Filed under: Crime Fiction, George V.Higgins, Krimis,die man gelesen haben sollte, Noir, Noir-Theorie, Porträt | Schlagwörter: Elmore Leonard, Film Noir, Gangster, George V.Higgins, Noir
Eddie Coyle ist eine echte Ratte, ein kleiner Gangster, der ständig zwischen den Fronten hin- und herwieselt, um seine schmutzigen Geschäfte durchzuziehen. Mal dient er als Polizeispitzel, mal dreht er mit den Freunden ein Ding. Ganz spezielle Freunde sind das: Bankräuber, Waffenhändler und kleine Ganoven wie Eddie selbst. Bei seinem Doppelspiel muss er schwer aufpassen. Und dann spitzt sich die Situation so zu, dass man von ihm verlangt, einen seiner Freunde ans Messer zu liefern. Eddies Wahl besteht nur darin, zu entscheiden, wen er verrät.
Eddie lebt in der Bostoner Combatzone, deren Kriegsberichterstatter George V.Higgins war. Mit seinem Debüt, DIE FREUNDE VON EDDIE COYLE,verpasste er dem Crime-Genre 1971 eine neue Dosis literarischen Realismus. Selbst Norman Mailer war fassungslos über die Qualität dieses Erstlings, der 1985 von einer Buchhändlervereinigung zu einem der 25 wichtigsten Romane des 20.Jahrhunderts gewählt wurde. Ross Macdonald nannte ihn das „kraftvollste und beängstigendste Buch, das ich dieses Jahr gelesen habe.“ Über Nacht wurde Higgins zum neuen Stern am Noir-Himmel. „Über Nacht? War eine verdammt lange Nacht, die 17 Jahre gedauert hat und in der ich bereits 14 Romane geschrieben hatte, die alle keinen Verleger fanden. Darüber bin ich heute froh.“ Higgins damaliger Agent sagte FRIENDS OF EDDIE COYLE wäre niemals verkäuflich und strich ihn von seiner Klientenliste. Nachdem der Verlag Alfred Knopf (der schon Hammett, Chandler und andere Big Shots herausgebracht hat) den Roman für 2000 Dollar Vorschuss gekauft hatte, verbrannte Higgins seine alten Romanmanuskripte.
Zu schreiben begonnen hatte das verwöhnte Einzelkind eines Lehrerehepaars schon früh. Den ersten Roman schrieb George Vincent Higgins mit 15 Jahren. Geboren und aufgewachsen im proletarischen Brockton, Massachusetts, verinnerlichte er die irisch-katholischen Arbeiterkultur, der er materiell und snobistisch entkommen konnte, die aber seine Literatur prägte. Er studierte u.a. an der renommierten Universität Stanford. Vorübergehende Untauglichkeit bewahrte ihn vor Vietnam. Bevor er Anwalt wurde, arbeitete Higgins als Kriminalreporter in Providence und Springfield und lernte die Unterwelt der Ostküste kennen. Eines Tages war er als Gerichtsreporter bei einem Mafia-Prozess: „Ich dachte, diese Anwälte haben mehr Spaß als ich. Also studierte ich Jura und wurde 1967 Ankläger im Büro der Staatsanwaltschaft.“ Später wurde er stellvertretender Staatsanwalt, dann niedergelassener Anwalt, der so illustre Charaktere wie den Watergate-Einbrecher G.Gordon Liddy und den Black Panther-Führer Eldridge Cleaver verteidigte. 1983 beendete er seine Anwaltskarriere um nur noch zu schreiben und am Boston College zu unterrichten. Aus diesen Schreibkursen entstand 1990 seine originelle Schreibfibel ON WRITING, laut Nick Tosches, der ein Fan von ihm ist, eines der schlechtesten Bücher über das Handwerk des Schreibens.
Der moderne Gangsterroman verdankt ihm mehr als jedem anderen Autoren. Elmore Leonard bezeichnete ihn als den Meister, von dem er alles lernte (einer der Hauptcharaktere in Higgins Roman heißt übrigens Jackie Brown – ein Name, den Leonard später aufgriff, um seine Reverenz zu erweisen). Higgins selbst nannte den heute vergessenen John O´Hara als seinen wichtigsten Einfluss.
Higgins hält sich fast nie an die Konventionen des Gangsterromans, die am Ende das große Shootout à la Richard Stark oder W.R.Burnett fordern. Es geht auch nie um den einen, großen Coup, sondern um das tägliche Überleben auf der Strasse. Er entkleidet den Unterweltsroman aller glamourösen Aspekte. Er gab den Gangstern ihre eigene Sprache, die er aus Protokollen und Gesprächen destillierte um daraus Kunst zu machen.
Seine Figuren leben in einer Hobbschen Welt, in der jeder jedes Wolf ist und nur die eigenen Interessen zählen. In diesem Kosmos geht es nur um Ausbeutung und Zweckgemeinschaften. Wie schon Meyer Lansky wusste: Kriminalität ist die reinste Form der Marktwirtschaft. Bei Higgins durchzieht Korruption jede gesellschaftliche Schicht, und Taktiken und Strategien der Gangster sind dieselben wie die der Politiker oder Polizisten. Higgins zeigt eine paranoide Gesellschaft, die von Kriminellen aller Art belagert und geplündert wird, wie der Kapitalismus mit dem Mittel der Korruption alle sozialen Felder kolonialisiert. Seine Politiker, Anwälte, Cops und Gangster überleben (oder auch nicht) als Choreographen des zivilisatorischen Verfalls.
Das Personal besteht aus kleinen und größeren Gaunern, Killern, Bürokraten, schmutzige Bullen, Anwälten und Politikern, abgenutzt vom Leben, aber voller Gier. Der Heroismus der unteren Chargen besteht darin, über den Tag zu kommen. Auch die Cops sind Gefangene des Systems und nicht ihre Wärter. Es ist eine männliche Welt, in der Frauen bestenfalls emotionale Konsumgüter sind. Sie spielen kaum eine Rolle in dieser maskulinen Welt, die ihnen nur die üblichen Rollen zugesteht. Trotzdem gelingen Higgins mmer wieder berührende Momente, die das traditionelle Frauenbild absurd erscheinen lassen.
