonders das Lied über die sieben Fässer Wein. Oder waren es acht? Musse mal hören, wenze Kanzler bist. Da isss Kraft drinn.“




Soeben Erschienen: JOHN MAIRs KLASSIKER DES POLIT-THRILLERS by Martin Compart

Als Appetizer hier schon mal ein paar witzige Zitate, die einen ersten Blick auf den humoristischen Aspekt von Mairs Stil werfen:

„In einer Ecke verteidigte ein junger Unteroffizier den Wert der Keuschheit gegen den derben Humor einer älteren Dirne, und er sah nicht gut dabei aus.“

„Er zog sich in ein behagliches Wachkoma zurück und lauschte den weitschweifigen und zweifellos hochinteressanten Schilderungen aus dem Leben der Dunkelhaarigen.“

„Der Vollmond hatte schon seinen halben Weg über den Himmel zurückgelegt, und die flachen Gesichter der Häuser wirkten wie Kulissen eines kubistischen Balletts.“

„Laster unterlagen einer Überproduktion, wie anderes auch.“

„Hätte er kaltblütig gehandelt, verdiente er vermutlich zweihundert Tode – oder vielleicht auch nur vierzig; bei diesem Platon wusste man es nie so genau. Sollte es der medizinischen Wissenschaft jemals gelingen, Menschen nach einem unangenehmen Tod, sagen wir durch Ersticken, wiederzubeleben, könnte man den Täter wahrhaftig hundert Tode sterben lassen und ihn nach jeder Hinrichtung wieder aufwecken, außer nach der letzten. So ließe sich eine Art Tarifkatalog erstellen, von einem Tod für Taten im Affekt bis zu fünfhundert Toden für vorsätzlichen Raub, Unzucht und Vatermord, begangen an einem hohen Offizier, der gerade im Feld dem Feind ins Auge blickte; sollte die Berufung scheitern, wäre die Strafe zu verdoppeln.“

„Das Schaufenster präsentierte ein Durcheinander aus Büchern aller Sachgebiete, das dem Hirn eines senilen Gelehrten entsprungen sein mochte. Auf dem Ehrenplatz prangte eine gewaltige Prachtausgabe des Novum Organum von Francis Bacon, auf der einen Seite flankiert von einer deutschen Abhandlung über Vulkanismus, auf der anderen von einem illustrierten Handbuch über militärische Uniformen, in dem Offiziere mit Pomade im Haar und gewachsten Schnurrbärten wie launische Pfauen vor Landschaften posierten, in welchen Tau-sende berittener Soldaten in Rot und Weiß und in perfekter Formation in einem felsenbesetzten und von Kanonenkugeln zerfurchten Gelände zum Angriff übergingen. Rings um diese drei Zentralgestirne wimmelte ein staubiges Durcheinander aus Predigten, obskuren Dryden-Ausgaben, viktorianischen Handbüchern zur Leibes­ertüchtigung, alten Bänden des Spectator, antiken Theaterzetteln, Schmähschriften gegen vergessene Laster und Lobreden auf nicht weniger vergessene geistliche Tugenden. Es handelte sich um eine literarische Müllkippe, die Perlen ebenso enthielt wie Abfall – Strandgut der Grub Street aus vier Jahrhunderten.“

Als Conspiracy-Thriller ist der Roman bis heute herausragend und Maßstäbe setzend: Kein anderer mir bekannter Thriller geht ähnlich differenziert mit seinem Personal und der Verschwörungstruktur um, indem er die Haupthandlungsträger gleichermaßen negativ – oder freundlicher ausgedrückt: skeptisch – betrachtet. Mair schafft dies durch Stilmittel wie zynische Ironie, die er manchmal fast, aber nur fast, bis zur Satire treibt. Der allwissende Erzähler nimmt häufig eine spöttische Haltung ein, die auch seinen „Protagonisten“ – immerhin ein Mörder – nicht verschont. Eher das Gegenteil: Desmond Thane wird gnadenlos bloßgelegt und seziert.
Literarisch ist er ohne Nachfolger, obwohl er den modernen Paranoia-Thriller vorweggenommen hat. Am nächsten kommt ihm vielleicht noch Trevanian.
Sein früher Tod ist höchstwahrscheinlich der schlimmste Verlust für den Thriller. Sein einziger Roman ein herausragendes Leseerlebnis.

