Martin Compart


GET LEWIS – Ted Lewis und Brit Noir 6/ by Martin Compart

Mitte der 70er Jahre trennte sich Jo von Ted. „Ich musste unsere Töchter Nancy und Sally schützen. Ich hoffte, Ted würde durch die Trennung zur Vernunft kommen.“ Weit gefehlt. Ted zog zu seinen Eltern und soff weiter. Kurz darauf starb sein Vater, und seine Mutter konnte ihre ganze Aufmerksamkeit nun Ted widmen. Wenn er blank war, gab sie ihm Geld zum Versaufen. Jo reichte schließlich die Scheidung ein, die schnell und ruhig über die Bühne ging. Danach lebte er abwechselnd mit anderen Frauen zusammen, hielt aber Kontakt mit Jo und den Töchtern, die er sehr liebte. Jo ließ die Töchter aber nicht mehr zu ihm fahren, da sie herausgefunden hatte, dass Ted meistens betrunken war, wenn er mit ihnen zusammen war. Stattdessen musste er – oft mit seiner Mutter – nach Ipswich fahren und ins Hotel gehen. Dann schickte Jo ihm die Mädchen.
Seine letzten harten Noir-Romane erschienen 1976 und 1980: BOLDT und GBH. Böse, schwarze Bücher. Aber Lewis war ausgepowert. Das Schreiben fiel ihm zunehmend schwerer. Er versuchte Geld zu verdienen, indem er für die langlebige SF-Kult-Serie DR.WHO eine Folge schrieb (Titel: THE LORDS OF MISRULE). Wie üblich im Fernsehgeschäft, sollte er das Drehbuch verändern und umschreiben. Er lieferte es völlig betrunken bei der Produktionsgesellschaft ab, die „ihn nicht bat, nochmals vorbei zu kommen“. Sie wurde nie produziert (und durch die Folge THE POWER OF KROLL ersetzt). Für Jarrett-Books sollte er eine sechsteilige Vigilantenserie schreiben, konnte diese aber nicht mehr vor seinem Tod beginnen.
Am Ende war er todkrank und wegen seiner zerstörten Leber auch noch Diabetiker. Einmal fiel er ins Koma und musste mit dem Notarztwagen abgeholt werden, und niemand konnte sagen, ob das Koma auf Alkoholmissbrauch oder Diabetis zurückzuführen war.
1982 starb der Kettenraucher schließlich an einer Herzattacke. Ein wüstes Leben, wie es so viele unglückliche Noir-Kollegen geführt hatten, forderte seinen Preis. Aber sind derartige Leben am Abgrund nicht auch Voraussetzung für derartig schwarze Bücher? Für Autoren wie Ted Lewis, Jim Thompson, Charles Williams oder Cornell Woolrich waren ihre Bücher die letzten Haltestellen auf dem Weg zur Hölle.