Er moralisiert nicht, indem er seine Verbrecher be- oder gar aburteilt, und er verteidigt sie nicht, indem er sie erklärt. Er lässt sie sich einfach um ihre miesen, kleinen Leben quatschen.
Die große Stärke seiner besten Büchern ist leider auch die größte Schwäche seiner weniger gelungenen: Der Dialog. Niemand schrieb Dialoge wie George V.Higgins, der 1999 nur 59jährig starb. Er konnte eine ganze Geschichte fast völlig in Dialogen erzählen, die die Story vorantrieben und gleichzeitig die Personen charakterisierten. Sein behavioristischer Stil leitet die Realität davon ab, was die Leute reden, nicht aus Beschreibung ihres Innenlebens. Der Leser muss die Glaubwürdigkeit ihrer Aussagen selber einschätzen. Die Charakterisierung seiner Figuren entsprießt aus dem, was sie sagen und wie sie es sagen. Gerade das hat sich Elmore Leonard von Higgins abgeschaut und oft effektiver genutzt. „Higgins zeigte mir, wie man in ein Szene geht ohne Zeit zu verlieren, ohne lange zu erklären, wer die Charaktere sind und wie sie aussehen.“
Die meisten seiner 27 Romane spielen in Boston, einige in Washington. Die Darstellung der Stadt unterscheidet sich gewaltig von dem zeitgleich, aber viel erfolgreicher schreibenden Bostoner Kollegen Robert B.Parker. Einen Heilsbringer wie Parkers Privatdetektiv Spenser sucht man vergebens in den Mean Streets von Higgins. Einige Kritiker klebten Higgins das Etikett „der Balzac Bostons“ an.
In seinen Polit-Thrillern, wie A CHOICE OF ENEMIES, IMPOSTERS oder VICTORIES verkündet Higgind immer wieder seine psychologischen Systemanalysen: Politiker schaffen es nicht an die Spitze weil sie anderen Gefallen erweisen. Sie schaffen es, indem sie andere dazu bringen, ihnen Gefallen zu gewähren. Sie sind genauso manipulativ wie die Gangster seiner Unterweltgeschichten.
Von dem Erfolg des Erstlings hat sich der Autor nie erholen können. Er konnte sich nie aus dem langen Schatten von EDDIE COYLE lösen: „Ich habe die Schnauze voll von Rezensionen, die lauten: Natürlich gibt es bei Higgins keinen der üblichen Plots, aber die Dialoge sind wunderbar.“ Higgins war stets unzufrieden mit seiner Rezeption und dem wirtschaftlichen Erfolg in den USA (obwohl er durchschnittlich von jedem neuen Buch etwa 30 000 Hardcover verkaufte). In zu vielen Romanen verlor er die Kontrolle über die Geschichten und der Erzähler war nur noch ein Moderator mäandernder Mono- und Dialoge, die den Leser ermüden. Seine größte Anerkennung hatte er in Großbritannien; nur dort erschien auch sein einziger Kurzgeschichtenband. In Deutschland versuchten bisher vergeblich die Verlage Hoffmann & Campe und Goldmann Higgins unter deutsche Leser zu bringen. Sein neben EDDIE COYLE bester Roman, der Polit-Thriller A CHOICE OF ENEMYS, wurde bisher noch nicht ins Deutsche übersetzt. Es ist zu hoffen, dass der neue deutsche Verlag einen langen Atem und mehr Erfolg hat. Für die Masse der deutschen Krimileser (vorwiegend anspruchslose Frauen), die debilen Psychoquark, sozialdemokratisch depressive Skandinavier oder gestammelte Provinzkrimis bevorzugen, taugt Higgins natürlich nicht als Lektüre. Aber vielleicht gibt es ja noch ein paar tausend intelligente und literarisch verwöhnte Leser, die das Risiko des Verlages rechtfertigen.
Aus verständlichen Gründen begann der Verlag Antje Kunstmmann die neue Higgins-Edition mit dem dritten Roman, ICH TÖTE LIEBER SANFT (COGAN´S TRADE, 1974), 2012 mit Brad Pitt verfilmt. Die grandiose Verfilmung von THE FRIENDS OF EDDIE COYLE von Peter Yates mit Robert Mitchum, ein seltener Glücksfall für einen Autor, ist bereits ein Klassiker. Higgins hat über Elmore Leonard nicht nur zeitgenössische Noir-Autoren beeinflusst, sondern auch Filmemacher wie Quentin Tarantino. Und eine TV-Serie wie DIE SOPRANOS, die dialoglastig die Banalität der systemimmanenten Organisierten Kriminalität thematisierte, wäre ohne Higgins nicht denkbar.
Higgins gehört zu den Autoren wie Robert Stone, James Crumley, Newton Thornburg oder Edward Bunker, die für den amerikanischen Noir-Roman in den 1970er Jahren die Traumata des Vietnamkrieges aufarbeiteten und neue Wege für das Genre aufzeigten. Wie die Pulp-Autoren während der Depression präsentierten diese Autoren schonungslos eine durch und durch korrupte Welt. Higgins & Co beschrieben den Kater nach der Aufbruchsstimmung der 1960er. Der Sixties-Traum einer „New Society“ war ausgeträumt. Und bekanntlich kam es noch schlimmer: Seit Reagen wurden systematisch alle rudimentären demokratischen Errungenschaften der Roosevelt-Ära für den Vorteil einer blutrünstigen Oligarchie auf dem Altar des absoluten Profitstrebens geopfert. So gesehen ist Noir-Kultur die erste Form, die nicht national definiert wird, sondern Länder und Sprachen überschreitend durch das übergreifende wirtschaftliche System. Noir-Literatur ist die sozio-politische Beschreibung der Entfremdung des Individuums von den Strukturen des Kapitalismus.