ELSINOR VERLAG: https://www.elsinor.de/elsinor/

INTERVIEW MIT DEM VERLEGER IN DIESEM BLOG (2016): https://martincompart.wordpress.com/2016/02/24/interview-mit-thomas-pago-verleger-des-elsinor-verlages/

JOHN BUCHANS DER ÜBERMENSCH: https://martincompart.wordpress.com/2015/01/09/thriller-die-man-gelesen-haben-sollte-der-ubermensch-von-john-buchan/

REZENSIONSEXEMPLARE unter: info@elsinor.de



NOIR-THRILLER, DIE MAN GELESEN HABEN MUSS: TAMBERLAINE MUSS STERBEN VON LOUISE WELSH by Martin Compart

1593 ist London eine aufregende, unruhige Stadt. Ein verzweifelter Ort, bedroht von Krieg und Pest. Fremde sind hier nicht willkommen, aufgespießte Köpfe grinsen von der Tower Bridge. Der Stückeschreiber, Poet und Spion Christopher Marlowe hat noch drei Tage zu leben. Drei Tage, in denen er mit gefährlichen Regierungsvertretern konfrontiert wird, die ihr eigenes Süppchen kochen, mit Doppelagenten, mit Schwarzer Magie, mit Verrat und Rachsucht. Drei Tage, in denen er den mörderischen Tamburlaine sucht, einen Killer, der seinem eigenen, äußerst gewalttätigen Theaterstück entsprungen zu sein scheint. Tamburlaine muss sterben“ ist die abenteuerliche Geschichte eines Mannes, der Kirche und Staat herausfordert und entdeckt, dass es Schlimmeres gibt als die Verdammung.

TUMBURLAINE MUSS STERBEN
Aus dem Englischen von Wolfgang Müller
Verlag Antje Kunstmann, München 2005
144 Seiten

Christopher Marlowe schreibt höchst selbst in der ersten Person diese Epistel über die letzten 72 Stunden (oder vielleicht nicht?) seines fast dreißigjährigen Lebens, aus der dieser angenehm kurze Roman besteht.
Sie beginnt am 29.Mai 1593: „Ich habe vier Kerzen und eine Nacht, um diesen Bericht zu schreiben.“

Alles wird also aus Marlowes Perspektive erzählt. Ohne den Leser mit dem ansonsten so schwer erträglichen Verbal-Historizismus der üblichen historischen Romane zu quälen, gelingt Louise Welsh nicht nur ein ebenso brutales wie betörendes Zeitbild, sondern auch eine überzeugende Innendarstellung des sprachgewaltigen Gotteslästerers:

„Ich setzte die Welt des Theaters in Brand. Mein MASSACRE OF PARIS verließen Männer mit zuckender Fechthand… Und so pendelte ich zwischen zwei Reichen der Nacht und glaubte mich auf der Sonnenseite des Lebens… Ich bekenne, die Gesetze von Gott und Mensch ohne sonderliches Bedauern zu brechen.“

Er schreibt ohne Sentimentalität, „nicht als Beichte, sondern als Selbstvergewisserung und Zeugnis eines unbeugsamen Geistes“, wie Rolf-Bernhard Essig es in https://literaturkritik.de/id/8457 treffend ermittelte. Allein mit ihrer Sprache gelingt es Welsh die Spannung aufzubauen und hoch zu halten.

Er beendet seinen Bericht bei Sonnenaufgang des 30.Mai, dem Tag seines gewaltsamen Todes.

Leichtfüßig führt Louise Welsh den Leser in die grauenhafte Welt eines übermächtigen Staates, der schier willkürlich über Menschenleben verfügt, einem Land unter pandemischem Druck und Fremdenhass. “I do believe historical books should have a resonance now. Tamburlaine is very much about asylum seekers, and our attitude towards newcomers to this country, which I think is disgraceful. That was in the forefront of my mind when I was writing it.”

will-jamie-campbell-bower als Marlowe in der TV-Serie WILL

Angst und Schrecken eines historischen Raumes, der einige Ähnlichkeiten mit unserer Gegenwart aufweist, dringen in den Leser ein. Denn das Buch fesselt durch Sprache und Stil. Welsh gelingt etwas Seltenes: Sie macht Stil zum Spannungsmotor.

Als Thriller funktioniert TAMBERLAINE MUSS STERBEN wie Forsyths DAY OF THE JACKAL: Wir kennen das Schicksal der historischen Figur und den Ausgang der Geschichte. In kriminalliterarischen Kategorien gedacht, hat Welsh eine neue Variante erfunden: Der Roman ist ein „Who-is-he?“. Es sind Marlowes Volten, Gedanken, Beobachtungen, die den Leser durch die Seiten jagen.

Sie beschreibt Marlowe als bisexuellen Atheisten, der diesen Staat herausfordert (Historiker haben bisher keinen Beweis dafür gefunden, dass Marlowe – wie bei Welsh dargestellt – ein sexuelles Verhältnis mit Walsingham hatte).

Die Autorin hat sich zwar von Marlowes Sprache anregen lassen, tappt aber nicht in die Falle peinlicher Nachahmung. Sie schafft eine effektive Kunstsprache, die altertümlich anmutende Formulierungen einbezieht und modern erscheinen lassen. Ihre gewählte Sprache ist von schöner Klarheit. “I read a great deal of 16th-century literature to prepare for Tamburlaine.”