GET LEWIS – Ted Lewis und Brit Noir 5/ by Martin Compart
23. April 2010, 3:39 pm
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Toby sorgte für einen lukrativen Deal mit Michael Joseph: Fünf Jahre sollte Ted jährlich 4000 Pfund erhalten und dafür ein Buch pro Jahr bei seinem neuen Lektor Edmond Fisher abliefern. Mit Fisher kam Ted gut klar: Sie wurden Trinkkumpane und machten bei Teds Besuchen in London oft fürchterlich einen drauf.
Ted gab den Zeichentrickfilm jetzt endgültig auf. Er verkaufte das teure Haus und zog 1971 mit seiner Familie in ein Farmhaus in Suffolk, ganz in der Nähe von Toby.
Er schrieb seine Romane weiterhin mit der Hand in Schulhefte; manchmal zeichnete er erotische Cartoons an den Rand. Jo tippte die Seiten ab und wehe, wenn sie auch nur ein Komma änderte. Ted überarbeitete nichts, meinte, das würde die Spontanität zerstören. Wenn er arbeitete, schrieb er tausend Worte und mehr an einem Tag. Toby Eady hielt ihn für den geborenen Schriftsteller, ein Naturtalent, das man nicht lektorieren müsse. Tobys Enthusiasmus für seine Arbeit war genau, was Ted brauchte. Aber Ted war leider kein kontinuierlicher oder systematischer Arbeiter und lieferte seine Manuskripte erst in letzter Minute ab. Ohne ökonomischen Druck lief nicht viel. Genaugenommen war Ted ein fauler Hund, der elf Monate nichts tat und dann innerhalb von vier Wochen einen Roman runterschrieb. Anders konnte er nicht arbeiten. „Er brauchte diesen Druck“, bestätigte Toby. Wenn im Laufe des Jahres das Geld knapp wurde, schrieb und illustrierte er Geschichten für Frauenmagazine. Kaum zu glauben, aber der Autor des ultraharten JACK RECHNET AB war ein gern beschäftigter Autor für Frauengeschichten!
Für Michael Joseph schrieb er weiterhin Gangsterromane. In diesem Genre hatte er sich schließlich einen Namen gemacht. Durch Toby lernte er den Londoner Rechtsanwalt James Morton kennen. Zu seinen Klienten gehörten Unterweltgrößen wie die Richardsons und Mad Frankie Frazer. Mit denen lungerte Ted gerne in Mortons Büro herum, oder er ging mit ihnen in den einschlägigen Pubs saufen.
Ebenfalls durch Toby kam Ted Ende der 6oer Jahre an das Manuskript mit den Lebenserinnerungen von John McVicar, einem Gangster, dessen Flucht in England Legende war (später wurden die Erinnerungen mit Roger Daltrey verfilmt). Irgendwie hatte es McVicar geschafft, das Manuskript aus dem Gefängnis von Durham zu schmuggeln. Ted wollte unbedingt einiges daraus verwenden und machte einen Deal mit McVicars Frau Shirley. Er benutzte Szenen und Informationen für den Roman BILLY RAGS (1973), der einer seiner besten ist.
Aber mit keinem Buch gelang es ihm, an die Verkaufszahlen von JACK’S RETURN HOME anzuknüpfen. Eigentlich hatte er auch keine Lust, Jack zu revitalisieren, den er am Ende des Buches schliesslich tot zurückgelassen hatte. Aus wirtschaftlichen Erwägungen holte er den alten Jack wieder ins literarische Leben zurück. Warum sollte er nicht das tun, was Conan Doyle mit Holmes oder Ian Fleming mit Bond angestellt hatten? 1974 veröffentlichte er JACK CARTERS LAW, in dem Jack einen Verräter durch London jagt. 1977 folgte der ziemlich durchgeknallte JACK CARTER AND THE MAFIA PIGEON, der Jack nach Mallorca führt.
Alkohol war Teds größtes Problem. „Seitdem ich ihn kannte, trank er. Aber ich dachte nie, dass er ein Problem damit hatte. Ich war blind“, berichtete Jo. „Als wir in Essex lebten, sagte ich seinem Arzt, ich würde mir Sorgen um Teds Gesundheit machen. Der Arzt antwortete, das einzige worum ich mir Sorgen machen müsste, wäre Teds Sauferei. Ich verstand nichts. Ted war daheim nie betrunken. Aber er ging immer öfters nachmittags in den Pub und ließ mich mit den beiden Kleinen alleine.“ Teds Freunde außerhalb des Berufslebens waren Arbeiter in den Pubs. Mit ihnen verstand er sich prächtig, mit ihnen zog er von Pub zu Pub und Rausch zu Rausch. „Es wurde schlimmer als wir nach Sussex zogen. Ich glaubte, es wäre der wirtschaftliche Druck, der auf ihm lastete. Unentwegt kamen Rechnungen, platzten Schecks, und er hatte die Verantwortung für eine Familie.“ Die Rechnungen, die Ted in den Pubs machte, waren nicht von Pappe. „Schließlich kümmerte ich mich um das Finanzielle. Aber es nutzte nichts. Seine Trinkerei war zu einem echten Problem geworden.“