George V.Higgins: DIE FREUNDE VON EDDIE COYLE und ICH TÖTE LIEBER SANFT. Beide übersetzt von Dirk van Gunsteren im Verlag Antje Kunstmann, je € 14,95.
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Filed under: Bücher, Crime Fiction, Geoffrey Household, George V.Higgins, Golden Age, Ian Fleming, James Bond, Jim Thompson, Krimis, Krimis,die man gelesen haben sollte, Noir, Rezensionen, tim willocks | Schlagwörter: 007, Agatha Christie, Crime Fiction, Eric Ambler, Geoffrey Household, George V.Higgins, H.C.Bailey, Ian Fleming, Irvine Welsh, James Bond, James Hadley Chase, Jim Thompson, Krimis, Len Deighton, Nicholas Blake, Noir, Rex Stout, Thriller, Tim Willocks
In Zeiten von Corana hat man Zeit genug, um mal wieder einige Genre-Klassiker zu lesen (oder sie gar zu entdecken). Deshalb hier nochmals meine kleine Auswahl von Büchern, die in der Kriminalliteratur tiefe Spuren hinterlassen haben und außerdem höchst unterhaltsam sind.
Klassiker, die jeder Krimi-Fan in seiner Basis-Bibliothek haben sollte. Zwar sind einige Titel nicht mehr lieferbar (Schande über die Verlage), aber im Internet oder Antiquariaten sind sie leicht auffindbar, da sie meist in verschiedenen Ausgaben und hohen Auflagen veröffentlicht wurden. Es geht quer durch alle Subgenres der Kriminalliteratur.
DIE MASKE DES DIMITRIOS von Eric Ambler
Dimitrios hat es endlich erwischt!
Keiner weint dem Gangster und Terroristen eine Träne nach, als man seine Leiche aus dem Bosporos zieht. Lang genug grub sich seine blutige Spur quer durch den Balkan. Der englische Krimiautor Latimer ist von Dimitrios‘ Lebensgeschichte so fasziniert, dass er sie rekonstruieren will und damit eine Reise durch die politische Hölle Osteuropas in den 1920er- und 30er Jahre beginnt.
Ambler verschachtelt komplexe Handlungen, zeitgeschichtliche Dokumente und Rückblenden zu einer atemberaubenden Menschenjagd. Seine Prosa ist ungemein modern in ihrer Effektivität. Aber dem Leser bleibt keine Zeit, die Qualität des Stils zu bemerken, denn die Story jagt mit hohem Tempo auf ihr dramatisches Finale zu.
„Ich hatte Schwierigkeiten mit Dimitrios. Ich wußte, dass es etwas ganz Neues sein würde und dass ich nur das Beste abliefern dürfte“, schrieb der 1998 verstorbene Autor in seinen Memoiren.
Großkaliber wie John LeCarré, Gavin Lyall, Len Deighton oder Ross Thomas wären ohne die Innovationen von Ambler nicht vorstellbar. Er verband den Spionageroman mit politischer Aufklärung und machte zeitgleich mit Graham Greene ein eigenes Genre daraus. Und da sein politisches Bewusstsein immer auf Weitwinkel eingestellt war, erklärte er in seinen 19 Romanen dem Leser die Welt hinter den Schlagzeilen. Immer nach der Devise: Es kommt nicht darauf an, wer die Pistole abfeuert, sondern darauf an, wer die Schützen bezahlt.
Amblers Romane sind auch Handbücher für Putsche, Revolutionen oder Kriege. Die perfekte Synthese aus Roman und Sachbuch. Darüber hinaus wüssten wir ohne seine Osteuropa-Thriller noch weniger über den Balkan – was ihn gerade heute wieder aktuell macht. Mehr als einmal stockt man bei der Lektüre des 1939 erschienen Romans und erkennt Parallelen zur Gegenwart.
Eric Ambler: Die Maske des Dimitrios. Erstmals ungekürzte Neuübersetzung. Diogenes Verlag.
DIE HOTTENTOTTEN-VENUS von H.C.Bailey
Wenn man bei uns an die großen Detektive des Golden Age denkt, fällt den wenigsten der Name Reggie Fortune ein. Obwohl einer der wahren Giganten des Genres, wurde er bei uns lediglich durch eine inzwischen viel gesuchte Publikation in der frühen
Rowohlt-Thrillerreihe veröffentlicht
Bailey (1878-1961) war einer der Großmeister der klassischen Detektivgeschichte um den Great Detective und sein Held Reggie Fortune steht ganz in der Tradition der exzentrischen Amateurdetektive. Er ist dick, gemüt-humorvoll und faul.
Er liebt große Autos, gutes Essen, gute Getränke und Varieteegirls. Er kann ungeheuer sentimental sein, aber auch wütend und bösartig.
Baily hetzte das Dickerchen durch 85 Kurzgeschichten und neun Romane. Dabei erschrieb er der Form eine menschliche, ethische und moralische Dimension, die einigen Kritikern sogar als Chesterton überlegen gilt.
Daneben verdient Bailey auch für einige der ausgeklügelsten und spannendsten Geschichten gepriesen zu werden, die zusammen mit der Dreidimensionalität der Charaktere und dem feinen Gespür für Atmosphäre zum Allerbesten der Gattung zählen.
Anders als seine zeitgenössischen Kollegen, verachtet Fortune, bzw. Bailey, den Snobismus der Oberschicht, die Klassenstrukturen der britischen Gesellschaft zwischen den Weltkriegen. Durch seine starke Empathie wird er oft emotional in die Fälle verwickelt – für die großen Detektive des Golden Age meist etwas unvorstellbares. Und der kleine Fettsack Reggie hat natürlich auch seine eigenen Vorstellungen von Gerechtigkeit, die sich nicht unbedingt mit dem Strafgesetzbuch decken müssen.