Louise Welshs Roman funktioniert auf mehreren Ebenen: als historischer Noir-Roman, Psycho- und Politthriller. Sie verbindet Fakten und Fiktion mit Conspiracy. Und als stilistisch beeindruckende Novella.

Christopher „Kit“ Marlowe ist eine der ungewöhnlichsten und faszinierendsten Figuren der Literatur; in vielerlei Hinsicht übt er eine ähnliche Attraktion aus wie Caravaggio in der Malerei.

Sein übler Ruf ist noch prachtvoll intakt.

Francis Walsingham

Im elisabethanischen England war er der Superstar des Theaters, diente in Walsinghams Secret Service und war ein berüchtigter Raufbold. Ein frühes Beispiel für einen Sex & Drugs ohne Rock´n Roll-Lifestyle. Noch vor Shakespeare machte er den Bösewicht zum Helden und revolutionierte damit das Theater. Ein  erster „der Hölle schwarzer Kundschafter“, der durch ein London (Shoreditch) streift, dass – ähnlich wie heute – von stolpernd betrunkenen oder sonstwie zugeballerten Zombies bevölkert ist.

Sein Tod gilt weiterhin als mysteriös, und eine Verschwörungstheorie behauptet, er habe ihn inszeniert, um anschließend in Italien Shakespeares Stücke zu schreiben. Eine andere, dass ihn Sir Walter Raleigh umbringen ließ, damit Marlowe nicht gegen ihn aussagen konnte.

Die Theorie, dass Marlowe seinen Tod vorgetäuscht hat ist auf dem zweiten Blick nicht so abstrus: Das Gasthaus, in dem er offiziell in Notwehr erstochen wurde, war ein Safe House von Walsinghams Geheimdienst. Der Tote in Marlowes Grab ist nicht Marlowe, sondern wahrscheinlich ein am Vortag von Marlowes Tod Gehenkter.

Jedenfalls fasziniert Marlowe bis heute – so auch Louise Welsh: „There are contradictions with Marlowe – this amazing ability to write, so passionate, so lyrical, and then the violence, which was present in the work and which we know to an extent was present in the life because we do know that he was involved in a murder charge. That contradiction is part of the attraction.”

Als ungewöhnlicher Charakter inspirierte Marlowe auch spätere Schriftsteller: Anthony Burgess schrieb über ihn in A DEAD MAN IN DEPTFORD (1993), Andreas Höfele in DER SPITZEL (1997), Dieter Kühn in GEHEIMAGENT MARLOWE (2007), Philip Lindsay in ONE DAGGER FOR TWO (1932), Wilbur G. Zeigler in IT WAS MARLOWE (1895), Herbert Lom (ja, der Schauspieler!) in ENTER A SPY (1978) und M.J.Trow schreibt seit 2011 eine ganze Serie mit Kit Marlowe als Detektiv und Geheimagent für Walsingham (bis 2019 sind zehn Romane erschienen).

„Man muss nicht Stil opfern, nur weil man einen Plot hat.“

Louise Welsh trat 2002 mit einem Paukenschlag auf die Bühne der Noir-Literatur. Mit DUNKELKAMMER (THE CUTTING ROOM) legte sie eines der beeindruckendsten Debuts der zeitgenössischen Noir-Literatur vor. In dem verstörenden Snuff-Roman schrieb sie einen schwulen, zynischen Flaneur als Amateurdetektiv, der in den perversesten Höhlen Glasgows wühlt und jede Tarnung der Stadt aufbricht.

Der Erstling wurde mit Preisen überschüttet, in zahlreiche Sprachen übersetzt und für die Bühne adaptiert. Eine Verfilmung (mit Robert Carlyle) war fast sicher.

TAMBERLAINE MUST DIE war ihr zweiter Roman, der alle überraschte, und klar machte, dass sich die Autorin keinen kommerziellen Erwartungen unterwerfen würde. Aber wie schon in DUNKELKAMMER ist auch hier die Reise wichtiger als das Ziel.

In der schottischen Literatur positioniert sie sich zwischen Schriftstellern wie Irvine Welsh und James Kelman auf der einen Seite und Denise Mina oder John Harvey auf der anderen. Also da, wo man auch den großen William McIllvanney verorten könnte.

Namensvetter Irvine Welsh sagte über Louise auf die Frage nach Verwandtschaft: „ No, she’s not, although funnily enough our mothers are very good friends! I think she is a very interesting writer. To my mind she is not really a crime writer. She is a very serious literary writer working in crime. She is a bit like Dostoyevsky in the way that she uses the existential thriller and the crime genre as a way of exploring individuals’ relationships with society.”