GET LEWIS – Ted Lewis und Brit Noir 4/ by Martin Compart

Ein Widerspruch trägt die ganze Geschichte: Als rationaler Profi versucht er irrationale Ziele durchzusetzen. Er will die Mörder seines Bruders finden und fertig machen. Dafür setzt er seinen Status und sein Leben aufs Spiel. Das erscheint umso irrationaler, weil er Frank seit Jahren nicht mehr gesehen hat und sie einander nicht mal mehr mochten. Immerhin hatte Jack sogar mit seiner Schwägerin geschlafen und die Vermeintliche Tochter Franks könnte sein Kind sein. Es ist diese Spannung in der Figur des Ich-Erzählers, die zusätzliche Dynamik verleiht und bedrohliche Düsternis über den Roman ausbreitet wie ein Leichentuch. Der friedliebende Frank wäre mit Jacks Rachefeldzug auch nicht einverstanden. Aber das interessiert ihn nicht: „Er war mein verdammter Bruder“. Das hat nichts mit Sam Spades Ehrenkodex im MALTESE FALCON zu tun. Frank erinnert ihn an eine Zeit, als er noch unschuldig war, bevor er Albert Swift traf, bevor er auf die schiefe Bahn geriet und sein darwinistisches Leben begann. Mit Frank hat man seine Zeit der Unschuld endgültig ausgelöscht, die letzte Verbindung vor der Vertreibung aus dem Paradies gekillt. Aber man kann ja alles überinterpretieren. Letztlich war es Jacks Welt, die seinen Bruder getötet hat. Und man kann sich leicht vorstellen, das Jack für die Fletchers dasselbe getan hätte, was Eric Paice für seinen Boss und die lokalen Geschäfte erledigen musste. Also doch eine weitere Kain und Abel-Geschichte?

Drei Monate brauchte er für den halben Roman, den er handschriftlich in Schulhefte schrieb. „Er schrieb den Roman aus kommerziellen Gründen. Wir glaubten, es würde ein Bestseller“, meinte Jo. Ted und Jo hatten inzwischen eine Tochter bekommen, Nancy. Auf dem Haus lagen Hypotheken, und sie brauchten dringend Geld. Die Enttäuschung war groß, als Hutchinson das Manuskript ablehnte. 1968 hatte er Toby Eady getroffen, der sein Agent werden sollte und vollkommen von Teds Romanfragment überzeugt war. Toby brachte das Manuskript zu Peter Day vom Verlag Michael Joseph. Day gab ein Gutachten in Auftrag, in dem stand, Lewis könne kein Englisch schreiben. Wahrscheinlich war der Gutachter mit Teds hard-boiled-Stil völlig überfordert und nur ziselierte schöngeistige Literatur gewöhnt. Ted, der keine Kritik einstecken konnte, war jedenfalls außer sich vor Wut. Day liess sich von dem Gutachten nicht beeindrucken und kaufte das Buch trotzdem. Bevor es 1970 veröffentlicht wurde, waren bereits die Filmrechte verkauft. Ted, ein Filmfan, war begeistert und wäre gerne stärker in die Filmarbeit involviert gewesen. Jo meinte, er hätte das Drehbuch sogar umsonst geschrieben, hätte man ihn nur gelassen. Er besuchte die Dreharbeiten in Newcastle und zog ein paar Aufträge für Drehbücher für die Fernsehserie Z-CARS an Land.
Buch und Film waren zwar erfolgreich, aber Ted verdiente nicht annähernd soviel, wie es heute mit einem derartigen Hit üblich ist. Für das amerikanische Remake HIT MAN (1972) von George Armitage mit Pam Grier bekam er nicht einen Penny.



GET LEWIS – Ted Lewis und Brit Noir 3/ by Martin Compart

Also schrieb er seinen Klassiker: JACK’S RETURN HOME. „Die Inspiration kam durch zwei Quellen: Chandlers Romane und die amerikanischen Noir-Filme der 40er- und 50er Jahre. Beides beeinflusste mich ungefähr zur selben Zeit. Ich war noch in der Grundschule, und meine Kumpels und ich verbrachten die meisten Abende in einem der zwei Kinos der Stadt. Das eine Kino zeigte vor allem britische Filme und amerikanischen Mainstream. Aber das andere zeigte B-Pictures, uraltes Zeug zum Teil, und in Doppelvorstellungen. Da gingen wir hin. Das war das Zeug, das man sich nicht ansehen sollte.“