Um all seinen literarischen Ansprüchen zu genügen, schrieb Bailey relativ lange Kurzgeschichten, da er weder auf sorgfältige Charakterisierung, noch auf Atmosphäre verzichten wollte.
Es war dem Diogenes Verlag mal wieder zu danken, dass er diesen Klassiker ausgegraben hat. Aber leider hat das auch Wermutstropfen: dies ist der einzige Band mit Fortune-Geschichten und Bailey ist noch weit von seiner Bestform entfernt (allerdings zwingt sich beim Lesen auch manchmal der Verdacht auf, dass man die Stories etwas flüssiger hätte übersetzen können).
Dieser Klassiker macht deutlich, was wir heute beim Lesen zeitgenössischer Kriminalliteratur zu oft vergessen: welch ungeheures Vergnügen die wirklichen Meister des Golden Age bereiten können! Leider blieb es bei dem einen Band im Diogenes Verlag. H.C.Bailey wartet nach wie vor auf eine gepflegte deutsche Veröffentlichung. Die besseren Geschichten findet man im Rowohlt-Band, der Bailey auf der Höhe seines Könnens zeigt.
H.C.Bailey: Die Hottentotte-Venus (CallMr.Fortune,1920).Diogenes Verlag.
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MEIN VERBRECHEN von Nicholas Blake
„Ich will einen Menschen töten. Ich weiß nicht, wie er heißt, ich weiß nicht, wo er wohnt, ich habe keine Ahnung, wie er aussieht. Aber ich werde ihn finden und ihn töten…“
So beginnt der 1938 erschienen Kriminalroman THE BEAST MUST DIE von Nicholas Blake, der neue Akzente setzte, von Claude Chabrol verfilmt wurde und noch heute gierig verschlungen werden kann.
Blake wich mit diesem Buch von seinen sonstigen Detektivromanen über Nigel Strangeways, die voller literarischer Anspielungen sind, ab. Indem er die Perspektive eines rächenden Vaters, der den Mörder seines Sohnes sucht um ihn zu töten, wählte, schrieb er einen psychologischen Thriller und keinen klassischen Detektivroman.
Auf die Idee kam er, als sein kleiner Sohn fast überfahren wurde.
Der erste Teil wird von Felix Lane erzählt, einen Krimiautor, dessen Sohn tödlich überfahren wurde. Brillant ist die Detektivarbeit von Lane, mit der er die Identität des Fahrerflüchtigen ermittelt.
Cecil Day Lewis(1904-72), der Vater des Schauspielers Daniel Day Lewis, war Kommunist und ein bewunderter Lyriker, als er 1935 unter dem Pseudonym Nicholas Blake Kriminalromane zu schreiben begann.
Der Grund?
Er brauchte Geld um sein Dach reparieren zu lassen. Es folgten 15 höchst originelle Kriminalromane, die oft die Formel des klassischen Detektivromans durchbrachen und originelle Milieus und Charaktere in den Mittelpunkt stellten.
Nicholas Blake: Mein Verbrechen. Diogenes Verlag, 1995.
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KEINE ORCHIDEEN FÜR MISS BLANDISH von James Hadley Chase
Das Geburtsjahr des britischen Noir-Romans war 1939. In diesem Jahr debütierte Rene Raymond, alias James Hadley Chase (1906-85), mit seinem ultrabrutalen, in einem mythischen Amerika angesiedelten, Noir-Thriller NO ORCHIDS FOR MISS BLANDISH.
Die Entführung einer Millionenerbin durch eine perverse Gangsterbande, die an Ma Barkers Gang erinnert, wurde für damalige Verhältnisse geradezu schockierend brutal erzählt.
Angeblich war der Roman von William Faulkners SANCTUARY (1931) inspiriert. Die Realität ist eine andere: Chase arbeitete Mitte der 30er Jahre als Buchhandelsvertreter und erlebte den sensationellen Erfolg von James Malahan Cains Roman WENN DER POSTMANN ZWEIMAL KLINGELT hautnah mit. Er besorgte sich ein amerikanisches Slanglexikon, eine Schreibmaschine und legte los. Innerhalb von sechs Wochenenden schrieb er das Buch. Innerhalb von fünf Jahren wurden eine Million Exemplare verkauft.
Obwohl Chase später auch brutale Geschichten aus der Londoner Unterwelt erzählte, kehrte er immer wieder in sein mythisches Amerika zurück. Wie andere große Autoren schuf er sich einen eigenen Kosmos. Chase, der die USA nur von einem einzigen Kurztrip kannte, ließ seine besten Romane in diesem „Chase Country“ spielen, in dem er den gesellschaftlichen Sozialdarwinismus ungeschminkt vorführte.
Der Graham Greene- Freund (man scheint inzwischen zu wissen, dass Greene ihm bei Krankheitsfällen als Ghostwriter aushalf) Chase erzählte schmutzige, schnelle Geschichten über wenig sympathische Menschen, die für Sex, Macht und Geld alle gesellschaftlichen Normen brechen. Er zeichnete ein düsteres Bild der westlichen Zivilisation, in der jeder der Wolf des Anderen sein muss, wenn er nicht untergehen will.
Chase war in Vevey Nachbar von Graham Greene (und sie hatten denselben Steuerberater, was sie auch noch zu Komplizen machte; aber das wäre ein eigener Chase-Roman).
James Hadley Chase: Keine Orchideen für Miss Blandish; Amsel Verlag 1955. Zuletzt bei Ullstein. Vergriffen.
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ALIBI von Agatha Christie
Es ist leider modisch geworden, über Agatha Christie die Nase zu rümpfen. Sie sei altmodisch, verkörpere die Ideologie einer fast untergegangenen Gesellschaftsschicht und schreibe nur Pappcharaktere, sind nur einige Vorwürfe. Dabei übersieht man, dass ihr spröder Charme und die Eleganz ihrer Handlungsführung immer wieder neue Lesergenerationen in den Bann ziehen.
Und man vergisst, dass Dame Agatha mehr innovative Rätsel erfand als jeder andere Autor des klassischen Detektivromans.