Ihre weiteren Romane (bis zur Pandemie-Trilogie) überzeugten durch Originalität. Die „überzeugte Glasgowerin“ („I live a very quiet life up in Glasgow. Though we do have the highest murder rate of any city in Europe.“) gibt ihrer Stadt eine neue, sehr düstere Perspektive, so dass die britische Presse von “gothic noir” spricht.

Und natürlich wurden auch Vergleiche mit Robert Louis Stevenson bemüht. Wie die meisten schottischen Autoren empfindet auch Frau Welsh eine Nähe zu Robert Louis Stevenson. Besonders natürlich zu seinen dunklen Seiten. Sie hat häufig über Stevenson geschrieben. 2016 sogar ein Libretto für die Oper THE DEVIL INSIDE (nach Stevensons Kurzgeschichte THE BOTTLE IMP), komponiert von Stuart MacRae.

DUNKELKAMMER strotzt vor Perversionen und auch TUMBERLAINE beinhaltet drastische Sex-Szenen. Warum so viel Sex in ihren Büchern?
„I do worry about it a lot. In the first book, there was a lot of sex. In Tamburlaine Marlowe has sex twice, but then it is a very short book… I think sex is really important. It reveals a lot about ourselves and is a way of opening up characters. I think books should have humour, and I think it’s a very hard book that doesn’t have a little bit of sex in it.“

Ohne Verklemmtheit nutzt die Autorin für diese Szenen gerne eine pornografische Sprache, was ihr schon zur Nominierung zum Literary Review’s infamous Bad Sex Award verholfen hat. Aber das beunruhigt sie nicht: „They’re just a load of old men having lunch. But, if I got it, I would pick it up for sure“.



NOIR-THRILLER, DIE MAN GELESEN HABEN MUSS: FRANCIS RYCK by Martin Compart

Falls es einen französischen Thriller-Autoren gibt, den man als eine Art Vorläufer von Jean-Patrick Manchette und dessen durch Guy Debords
situationstische Theorie beeinflussten Romane ansehen kann, ist es wohl Francis Ryck.

Ryck wird in Manchettes CHRONIQUES nur kurz (empfehlend) erwähnt. Das wundert mich. Ich kann mich nämlich noch gut daran erinnern, wie wir nachts bei einer Flasche Brandy über Rycks virtuose Romane schwärmten.

Bei allen Unterschieden in ihrer Ästhetik verband die beiden Autoren doch einiges (nicht zuletzt grausame Verfilmungen, die die Substanz der Vorlagen zu zerstören trachteten).
Auch Ryck schrieb in einem behavioristischen Stil, den Manchette so propagierte.

Von seinen um die 50 Romanen sind lediglich 12 auf Deutsch erschienen (immerhin gab es eine deutsche Verfilmung: DER KUSS DES TIGERS von Petra Haffter). Bis auf jeweils einen Roman bei Scherz und bei Ullstein sind alle in der legendären Rowohlt-Thriller-Reihe erschienen.

Aus editorischen Gründen vermied es Rowohlt-Herausgeber Richard K.Flesch in seiner Reihe Spionageromane zu veröffentlichen. Deshalb ließ er einige Ryck-Titel aus.

Aber zumindest eine Ausnahme gab es: EIN SENDER IM GEPÄCK, der als Handlungsmotor den Kalten Krieg nutzt, um dann aber zu einem hochkarätigen Fluchtroman zu werden, der einen Vergleich mit Households Klassiker ROGUE MALE nicht scheuen muss.

Von den eigenwilligen, „reinen“ Spionageromanen, die Ryck in den 1960ern und 1970ern schrieb, ist nur ein weiterer in Deutschland veröffentlicht worden: ÜBERLEBEN SOLL KEINER… (Scherz Schocker 118), ein Agenten-Thriller, der sich höhnisch mit europäischen Freiheitsbewegungen auseinandersetzt und im Französischen PARIS VA MOURIR heißt.

Ryck war einer der unberechenbarsten Autoren der französischen Kriminalliteratur. Er war nie auf ein Subgenre festzulegen und drückte von Noir-Roman über Psychothriller und Gangsterroman bis hin zum Spionagethriller jedem Subgenre seinen unverwechselbaren Stempel auf.

Zu seinen Fans zählte auch Guy Debord, der „Großmeister der Situationisten“.

In seinem Buch CETTE MAUVAISE TÉPUTATION…, 1993, schrieb er, dass er im Werk von Ryck „mehr Wahrheit und Talent“ findet als etwa bei Le Carré.

Insbesondere in dem Roman LE COMPAGNON INDÉSIRABLE (FLIEH NICHT MIT FREMDEN, Rowohlt 1975). Es sei „eines der wenigen Bücher, das Licht in die heutige Welt bringen kann. 25 Jahre später ist es immer noch wahr. „ (die Verfilmung unter dem Titel LE SECRET/DAS NETZ DER TAUSEND AUGEN von Robert Enrico mit Jean-Louis Trintignant, Marlène Jobert und Pillippe Noiret gehört zu den gelungeneren Adaptionen eines Ryck-Romans).