Ted Lewis gelingt ein bedrückendes Portrait einer miesen Industriestadt (die fatal an heutige Städte im Ruhrgebiet erinnert) Ende der 60er Jahre. Der Hedonismus des rebellischen Jahrzehnts ist verweht, der Optimismus auf eine bessere Welt in der Endlichkeit des Wirtschaftswachstums versumpft. Dumpf vegetieren die Menschen dahin, zerbrochen vom Überlebenskrieg. Auf sie trifft H.P.Lovecrafts Satz zu: Weder leben die Bewohner, noch wissen sie zu leben in dem Haschisch industrieller Knechtschaft. Sie leben in einer urbanen Landschaft, ohne klare Wahrnehmung und ohne sichere Existenz. In schleichender Verwesung sitzen sie in den Pubs um das Ende aller Träume abzuwarten. Jack Carter ist eigentlich einer von ihnen, hatte sich aber rechtzeitig abgesetzt und kommt angeschlagen aber unbesiegt zurück in seine elende Heimatstadt. Er will seinen Bruder beerdigen, der Nichte ein besseres Leben ermöglichen und herausfinden, was wirklich hinter dem Tod des Bruders steckt. You can«t go home again, hatte Thomas Wolfe behauptet. So genannte Return-Romane sind inzwischen fast ein Subgenre, und auch in der Kriminalliteratur gibt es dafür eindrucksvolle Beispiele: Mickey Spillanes THE DEEP und THE ERRECTION SET oder etwa Kenneth Millars BLUE CITY (fast immer verbinden sie sich mit den Corruption-City-Geschichten in der Folge von Dashiell Hammetts RED HARVEST) Lewis Sprache packt den Leser von der ersten Seite an. Der szenisch-filmische Aufbau treibt die Handlung mit hohem Tempo voran. Die Settings wechseln von elenden Kitchen-Sink-Momenten zu harter Action oder gehobenen Unterweltmilieus. Der Angry Young Man als Hard-boiled-Autor, der John Osborne oder Alan Silitoe mit Hammett, Jim Thompson und John MacPartland kreuzt. Er ist kein väterlicher Reiseleiter durch diesen Alptraum, er schafft den Alptraum und steigert ihn bis zum bitteren Ende. Der wenig angenehme Jack Carter gewinnt unsere Sympathien, weil er geradezu archaisch auf Blutrache besteht. Zivilisatorische Schranken haben in seiner Welt wenig Bedeutung. Ted Lewis macht ihn zu einem in jeder Sekunde glaubhaften Charakter. Carter ist eine runde Figur, die einen aus den Seiten des Romans anspringt, kein Pappcharakter. Und der Leser mit seinen gebremsten Sympathien für diesen knallharten Gangster kann sich der Anteilnahme nicht entziehen, denn Carter ist ein ebenso intelligenter wie ironischer (jedenfalls manchmal) Erzähler. Nur weil er ein so brutaler Kerl ist, hat er überhaupt eine Chance. Und ernsthaft würde wohl kein Leser die versaute Arbeiterexistenz des Bruders der Gangsterexistenz Carters vorziehen. Carter ist kein üblicher Held – Gott bewahre! Er ist nicht stark genug um der Korruption zu widerstehen, aber stark genug um sich ein Stück davon zu erkämpfen. Er kennt die Codes der Unterwelt genauso wie die Rituale der Unterschicht. Carter ist kein Gentleman-Hero. Er ist der proletarische Facharbeiter des Verbrechens. Ein Profi, der, wie Richard Starks Parker, seinen Job gelernt hat und ihn selbstsicher ausübt. Ganz den Idealen der 60er Jahre verpflichtet, ordnet er sich keiner Authorität unter. Weder seinen direkten Vorgesetzten, den Fletchers, noch den regionalen Geschäftspartnern. Er hat keine Skrupel mit der Frau seines Bosses ins Bett zu steigen, will sie ihm sogar endgültig ausspannen. Loyalität hat Grenzen. Er ist nur ein Söldner, der seine Arbeitskraft verkauft. Das Gegenstück zum amerikanischen Revolvermann des Wilden Westens, der seine Fähigkeiten vermietet und die Mieter immer auch verachtet. Die Rückblenden, in denen er sich an Frank erinnert, sind knapp und eindringlich, verdeutlichen, das Carter zur ersten amerikanisierten Generation gehört (wie sein Autor). Die Jungen eiferten Cowboys nach, hörten Jazz und sahen amerikanische Filme. Ein Gewehr mit sich rumzuschleppen ist für sie der Inbegriff der Freiheit (und eines gelungenen Tages). Die Sozialisation durch amerikanische Gewaltkultur ging bei Jack bestens auf – den Bruder ließ sie als Versager zurück. Es ist eine amerikanische Form von Freiheit und Glück, denen die Carter-Jungs nachhingen. Das Glück des Brutaleren oder Cleveren. Was Lewis Roman ebenfalls bemerkenswert macht, ist die Darstellung des Einbruchs amerikanischer Verhältnisse in England (und Europa). Nicht nur Jugend und Subkulturen sind amerikanisiert, auch das organisierte Verbrechen ist es jetzt: Die Grenzen zwischen Kriminalität und legalen Geschäften sind verwischt. Legale und illegale Wirtschaft verschmelzen – ganz amerikanisch – in den Händen derselben Bosse, die die Stadt kontrollieren. Nicht umsonst erinnerte Jack die Stadt in seiner Jugend an eine amerikanische Boomtown. Fair play existiert in seiner Welt nicht. Im Umgang mit Frauen ist er genauso brutal wie bei Männern. Es macht ihm nichts aus, Frauen zu schlagen. Aber dahinter steckt nie sadistisches Vergnügen. Seine zielgerichtete Gewalt ist Mittel zum Zweck. Genauso wenig belastet es ihn, wenn ein tumber Verbündeter (Keith) seinetwegen in Not gerät (oder die Geliebte verstümmelt wird und damit keinen sexuellen Wert mehr für ihn hat).