Einen guten Eindruck von ihrem schier unendlichen Einfallsreichtum bietet der Miss Marple-Band DER DIENSTAGABEND-KLUB (Scherz) mit ausgefuchsten Kurzgeschichten. Ihre bis 1945 geschriebenen Bücher sind von höherer Qualität als die späteren. Mrs. Christies Welt der idyllischen Morde – falls es so etwas gibt – versank in den Stahlgewittern des 2.Weltkrieges, und das beeinträchtigte ihren Einfallsreichtum ein wenig (für gelegentliche Geniestreiche, wie etwa DAS FAHLE PFERD, war sie aber noch immer gut).
ALIBI (THE MURDER OF ROGER ACKROYD) war Christies 7.Roman und erschien 1926.
Mit einem Schlag gehörte sie zu den besten Autoren des Genres. Es ist der Roman, den die Krimitheoretiker nach wie vor für ihr cleverstes Buch halten. Am Anfang steht der für sie so charakteristische Mord in einem anheimelnden Dörfchen auf dem Lande. So erfand sie für diesen Hercule Poirot-Roman eine Lösung, die den unvorbereiteten Leser noch heute verblüfft.
Kopiert wurde diese Struktur selten (zum Beispiel in A.D.G.s großartigem Roman DIE NACHT DER KRANKEN HUNDE). Denn um mit diesem Trick durchzukommen, verlangt es all die schriftstellerischen Fähigkeiten, die verschiedene Kritiker ihr so gerne absprechen.
Agatha Christie: Alibi; Scherz Verlag
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IPCRESS – STRENG GEHEIM von Len Deighton
Als 1962 THE IPCRESS FILE herauskam, war er auf Anhieb die Sensation des boomenden Spionagegenres. Einigen Kritikern galt Deighton „besser als Ian Fleming“, dessen das Publikum enttäuschender, aber experimenteller Bond-Roman THE SPY WHO LOVED ME im selben Jahr erschienen war.
IPCRESS zeichnete sich durch einen faktischen Realismus aus, den man zuvor im Genre nicht gekannt hatte. Len Deighton war immer auf der Höhe der technischen Entwicklungen und setzte sie realistisch in seinen kompliziert geplotteten Spionage-Epen ein. Wenn man so will, war er der Vorläufer der heute so erfolgreichen Techno-Thriller. Tatsächlich gilt einigen Theoretikern sein 1966 erschienener Roman DAS MILLIARDEN-DOLLAR-GEHIRN (zuletzt bei Knaur, 1988) um einen Supercomputer, der für einen faschistischen texanischen Ölbaron einen Angriff auf Lettland lenkt, als erstes Exemplar des Subgenres High-Tech-Thriller.
Harte Schnitte, extreme Szenenüberblendungen und abrupte Perspektivenwechsel machen es dem Leser nicht leicht, sich ein Bild von der komplizierten Handlung in IPCRESS zu machen. Aber sie erzeugen ein Gefühl der Authentizität, die den Realismusanspruch des Autors unterstreicht.
Deightons Ich-Erzähler ist ein Antiheld, der nur in den drei ausgezeichneten Filmen mit Michael Caine den Namen Harry Palmer trägt. Ein echter Typ der 6oer Jahre: Sein Kampf gegen die Hierarchien und die Intrigen des eigenen Dienstes waren oft anstrengender als der Krieg gegen den kommunistischen Gegner.
Außerdem stammte er aus der Arbeiterklasse und war dem Establishment gegenüber mehr als misstrauisch: „Ich hatte keine Chance zwischen dem Kommunismus auf der einen Seite und unserem Establishment auf der anderen.“
Als gesellschaftlicher Außenseiter, der seinen Job illusionslos und ohne ideologische Befangenheit verrichtet, ist er dem namenlosen Continental-Detektiv von Dashiell Hammett näher als James Bond. Im Laufe der Zeit wurde Deightons Erzähltechnik immer konventioneller und gefälliger. Auch der freche Dialogwitz der frühen Romane ist inzwischen fast ganz verschwunden.
Politisch entwickelte er sich gegen die Zeit: Während er in den frühen Büchern ideologiefrei seinen Antihelden Bündnisse mit sympathischen Russen eingehen ließ, wurde er mit jedem weiteren Bestseller mehr zum kalten Krieger.
Len Deighton: Ipcress streng geheim; Knaur, 1994.
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IM GEHEIMDIENST IHRER MAJESTÄT von Ian Fleming
John LeCarré bringt es auf den Punkt: „Ich habe Bond nie wirklich als Spion gesehen. Ich halte ihn eher für ein Wirtschaftswunderkind mit der Lizenz, sich im Interesse des Kapitals extrem schlecht zu benehmen.“
Bond ist natürlich mehr: Eine unsterbliche Pop-Ikone mit immensem Einfluss auf Moden und Wunschvorstellungen, Symbolfigur des Kalten Krieges und des modernen Hedonismus.
1953 erschien CASINO ROYAL, Ian Flemings erster Bond-Roman, der sofort bewies, dass hier ein absoluter Meister des Thrillers schrieb. Zu seinen Fans gehörte sogar Raymond Chandler. Über Nacht waren die Geheimagenten alter Schule, John Buchans Richard Hannay oder die Clubland-Heroes von Dornford Yates, Schnee von gestern. Es folgten elf Romane und acht Kurzgeschichten. Der Ruhm der Figur überstrahlte den des geistigen Vaters.
IM GEHEIMDIENST IHRER MAJESTÄT ist ein perfektes Beispiel dafür, wie Fleming die wahnwitzigsten Handlungen völlig glaubwürdig schilderte. Wie in GOLDFINGER wird die Fleming-Formel perfekt umgesetzt: Ein Profi kämpft mit Hilfe technischer Tricks, physischer Kraft und Intelligenz gegen einen furchtbaren Feind, der England vernichten will. Dabei hat er noch Zeit für amouröse Abenteuer und gutes Essen.