EIN SENDER IM GEPÄCK erzählt die Geschichte des Russischen Top-Spions Yako, der zum Überläufer wird und für Geld und eine neue Identität bei den Briten auspackt.
Aber dadurch wird er auch zu einem Gejagten, dessen Flucht durch Frankreich der Hauptteil des Romans ist. Eine absolute tour-de-force an psychologischer und physischer Hochspannung.

Eines Tages werden sogar die Besten erwischt.
Yako, der russische Spion, hat aufgegeben und sich nun an die Briten verkauft.
Zwar gehörte er nie zu den Top-Leuten des KGB, aber er konnte den Briten genug erzählen, um eine neue Identität und 10000 Pfund rauszuschlagen.
Nun war er frei, konnte ein neues Leben beginnen.
Aber war er wirklich frei, solange ein anderer russischer Agent lebte, um ihn zu jagen?

Natürlich nicht.

Wie lange wird er durchhalten?

Allein gegen die riesige russische Maschinerie?

Nicht lange, das weiß er.
Aber Yako weiß auch, wie das Spiel läuft. Und Yako ist ein cleverer Kerl.
Aber als dann seine Spur aufgenommen wird, läuft alles ganz anders.
Yako flüchtet nicht nur vor und durch die feindliche Umwelt mit den gnadenlosen Verfolgern, sondern auch vor der eigenen Paranoia.

Es sagt viel über Rycks Fähigkeiten aus, dass der Leser diesem nicht besonders sympathischen Charakter folgt und mit ihm um sein erbärmliches Überleben zittert. Wenn Yako, begleitet von einem Hund, der sich ihm anschließt, durch die Wildnis flieht, atmet man geradezu die Landschaft ein und fühlt die Puste der Verfolger im Genick.

Die Aktion findet in den 1960ern statt, es gibt kein Handy oder GPS. Und das braucht es auch nicht.

Der Charakter von Yako, einsam, mit einem begrenzten Leben, ist auch heute noch komplex und faszinierend. Als Gejagter fürchtet er sich vor allen anderen, als erfahrener Spion wendet er alle Tricks an, um durch die schmalsten Risse des Jägernetzes zu schlüpfen. Als Mann muss er Menschen vertrauen, die er zufällig trifft.

Indem er mit dieser Dualität und diesen Widersprüchen spielt, konstruiert Francis Ryck fast ohne Dialoge einen Roman, in dem es darum geht zu erfahren, wer wer ist, wer wen verrät, wer wem hilft. In Form und Substanz war (und ist) dieser scheinbar trockene, schmucklose Roman eine Quelle der Inspiration für viele der neueren Thriller mit seinem entschieden (noch immer) modernen Stil.

Obwohl es ̶ wie gesagt ̶ nur wenige Dialoge gibt, hält Ryck dank seiner stilistischen Brillanz das gnadenlose Tempo hoch.

Der Roman erschien 1969 und wurde mit dem Grand Prix de Littérature Policière ausgezeichnet. Es gab sogar eine amerikanische Ausgabe unter dem schönen Titel LOADED GUN (Stein and Day, 1971). Ryck gehörte zu den wenigen französischen Thriller-Autoren, die in den 1970er Jahren (unregelmäßig) ins Englische übersetzt wurden.

DRÔLE DE PISTOLET, so der Originaltitel, wurde 1973 von Claude Pinoteau filmisch hingerichtet. Nicht mal Lino Ventura konnte diesen kinematographischen Kadaver retten. Zudem machte man aus Yako auch noch einen hochkarätigen Physiker (einer der wenigen Berufe, die man Lino nicht abkauft). Außerdem wirkt Ventura, dieser Inbegriff des „gehetzten Panthers der Großstadt“, in der Wildnis völlig fehl am Platze. Er ist eine Ikone des urbanen Lebens und wäre – im Gegensatz zu seinem Vorbild Jean Gabin – nicht mal als Landwirt glaubhaft.

Ryck selbst bezeichnete diese Verfilmung als eine elende Null-Nummer. Aus dem Filmtitel LE SILENCIEUX machte der deutsche Verleiher, um noch einen drauf zu setzen, den ebenso sinnlosen wie dämlichen Titel ICH – DIE NUMMER EINS.

Rycks Stil ist sehr filmisch, knapp an Adjektiven. Jeder Satz sitzt. Alles klingt wahrhaftig, die Figuren leben und bewegen sich in einer nachfühlbaren Welt – selbst wenn die Plots manchmal am Rande zum Surrealen stehen.
Es ist also verständlich, dass seine Romane das Interesse von Filmemachern erregten. Diese Adaptionen waren und sind von höchst unterschiedlicher Qualität. Häufig veränderten sie das Werk so stark, dass es fast ins Gegenteil kippte.