GET LEWIS – Ted Lewis und Brit Noir 2/ by Martin Compart

Edward Lewis wurde am 15. Januar 1940 in Manchester geboren. Er wuchs als Einzelkind auf und sah seinen Vater zum ersten Mal mit sechs Jahren, als dieser aus dem Krieg heimkehrte. Nach der Rückkehr des Vaters zog die Familie nach Barton-On-Humber. Ted war ein ruhiges Kind, hatte aber ein schwieriges Verhältnis zu seinen Eltern. Er suchte ihre Anerkennung, schien aber keine zu bekommen. Jo White, Teds Exfrau, beklagte diesen Komplex noch nach Teds Tod. Wie gering Teds Fähigkeiten von seinen Eltern geschätzt wurden (und auch nie gefördert), illustriert eine Anekdote, die sich auf dem Höhepunkt seiner Karriere zutrug: Bei der Premiere von GET CARTER fragte der Vater allen Ernstes Teds Agenten: „Wann fängt Ted an etwas Vernünftiges zu arbeiten?“ Die Anerkennung, die ihm im Elternhaus versagt blieb, suchte der unglückliche Junge anderswo.
Teds Englischlehrer war der Schriftsteller Henry Treece, der die Talente erkannte und ihn ermutigte. So schrieb Ted erste Arbeiten für die Schülerzeitung. Aber auch Treece konnte die Zurückweisung durch die Eltern nicht kompensieren. Aber vielleicht das Leben auf der Strasse, in der Gemeinschaft jugendlicher Rabauken und in den schummerigen Pubs. Bereits mit vierzehn Jahren begann Ted zu trinken. Seine Exfrau interpretierte das als Rebellion gegen seinen Vater. Ted entwickelte seine Hyde-Seite, da man seine Dr.Jekyll-Begabung nur unzureichend würdigte.
Als Ted seinen Eltern offenbarte, er wolle auf die Kunsthochschule von Hull gehen, waren die natürlich sofort dagegen. Künstlerische Aktivitäten galten nichts im Hause Lewis. Brotlose Kunst für reiche Müßiggänger. Mühsam intervenierte Treece mit der ganzen Autorität als Lehrer und anerkannter Schriftsteller und setzte schließlich Teds Ambitionen bei den Eltern durch. Ted war Treece Zeit seines Lebens dankbar, blieb mit ihm befreundet und kümmerte sich nach dem Tod des väterlichen Freundes um dessen Witwe und Kinder.
Vier Jahre besuchte er die Kunsthochschule und ließ sich zu einem professionellen Illustrator und Zeichner ausbilden. Es scheint eine glückliche und wilde Zeit gewesen zu sein. Gemeinsam mit seinen Kumpels Brian Case (später Autor des Noir-Thrillers THE USERS) und Neville Smith (Autor von GUMSHOE) zog er durch die Pubs der Stadt, immer auf der Jagd nach Mädchen. Er spielte in einer Band Klavier (in der Helen Shapiros Bruder das Schlagzeug bearbeitete).
Neben Malerei und Musik faszinierte ihn das Schreiben immer mehr. 1965 erschien sein erstes Buch: ALL THE WAY HOME AND ALL THE NIGHT THROUGH. Eine stark persönlich geprägte Geschichte über eine Romanze an einer Kunsthochschule. Sein Lektor beim Verlag Hutchinson, Giles Gordon, erinnerte sich: „Ted war einer der unmöglichsten und arrogantesten Menschen, die mir je begegnet sind. Er war vollkommen davon überzeugt, er sei der beste Schriftsteller, der je auf Erden gewandelt ist.“
Vom Schreiben konnte er natürlich nicht leben. In dieser Zeit illustrierte er Kinderbücher, Pierre Boules Roman DIE BRÜCKE AM RIVER KWAI und arbeitete für eine Werbeagentur.