Bonds Feinde waren Kommunisten und frühe Globalisierer wie das multinationale Gangstersyndikat SPECTRE oder Hugo Drax‘ Wirtschaftskonzern.
Fleming war vor Uwe Johnson der erste Literat, der Markenartikel als Realismusinseln einführte.
Aber sein Bond war auch ein Rassist und Chauvinist. Ihm galten alle Völker als den Briten unterlegen. Bonds rassistische Äußerungen wurden aus den Übersetzungen teilweise getilgt. Fleming legt ein Tempo vor, dass dem Leser keine Pausen gönnt. Gemessen an ihm sind die modernen Bestsellerautoren lahme Enten. Flemings Qualität beweist die Lektüre seiner weniger talentierten Nachfolger John Gardner oder Raymond Benson, die neue Bond-Romane vorlegten.
Nachdem sich Präsident Kennedy 1961 im LIFE-Magazin als Bond-Fan outete, jagten die Umsätze von Flemings Büchern in ungeahnte Höhen und machten ihn zu einem der meistverkauften Schriftsteller aller Zeiten.
Und dann kam auch noch das Kino…
Ian Fleming: Im Dienst Ihrer Majestät. Zuletzt bei Heyne. Die „ungekürzten Neuübersetzungen“ kenne ich nicht.
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DIE FREUNDE VON EDDIE COYLE von George V.Higgins
Eddie Coyle ist eine echte Ratte, ein kleiner Gangster, der ständig zwischen den Fronten hin- und her wieselt, um seine schmutzigen Geschäfte durchzuziehen. Mal dient er als Polizeispitzel, mal dreht er mit den Freunden ein Ding. Ganz spezielle Freunde sind das: Bankräuber, Waffenhändler und kleine Ganoven wie Eddie selbst. Bei seinem Doppelspiel muss er schwer aufpassen.
Und dann spitzt sich die Situation so zu, dass man von ihm verlangt, seine Freunde ans Messer zu liefern.
Niemand schrieb Dialoge wie der Bostoner Jurist George V.Higgins, der 1999 nur 59jährig starb. Er konnte eine ganze Geschichte fast völlig in Dialogen erzählen, die die Story vorantrieben und gleichzeitig die Personen charakterisierten.
Mit seinem Debut verpasste er 1972 dem Crime-Genre eine neue Dosis literarischen Realismus. Selbst Norman Mailer war fassungslos über die Qualität dieses Erstlings, der 1985 von einer Buchhändlervereinigung zu einem der 25 wichtigsten Romane des 20.Jahrhunderts gewählt wurde. Die gelungene Verfilmung von Peter Yates mit Robert Mitchum, ein seltener Glücksfall für einen Autor, wurde ebenfalls zum Klassiker.
Der moderne Gangsterroman verdankt ihm mehr als jedem anderen Autor. Elmore Leonard bezeichnete ihn als den Meister, von dem er alles lernte (einer der Hauptcharaktere in Higgins Roman heißt übrigens Jackie Brown – ein Name, den Leonard später aufgriff, um seine Reverenz zu erweisen).
Bevor er Anwalt wurde, arbeitete Higgins als Kriminalreporter und lernte die Unterwelt der Ostküste kennen. Später wurde er Staatsanwalt, dann Anwalt, der so illustre Charaktere wie den Watergate-Einbrecher G.Gordon Liddy und den Black Panther-Führer Eldridge Cleaver verteidigte. Als Schriftsteller von der Kritik verehrt, konnte er den Erfolg seines Erstlings mit den späteren Büchern nicht wiederholen.
George V.Higgins: DIE FREUNDE VON EDDIE COYLE.Hoffmann & zuletzt im Antje Kunstmann Verlag.
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EINZELGÄNGER – MÄNNLICH von Geoffrey Household
1939 veröffentlichte Geoffrey Household einen Schocker, der heute noch unter die Haut geht: ROGUE MALE. Ein Klassiker und eine der drei besten Jagd- und Fluchtgeschichten überhaupt.
Im Roman berichtet ein namenloser Erzähler, der bei einem scheinbaren Attentat auf einen mitteleuropäischen Diktator erwischt und von der Geheimpolizei schlimm gefoltert wird. Scheinbar tot kann er seinen Peinigern in einer nervenzerfetzenden Flucht nach England entkommen. Durch unglückliche Umstände wird er von der Polizei und den Agenten des Diktators durch die grandiose Landschaft von Dorset gehetzt.
Auch wenn keine Namen fallen und Deutschland nicht erwähnt wird, bleibt keine Sekunde unklar, dass es sich bei dem mitteleuropäischen Diktator um Hitler handelt.
Der literarische Thriller reicht über die Jagdgeschichten John Buchans hinaus. Wie Buchan ist Household am besten, wenn er physische Aktion beschreibt, besonders Fluchtszenen in der Natur.
Obwohl Household seinen Figuren ein anspruchsvolleres Innenleben gibt und seine Romane insgesamt mehr intellektuelle Substanz haben, ist er nie dem Einfluss Buchans entwachsen. Household geht in seiner Zivilisationskritik aber weit über ihn hinaus. Die bürokratische Konsumgesellschaft ist ihm ein Graus. Er verachtet Politik und Politiker und sieht das Heil in einer Art „Anarchismus des Adels“, ein Leben auf dem Land, in der Natur, ohne die Akzeptanz staatlicher Autorität.
Seine Helden sind oft Angehörige der upper class, Landlords, die vom Leben in der Wildnis geprägt sind. Die Rückkehr zur Natur war bereits 1939 für Household die einzige Hoffnung für die Menschheit.
Wieder einmal sollte ein Roman auch Auswirkungen auf die Realität haben: General Sir Noel Mason Macfarlane studierte das Buch genau, als er ein Attentat auf Hitler ausarbeitete. Es kam zwar nie zur Durchführung des Anschlags, aber Macfarlane unterließ es nie darauf hinzuweisen, dass Households Roman die Inspiration für eine derartige Option war.