Die Verfilmung von DRÓLE DE PISTOLET ist dafür ein Beispiel. Einige der besseren Verfilmungen waren in den späten 1980ern und frühen 1990er Jahren Fernsehfilme (u.a. in der grandiosen Anthologie-Reihe SÉRIE NOIRE, 1984-89, von Pierre Grimblat für TF1 und Antenne 2; bei uns wurde sie nur einmal von RTL ausgestrahlt).

Wer war dieser Francis Ryck?

Francis Ryck wurde als Yves Delville am 4. März 1920 in Paris als Sohn einer Russin und eines Franzosen geboren und verbrachte seine ersten Jahre in einer bürgerlichen, aber unkonventionellen Familie.

„Als ich ein Kind war, ließ mich meine Mutter Schopenhauer lesen, danach Celine… Meine Mutter war Pianistin, sie wollte eigentlich Konzertpianistin werden. Ich war ein ungewolltes Kind. Sie haben wegen mir geheiratet. Mein Vater war auch noch spielsüchtig.“

Als junger Mann träumt er davon, am spanischen Bürgerkrieg teilzunehmen. Aber der ist bereits beendet, bevor er seine existentialistische Polarisierung als Gesellschaftskonzept beendet hatte.

Nach kurzen Studien in Belgien und Paris – ohne Abschluss – bestritt er seinen Lebensunterhalt mit Gelegenheitsarbeiten als Erdarbeiter, Steinbrucharbeiter, Landarbeiter, Schau-Turner, Handelsvertreter. Zusammen mit einem russischen Immigranten lebte er in einem selbstgebauten Ziegelverhau im Pariser Hafen.
Der erregte gesellschaftliche Zustand spiegelte sich in seiner Rastlosigkeit. Die Welt war im Umbruch. Alles schien möglich. Bevor die Nazis für das Kapital einen Frieden metzelten, schien sogar der Sozialismus in Frankreich erreichbar, auch wenn Spanien beim letzten Krieg zwischen Gut und Böse bewiesen hatte, dass das Böse als Sieger vom Platz gegangen war. Der Faschismus hatte den Totengräber zum Arzt erklärt.

1939 trat er in die Marine ein.

Er war Matrose auf dem Zerstörer Maillé-Breze, der am 30. April 1940 vor Greenock nach der zufälligen Explosion eines Torpedos sank. Als Kriegsgefangener simulierte er Wahnsinn, um den Lagern zu entkommen.
Zurück in Paris, 1943, heiratete er und zeugte zwei Töchter, Michèle und Dominique

Um sein Leben als Vagabund und Weltenbummler zu finanzieren, verrichtete er Jobs als Holzfäller, Matrose, Bauarbeiter, Plattenleger, Filmstatist oder Vertreter.

Schließlich ging er nach Lyon. „Ich lebte mit einer Tochter in Lyon. Etwa fünf Jahre als extremer Säufer. Ich fotografierte Babys. Es war eine schöne Zeit. Ich arbeitete zwei Stunden pro Tag, ich verdiente genug, um Hotelzimmer, Mahlzeiten, Kino und Suff zu bezahlen. Und ich war glücklich. Ich lebte einfach von Tag zu Tag!“

Er begann auch ernsthaft zu schreiben: „Damals schrieb ich meinen ersten Roman, AU PIED DU MUR, der 1957 bei Albin Michel veröffentlicht wurde. Zuvor hatte ich zwei oder drei Romane geschrieben, die kein Verlag haben wollte. An ihnen habe ich mich geübt.
Und dann schickte ich das Manuskript an Albin, ohne viel Hoffnung, dass es funktioniert. Endlich hat es funktioniert.“

Er übernahm als Pseudonym den Namen seiner Großmutter und veröffentlichte bei Albin Michel vier weitere Romane als Yves Dierick: LES BARREAUX DE BOIS, 1959, LA PANIQUE, 1962, PROMENADE EN MARGE, 1964 (dafür wurde er mit dem Grand Prix de la Société des gens de lettres ausgezeichnet) und LES IMPORTUNES, 1965.

Diese Bücher sind keine Thriller, sondern psychologische Romane voller Intrigen. Wesentlich ist sein kritischer, saurer Blick auf das Nachkriegsfrankreich, auf seine kleinbürgerlichen Illusionen, dem Geldkult und die moralische Verschmutzung durch wirtschaftliches Elend.