1966 heiratete er Jo Whittle. Und er konzentrierte sich als freiberuflicher Illustrator auf Zeichentrickfilme (u.a. malte er die Hintergründe für eine LONE RANGER-Fernsehserie). Er verdiente gut und kaufte ein Haus in Wicken Bonhunt in Essex. Ted wollte jetzt hauptsächlich schreiben, und Jo unterstützte ihn darin, indem sie als Sekretärin arbeitete. Wenn das Geld knapp wurde, nahm er einen Job beim Zeichentrickfilm an. So arbeitete er 1968 auch an YELLOW SUBMARINE mit.
Der Großmeister des Brit-Noir, Derek Raymond, erinnerte sich an Lewis: „Ich kannte Ted Lewis – nein, eigentlich saß ich nur neben ihm. Niemand, den ich kannte, kannte jemals Ted Lewis – es war unmöglich, ihn kennenzulernen, nicht mal oberflächlich. Ich traf ihn, weil mein erster Roman in derselben New Authors-Reihe bei Hutchinson erschien wie Teds erstes Buch. Und so war Lewis regelmäßig im selben Pub unter Hutchinsons Büro, im HORSE AND GROOM in der Great Portland Street, wie wir anderen (inklusive unseres Herausgebers Graham Nicol). Und aus denselben Gründen – nicht nur wegen der Biere, sondern um ein paar Pfund Vorschuss locker zu machen (keiner von uns hatte es leicht, und ich hatte dazu noch eine kostspielige Freundin). Aber Lewis saß ausnahmslos allein am anderen Ende der Bar, und ich sah ihn nie mit einem Mädchen. Gewöhnlich saß er nach vorn gebeugt, mit einer Haltung, die an ein Gebet erinnerte, den Kopf auf seine Arme gestützt. Keiner von uns konnte ihn kennenlernen, denn er war immer völlig betrunken. Er war blond, sah gut aus, hatte ein Gesicht, das ich mochte – und ich hätte nichts gegen eine längere Unterhaltung einzuwenden gehabt, besonders nicht, nachdem ich JACK’S RETURN HOME gelesen hatte. Sie kam nie zustande. Man konnte etwas zu ihm sagen, aber er antwortete nicht, und wenn man ihn ansah, hatte man den Eindruck, als offenbare sich einem der geheimnisvolle Anblick eines farbigen Glasfensters. Das war in den Sechzigern, vermute ich. Dann ging ich nach Spanien und Tanger und sah ihn nie wieder. Alles, was ich jetzt noch tun kann, ist, ihm meinen Respekt für seinen Mut zu zollen, der es ihm ermöglicht hat, so zu schreiben, wie er es tat, solange er es tat, den Horror draußen mit Begriffen seines eigenen inneren Horrors zu beschreiben, wenn nötig mit der Hilfe von Alkohol oder irgendeiner anderen Waffe, die es ihm ermöglichte, seine Sache durchzuziehen… Er ist ein Beispiel dafür, wie gefährlich das Schreiben sein kann, wenn man es ernsthaft betreibt, und Ted Lewis‘ Werke beweisen, dass er nie vor irgendwas davongerannt ist.“
Ted war ein großer Fan von Raymond Chandler und der amerikanischen Hard-boiled-School. Weiterhin zählten Ed McBain, John O’Hara, Saul Bellow, James Thurber, Isaac Asimov, Graham Greene, Patrick Campbell und – natürlich! – Henry Treece zu seinen Lieblingsautoren. Aber es waren vor allem Chandler und die amerikanischen Tough-Guy-Autoren, die ihn inspirierten. Er fand nichts vergleichbar überzeugendes unter den britischen Autoren, obwohl es einige gab. Wenn auch nicht auf dem Level seiner Vorbilder. James Hadley Chase, die bereits erwähnten Jackson Budd, Gerald Kersh, David Craig, James Barlow, Jack Monmouth und andere hatten bereits finstere London-Novels vorgelegt und unbemerkt die eine und andere Gemme des britischen Noir-Romans geschrieben. Außerdem war der weltweite Erfolg dieser Literatur ein weiterer Grund für Ted, sich dem Genre zuzuwenden.