Household nahm aktiv am 2.Weltkrieg teil. Er diente als Einsatzleiter im Militärischen Geheimdienst und wurde hochdekoriert entlassen. Als Militärattaché in Rumänien jagte er Ölfelder in die Luft, um sie nicht den Nazis und ihren Verbündeten in die Hände fallen zu lassen.
Geoffrey Household: Einzelgänger, männlich. Haffmanns Verlag, 2000. Kein & Aber; 2009.
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KALT WIE GOLD von Marcel Montecino
Das kriminalliterarische Subgenre des Polizeiromans hat inzwischen eine lange Tradition – und erfreut sich größter Beliebtheit. Der Polizeiroman, oder police procedural, begann in den 50er Jahren durch Autoren wie Lawrence Treat, Hillary Waugh oder Ed McBain und seinen Geschichten über das 87. Polizeirevier. Vorher dominierte die Figur des großen Einzelgängers das Genre, etwa der intellektuelle Detektiv à la Sherlock Holmes oder der harte Privatdetektiv.
Es ist kein Wunder, dass der Polizeiroman nach dem 2.Weltkrieg immer populärer wurde: Für die moderne Industriegesellschaft wurde das Individuum unwichtig und musste sich aus ökonomischen Gründen ins Team eingliedern. Das Polizeiteam und die Faszination an der neuen Technik lösten die Heroisierung des Einzelgängers ab. Durchbrochen wurde dieses Muster in den 70er Jahren von Joseph Wambaugh, der die Polizisten nicht mehr als gut geölte Maschinen zeigte, sondern als Psychopathen, die in einer immer brutaleren Gesellschaft ihren Job mehr schlecht als recht erledigen. Autoren wie James Ellroy griffen die Lektion auf und führten sie weiter. Seitdem jagen unangenehme Polizisten noch unangenehmere Serienkiller durch bluttriefende Buchseiten voller Gewaltpornografie.
Ganz anders der vielleicht beste Polizeiroman der 1980er: Marcel Montecinos erstaunlicher Erstling THE CROSSKILLER erzählt die Geschichte des abgeklärten jüdischen Polizisten Jack Gold, der im Inferno von Los Angeles seine Sisyphusarbeit erledigt. Von korrupten Vorgesetzten strafversetzt, wird er zum Gegenspieler eines rassistischen Psychopathen, der als „arischer“ Kreuzkiller eine blutige Spur durch die Stadt zieht.
Im Gegensatz zu Ellroy und Konsorten dämonisiert Montecino nicht antiaufklärerisch diesen Serienmörder. Er zeigt genau auf, wie ein ungebildeter Weißer durch persönliche und ökonomische Frustrationen zum Ungeheuer wird. Wie er all sein persönliches Versagen auf Sündenböcke – hier Juden und Schwarze – abwälzt.
Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Montecino erklärt uns diese traurige Figur, entschuldigt nichts und lässt keine Sympathie aufkommen. Daneben beschreibt er unsentimental die Zustände in der jüdischen Gemeinde der „Stadt der Engel“ und die furchtbare Situation einer schwarzen Familie. Ihm ist ein fast 600 Seiten langer Krimi gelungen, bei dem keine Zeile zuviel ist.
Marcel Montecino: Kalt wie Gold, Goldmann; zuletzt SZ-Krimibibliotheck
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DIE LIGA DER FURCHTSAMEN MÄNNER von Rex Stout
Mit seinen Nero Wolfe und Archie Goodwin-Geschichten schuf Rex Stout die perfekte Synthese aus klasschischer Detektivgeschichte und hard-boiled-school: Nero Wolfe ist die typische Denkmaschine in der Tradition von Sherlock Holmes. Er verlässt so gut wie nie sein Haus und löst die kompliziertesten Rätsel zwischen gutem Essen und Orchideenzucht im Lehnstuhl. Der fette und faule Meisterdetektiv hatte sein Vorbild in Sherlock Holmes‘ Bruder Mycroft.
Um an die nötigen Informationen zu gelangen, schickt er seinen Helfer Archie Goodwin hinaus in die böse Welt. Archie ist ein Charakter wie aus einem typischen Privatdetektivroman: Er prügelt sich, steigt den Frauen hinterher und hat immer einen lockeren Spruch auf den Lippen. Der große Unterhaltungswert und die stilistische Brillanz von Stouts Geschichten kommt durch die Erzählperspektive: Als Ich-Erzähler berichtet der schnoddrige Archie über die Fälle, die Nero Wolfe am Ende jeder Geschichte in seinem Haus in Manhattans 35.Strasse durch scharsinnige Gedankenarbeit klärt. Dazu werden dann in klassischer Manier alle Tatverdächtigen zusammen gerufen.
Stout war bereits 48 Jahre alt, als er sein Duo erfand. Er schrieb bis zu seinem Tod 1975 insgesamt 73 Novellen und Romane über Wolfe. Alle sind unterhaltsam, aber DIE LIGA DER FURCHTSAMEN MÄNNER von 1935 ist sein absolutes Meisterstück: Ehemalige Harvardstudenten bitten Wolfe um Schutz vor einem einstigen Kommilitonen, an dessen Verkrüppelung sie schuld waren. Der Plot ist genial (was man über die wenigsten Wolfe-Geschichten sagen kann) und die Charaktere ausdrucksstark.
Die Stout-Fans, die sich in der Organisation Wolf Pack zusammengeschlossen haben, halten PER ADRESSE MÖRDER X (THE DOORBALL RANG) für Nero Wolfes besten Fall.
Rex Stout: Die Liga der furchtsamen Männer. Heyne.
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DER MÖRDER IN MIR von Jim Thompson
Lou Ford scheint ein netter, menschenfreundlicher Deputy Sheriff zu sein und ist doch in Wirklichkeit ein psychopathischer Killer. Außerdem ist er der Ich-Erzähler in Jim Thompsons Klassiker THE KILLER INSIDE ME.