Nach einem Autounfall, der seine Bewegungsfreiheit einige Zeit einschränkte, begann er in der Rekonvaleszenz einen Kriminalroman zu schreiben.
„Ich sagte mir, warum nicht mal einen Thriller ausprobieren. Und dann realisierte ich, dass das Krimi- Ding mir mehr Geld brachte als literarische Bücher.“

Bei Presses De La Cité veröffentlichte er 1963 erstmals als „Francis Ryck“ den Roman LES HEURES OUVRABLES, der im Jahr drauf von Jacques Poitrenaud mit Louis de Funès als Gaunerkomödie verfilmt wurde (bei uns lief die Klamotte unter dem Titel BEI OSCAR IST ´NE SCHRAUBE LOCKER). Ja, das brachte sicherlich mehr Geld.

Er schrieb noch einen weiteren „Krimi“ und ging dann wieder zu Plon zurück um zwei weitere „psychologisch-literarische Romane“ zu veröffentlichen.

Ab 1966 veröffentlichte er in der „Série Noire“ bei Gallimard bis 1978 dann die 18 Thriller, die ihn zum einflussreichen Klassiker des französischen Noir-Romans machten.
Es wurde häufig darüber gerätselt, weshalb er von Gallimard wegging: „Ganz einfach. Ein anderer Verlag bot mir mehr Geld.“

Ryck sah sich als „Reisender auf den Straßen der Welt“ zwischen Spanien und
Indien, Tibet und Ceylon. Eine Zeitlang lebte er gar in einem Ashram in der
Provence. Sein starkes Interesse an asiatischen Kulturen und Religionen brachte ihn zeitweilig den Hippies nahe.

In den 1970er und 80er Jahren führte er zwischen Paris und der Provence ein Leben voller Exzesse, wenn er nicht auf Reisen ging.

Am Rande der literarischen Welt, deren Regeln er verachtete, lebte er häufig als Rucksacktourist oder bescheiden in Paris. Leute, die ihn kannten, nannten ihn „schwierig“.

Nach seiner „Gallimard-Phase“ arbeitete er verstärkt auch für die Filmindustrie. Er schrieb Originalskripte und polierte Dialoge.

In den 1990ern fand er noch Zeit, um neben seinen Romanen für sechs erfolgreiche Psychothriller mit Marina Edo zu kollaborieren. „Ich mochte das Mädchen. Es war immer lustig mit ihr.“

Er starb im Alter von 87 Jahren am 19.August 2007 allein in Paris.

„Er hat den Charakter eines Schweins, bringt dich mit Beleidigungen zur Weißglut und bringt dir dann ein Manuskript, das eine Emotion ausstrahlt, die dir den Atem raubt“,
sagte Patrick Raynal, ebenfalls Autor und von 1991 bis 2004 Herausgeber der „Serie Noire“ über ihn.

Seine Romane markieren einen Bruch mit der in den 1950er Jahren in Frankreich vorherrschenden Kriminalliteratur zwischen Psychothriller, Gangsterroman und Nachahmungen amerikanischer Muster.

In Rycks frühen Romanen spürt man bereits den „Wind des Wechsels“, der politisch dann 1968 über Europa hereinbrach. Ryck hatte ein Gespür für die Veränderungen, die sich im Bewusstsein der jungen Generation vollzog.

Seine Welt der Verbrecher, Außenseiter und der Spione griff Elemente des Neo-Polar vorweg. Er hat sich nicht atemlos an Trends angebiedert, sondern sie mittel- und langfristig gesetzt.

Er ließ Geheimagenten, ausgebrochene Gangster, Außenseiter, Jugendliche gegen die Stereotypen der bürgerlichen Kultur agieren.
Er schrieb über all die marginalisierten Menschen, denen er während seiner Wanderjahre begegnete: diese Gauner, Banditen, Räuber betrachtete er als Freunde, denn er hasste die Welt der engen Kleinbürger.

Und er brachte neues, scheinbar unvereinbares, in den Noir-Roman: in seinem ersten Gallimard-Thriller, OPERATION MILIBAR (1966), kommuniziert eine Frau telepathisch mit ihrem Mann.

Ryck scheute sich nie Tabus zu brechen, indem er gelegentlich mit parapsychischen Themen experimentierte oder die Welt der Geheimdienste auf andere, realistischere Weise behandelte als die den Spionageroman dominierenden Paul Kenny oder Jean Bruce.

Francis Ryck ließ sich auf kein Genre oder Sub-Genre festlegen und war immer für eine Überraschung gut. Er schrieb Spionageromane, Psychothriller, Gangsterromane, Abenteuerromane, Polit-Thriller und natürlich alle als Noir-Literatur, Romane aus dem düsteren Ryck-Kosmos.

Seine Kriminalromane atmen die Kritik an einer Gesellschaft, die an Boden verliert, ähnlich den Filmen der Nouvelle Vague.
„Meine Helden fliehen vor sozialem Erfolg wie vor der Pest. Sie sind die letzten freien Männer.“

Diese Helden sind Ausgegrenzte und Ausgeschlossene. Was nicht heißt, dass sie nicht höchst professionell in ihrem düsteren Gewerbe sind.