GET LEWIS – Ted Lewis und Brit Noir 1/ by Martin Compart

Ted Lewis und sein Antiheld Jack Carter begleiten mich seit Jahrzehnten. Zuerst begegnete ich ihnen Anfang der 70er Jahre in einem Kino in England. Ich war völlig fertig nach dem Film. Mitte der 80er Jahre veröffentlichte ich die Carter-Trilogie in der Schwarzen Serie von Bastei. 2003 gab ich JACKS RETURN HOME nochmal als prachtvolles Hardcover mit Bildmaterial und Nachworten (u.a. eines von the one and only Hans Gerhold) heraus. Und vor einigen Jahren bearbeitete ich JACK RECHNET AB zum Hörspiel für den WDR. Dabei war das Runterkürzen auf 50 Minuten nicht sehr befriedigend; m.E. hätte man besser einen Zweiteiler daraus gemacht. Schon die Adaptionen von Horace McCoy, Manchette oder Jim Thompson haben ja bewiesen, wie nichtssagend diese Romane als kurze Hörspiele wirken.

Es gibt wohl kein solitäres Buch und keinen einzelnen Film, der so einen starken Einfluss auf das britische Noir-Genre hatte wie JACK’S RETURN HOME und seine Verfilmung GET CARTER. Für Jahrzehnte vergessen, wurde der Film in den 90ern (auch dank der Begeisterung von Blurs Damon Albarn) wiederentdeckt und taucht nun regelmäßig in Listen über die wichtigsten britischen Filme unter den Top 3 auf. In der britischen Filmkritik gilt der Film als „Weckruf der 70er Jahre“. „Die Permissivität der Swinging Sixties mutiert in Pornographie und Gewalt“, wie es Robert Murphy ausdrückt. GET CARTER ist absolut „in“: In Alex Cox’s MOVIEDROME wurde die ungekürzte Fassung gezeigt, in LOADED lief vor ein paar Jahren eine Comic-Strip-Version, in CRIME TIME und UNCUT waren Carter & Ted Lewis Titelthema und in MEN ONLY bekam die Videoveröffentlichung fünf Hämmer für Härte. Unglücklicher Abschluss der Carter-Hysterie war dann das Stallone-Remake. Lewis‘ Roman ist gerade in Frankreich wiederveröffentlicht worden und in England ist inzwischen fast jedes Buch von ihm wieder lieferbar. JACK RECHNET AB ist der Schlüsselroman der britischen Noir-Literatur, die im Vergleich zur amerikanischen keine ähnliche Stringenz aufweist. Die höchst eigenwillige britische Noir-Tradition brachte zwar einige Meisterwerke hervor, hatte aber nie so stilprägende Autoren wie die amerikanischen Vettern mit Dashiell Hammett, James M.Cain, Raymond Chandler, W.R.Burnett, Mickey Spillane, Jim Thompson, David Goodis oder Horace McCoy. Der britische Noir-Roman, wenn nicht einfach nur kommerzieller Epigone der Amerikaner, war ein im Schatten blühendes Pflänzchen, das von wenigen Autoren gepflegt wurde. Selbst der große Kriminalliteraturtheoretiker Julian Symons hat in seinem verdienstvollen Standardwerk BLOODY MURDER diesen Teil der britischen Szene unterschlagen (weil nicht erkannt?) und höchstens einzelne Autoren isoliert betrachtet. Lewis kommt in dem Buch gar nicht vor. Folgerichtig orientierte sich Lewis (ähnlich wie die Noir-Autoren der neuen Generation) an amerikanischen Vorbildern und nicht an englischen Autoren wie Jackson Budd, Gerald Kersh, David Craig, James Barlow, Jack Monmouth oder Douglas Warner Die schrieben finstere London-Novels über die Unterwelten der Metropole seit den 40er Jahren, waren aber keineswegs stilbildend. Es ist geradezu ruchlos, wie Regisseur Mike Hodges die Vorlage seines nicht minder stilbildenden Films runterputzte und darauf beharrt, wie grandios er doch die Vorlage bearbeitet habe (indem er zum Beispiel bei einer Kneipenbestellung Carters höhnisches „bitte“ weggelassen hat), um sie noch härter zu machen. Er hatte, was dem Film gut tat, auch eine ziemliche Distanz zur Hauptperson: „Jack Carter war so ein Haufen Scheiße, ich hätte nie gedacht, dass ein Star seine Reputation riskiert, um diese Rolle zu spielen.“ Der Regisseur, der zuvor zwei Fernsehfilme gemacht hatte und Dokumentationen für WORLD IN ACTION drehte, landete mit der 750 000 Pfund teuren Produktion den großen Wurf. Aber sind wir ehrlich: Ohne den grandiosen Film wäre der Roman nur ein Tip unter Eingeweihten, Mundpropaganda unter den härtesten der harten Noir-Afficionados. Und Ted Lewis wäre längst in Vergessenheit versunken, seine Bücher hochdotierte Jagdtrophäen in den schmuddligsten Antiquariaten des Eastends. Wer war dieser Mann, der fast im Alleingang den britischen Noir-Romanen eine Tradition und eine Identität gab?