Niemand, der die Geschichte von Sheriff Lou Ford gelesen hat, wird diesen düsteren Roman je vergessen können. Thompson schrieb den Roman in zwei Wochen und bekam 2000 Dollar dafür. Erstmals wurden in diesem Buch Elemente der hard-boiled-novel mit der Psychoanalyse verbunden. Dass die Erzählung vom psychopathischen Täter selbst vorgetragen wird, ist heute natürlich nichts Ungewöhnliches mehr, war aber 1952 ein innovatives Wagnis.
Marcel Duhamel, Herausgeber von Gallimards Serie Noire, erinnerte Thompson an Henry Miller, Erskine Caldwell und Céline: „Thompsons Werk unterscheidet sich grundlegend von mittelmäßiger Kriminalliteratur; er besitzt einen völlig eigenen Stil und eine höchst individuelle Weltsicht.“
Thompson Gesellschaftsbild ist rabenschwarz. Gewalttätigkeit, Machtstreben und Korruption wächst aus ihr geradezu zwanghaft. Sein Markenzeichen, der paranoide Schizophrene, ist nichts anderes als die perverse Konsequenz aus dem Verfassungsgrundsatz, dass jeder „Amerikaner das Recht hat, nach seinem Glück zu Streben“. Für Thompson, der kurze Zeit in der Kommunistischen Partei war, Marx gelesen hatte und von Naturalisten wie Zola, William Cunningham und Frank Norris beeinflusst war, gab es nie einen Zweifel daran, dass das System naturbedingt Millionäre genauso hervorbringt, wie es psychisch kranke Killer zeugt.
In Thompsons Welt können die Dämonen des Schicksals nicht bezwungen werden. Seine Menschen sind allesamt armselige Kreaturen, die ohnmächtig diesem Fatum und den gesellschaftlichen Machtverhältnissen ausgeliefert sind.
Als James Myers Thompson am 7. April 1977 in Los Angeles starb, war er ein vergessener Schriftsteller, und kein Buch von ihm war noch lieferbar. An seiner Beerdigung in Westwood nahmen nur wenige Menschen teil; lediglich vier Trauergäste gehörten nicht der Familie an. In Frankreich war fast Staatstrauer angesagt.
Jim Thompson: Der Mörder in mir. zuletzt bei Diogenes. Audio: Audioverlag; Potsdam, 2000.
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DRECKSAU von Irvine Welsh
„Warum ich zur Polizei gegangen bin? Oh, ich würde sagen, das hat mit polizeilichen Übergriffen zu tun. Ich bin in meiner Gemeinde Zeuge von Polizeigewalt geworden und hab beschlossen, dass ich bei so was auch mitmachen will“, erklärt der gemeine Ich-Erzähler Bruce Robertson, Polizist bei der Mordkommission von Edinburgh und der bösartigste Bulle der gesamten Kriminalliteratur.
Bruce ist nur auf seinen Vorteil bedacht, er linkt jeden (auch seinen besten Freund), pumpt sich mit Drogen voll und erpresst Frauen zu Sex. Vielleicht Irvine Welshs (TRAINSPOTTING) bestes Buch. Bestimmt sein dreckigstes. Wer gemeine Ich-Erzähler liebt, kommt hier auf seine Kosten. Gegen Bruce Robertson sind Ellroys Bullen die reinsten Pfadfinder: „Ich meine, wir wissen, dass es Scheißgesetze gibt, also hat es nicht viel Sinn, dass wir sie selbst befolgen, auch wenn es unser Job ist, sie anderen gegenüber durchzusetzen.“ Eine nette Referenz an Moravias ICH UND ER sind die Monologe des Bandwurms, der Bruce zu schaffen macht.
Nichts für Leser, die in der Kriminalliteratur Realitätsflucht suchen.
Die Verfilmung ist mehr als enttäuschend.
Irvine Welsh: Drecksau (Filth,1998). Kiepenheuer & Witsch.
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DIE GEFANGENEN VON GREEN RIVER von Tim Willocks
Wenn kein Gesellschaftsvertrag existiert, der das Zusammenleben regelt, gibt es nur noch den Krieg aller gegen alle, verkündete der Philosoph Thomas Hobbes. Der Mensch ist des Menschen Wolf.
Wie das aussieht, leuchtet Willocks in seinem Gefängnisroman DIE GEFANGENEN VON GREEN RIVER aus. Er beschreibt 24 Stunden im schlimmsten Knast der Welt. Eine unerträgliche Atmosphäre aus Gewalt und Perversion beherrscht Green River. Und der durchgeknallte Direktor, der nicht von ungefähr Hobbes heißt, tut alles, um die Bedingungen zu verschlechtern, damit die letzten zivilisatorischen Regeln zum Klo runtergespült werden. Er zieht die Repressionsschraube immer weiter an, bis die kritische Masse explodiert und es zur ultimativen Schlacht zwischen Bestie und Geist kommt.
Das Finale ist erschreckender als ein Auftritt von SILBERMOND.
Nach der Lektüre beherzigt man gerne Alfred Hitchcocks Ratschlag für Filmemacher: „Bleibt aus den Gefängnissen raus.“
Alan Pakula hatte die Filmrechte an diesem wahrscheinlich bisher besten Knastroman erworben.
Willocks‘ Psychopathen wollen die menschliche Gesellschaft überwinden, indem sie Tabus zerschmettern und in sinnlosen Blutbädern und Orgien waten, um den vor-gesellschaftlichen Naturzustand wieder herzustellen. Bis sie dann endgültig in eine der unteren Höllen auf Grund laufen. Die komplexe Handlung wird zu einem apokalyptischen Finale geführt, das Willocks‘ Markenzeichen ist. Zurück bleiben zutiefst leidende Charaktere und Leser, die noch lange grauenhafte Hieronymus Bosch-Bilder im Kopf behalten.
Die Gefangenen von Green River, Heyne 1998.