Ihr Lieblingsgebiet ist die Stadt, die Menschen entmenschlicht und zerschmettert, und noch mehr die düsteren Vororte, in denen sich die Wohlhabenden konzentrieren. So schön das offene Land ist, aber die Perversionen des urbanen Lebens verfolgen dich auch dort. Verbrechen sind nicht Ursachen, sondern Konsequenzen von Entwicklungen.

Der französische Kritiker Alexander Lous brachte das 2000 so zum Ausdruck:

„Immer wenn ein neues Buch von ihm erscheint (er hat mehr als vierzig seit 1957 veröffentlicht, von denen einige in den letzten Jahren in Zusammenarbeit mit Marina Edo entstanden sind), wissen wir nie genau, wohin er seine Leser führen wird: Rätsel-Roman, Noir-Roman, Abenteuer-Roman, Liebesroman, Psychothriller, Spionage-Roman… Und man weiß nie, in welchem Modus er seine fesselnden Geschichten erzählen wird, ob ernst oder parodistisch, romantisch oder desillusioniert, ikonoklastisch oder lustig, intim oder kochend vor Wut, über harsche Missbräuche und Exzesse der Politik, Industrie und Wissenschaft Auf der anderen Seite wissen wir immer, dass wir als Leser fast nie enttäuscht werden.“

Oder:

„Rycks harte und schnörkellose, ohne jegliche Sentimentalität erzählte Romane kreisen meist um verzweifelte, sich am äußersten Rand der Gesellschaft bewegende Figuren, die im Leben nicht mehr zurechtkommen und deshalb gewalttätig werden – mit fatalen Folgen, auch für sie selbst. Die Mehrzahl der Bücher spielt in „seiner“ Stadt Paris, deren Atmosphäre eindrucksvoll gezeichnet ist.“ (https://krimiautorena-z.blog/2018/11/07/ryck-francis-2/)

Jean-Patrick Manchette, der als Vater des Neo-Polar oder neuen französischen Kriminalromans gilt, meinte, Ryck sei ein „unbestreitbarer Präzedenzfall für ihn und alle Autoren, die beschlossen hatten, ihren Geschichten eine politische Dimension zu geben, die dem Anarchismus nahe kommt.“

Bibliografie:
(nach https://krimiautorena-z.blog/2018/11/07/ryck-francis-2/ )

Les heures ouvrables (1963)
Nature morte aux châtaignes (1963
L’histoire d’une psychose (1964)
L’apprentissage (1965)
Opération Millibar (1966)
Ashram drame (auch unter dem Titel ‚Satan S.A., 1966)
Feu vert pour poisson rouge (1967)

La cimetière des durs – ‚Alle Fäden in ihrer Hand‘ (1968)

Incognito pour ailleurs (1968)
La peau de Torpedo (1968)

Drôle de pistolet – ‚Ein Sender im Gepäck‘ (1968)

Paris va mourir – ‚Überleben soll keiner‘ (1969)

L’incroyant (1970)

Les chasseurs de sable – ‚Wie Sand zwischen den Fingern‘ (1971)

Le compagnon indésirable – ‚Flieh nicht mit Fremden‘ (1972)

Voulez-vous mourir avec moi? – ‚Wollen Sie mit mir sterben?‘ (1973)

Le prix des choses – ‚Der Preis der Dinge‘ (1974)

Le testament d’Amérique – ‚Die Testamentsvollstrecker‘ (1974)

Ettraction – ‚Sterben, das ist nicht so wichtig‘ (1975)

Le fils de l’alligator (1977)
Nos intentions sont pacifiques (1977)

Prière de se pencher au dehors – ‚Ehrlich währt am kürzesten‘ (1978)

Nous n’irons pas à Valparaiso (1980)

Le Piège – ‚Eine Falle für drei Personen‘ (1981)

Le nuage et la foudre (1982)
Le conseil de famille (1983)
Il fera beau à Deauville (1984)
Un cheval mort dans une baignoire (1986)
Autobiographie d’un tueur professionel (1987)
Requiem pour un navire (1989)
L’honeur des rats (1995)
Fissure (1998)
Le point de jonction (2000)
Le chemin des enfants morts (2001)
La discipline du diable (2004)
La casse (2007)
L’enfant du lac (2007).

Gemeinsam mit Marina Edo:

Les genoux cagneux (1990)
Les relations dangereuses (1991)
L’Eté de Mathieu (1992)
La petite fille dans la forêt (1993)
La toile d’araignée dans le rétroviseur (1995)

L’autre versant de la nuit – ‚Rendezvous fatal‘ (1996)

Mauvais sort (1999).