NOIR-FRAGEN AN GUIDO ROHM by Martin Compart
12. April 2010, 11:20 am
Filed under: Bücher, Crime Fiction, Fragebogen, Jim Thompson, Krimis, Noir, Porträt | Schlagwörter: , , ,

Guido Rohm wurde 1970 in Fulda geboren, wo er heute auch lebt und arbeitet.
Er schreibt u.a. Buchrezensionen für verschiedene Onlinemagazine. Dabei
entdeckte er auch den amerikanischen Kultautor Tom Torn für den
deutschsprachigen Raum. Nach der Kurzgeschichtensammlung »Keine Spuren« legt
er mit »Blut ist ein Fluss« seinen ersten Roman vor.

Berufungen neben dem Schreiben?
Eine Frau namens Annette
Meine Kinder
Auf dem Sofa mit geschlossenen Augen liegen und „innere“ Filme ablaufen lassen
Fluchen
Hände waschen (Sind inzwischen völlig ausgetrocknet)

Film in Deinem Geburtsjahr?
FIVE EASY PEACES (Ein Mann sucht sich selbst) von Bob Rafelson

Was steht im Bücherschrank?
Tom Torn, Jim Thompson, Ed Harlan, Ken Bruen, Daniel Woodrell, Cormack McCarthy, George P. Pelecanos …
Und dann noch viele andere Bücher, die mich meistens langweilen. Nur die Noir-Romane, die bleiben im Kopf und im Herz stecken. Das haben gut gezielte Geschosse so an sich.

Was war Deine Noir-Initiation (welcher Film, welches Buch)?
Charles Laughtons „Die Nacht des Jägers“
Jim Thompsons „After Dark, My Sweet“

Welches Noir-Klischee ist Dir das liebste?
Der trunksüchtige Held.

Ein paar Film noir-Favoriten?
Get Carter, Point Blank, Night of the hunter, No country for old man, There will be blood (Ein echter Western noir)

Und abgesehen von Noirs?
Filme von Gaspar Noe, Haneke, Peckinpah, Lars von Trier („Antichrist“ ist großartig), Luis Bunuel, Orson Welles.

Welche Film- oder Romanfigur würdest Du mit eigenen Händen umbringen?
Den echten und den fiktiven Adolf Hitler.

Noir-Fragen – Dein Leben als Film noir
1. Im fiktiven Film noir Deines Lebens – welche Rolle wäre es für Dich?
Ein saufender Autor namens James Tippie, der seit Jahren kein Manuskript mehr untergebracht hat.

2. Und der Spitzname dazu?
Tippie

3. Welcher lebende (oder bereits abgetretene) Schriftsteller sollte das Drehbuch dazu schreiben?
Ken Bruen und ich

4. Berühmtestes Zitat aus dem Streifen?
„Ich habe mir echtes Blut immer ganz anders vorgestellt.“
James Tippie zu seiner Nachbarin Laura, die er gerade erst mit seiner Schreibmaschine erschlagen hat

5. Schwarzweiß- oder Farbfilm?
Natürlich Schwarzweiß!

6. Wer liefert den Soundtrack zum Film?
Tom Waits

7. Welche Femme fatale dürfte Dich in den Untergang führen?
Ihren Namen darf ich nicht schreiben. Aber ich liege jeden Abend neben ihr im Bett.

8. In welchem Fluchtwagen wärst Du unterwegs?
In einem Mustang aus dem Jahr 1971

9. Und mit welcher Bewaffnung?
Eine Glock

10. Buch für den Knast?
Ken Bruens „Jack Taylor fliegt raus“

11. Und am Ende: Welche Inschrift würde auf dem Grabstein stehen?
Komme gleich wieder!