Martin Compart


»ANGST VERKAUFT SICH GUT« von Andreas C. Knigge by Martin Compart
29. September 2015, 6:52 am
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Vor knapp neun Monaten erschien das »Heft der Überlebenden« und fast möchte man glauben, Charlie Hebdo habe sich wieder gefangen. Doch sind nun die Medien dabei, zu Ende zu bringen, was den Attentätern nicht gelang. Warum das so ist, erklärt eine Stimme aus dem Jenseits.intro_ack[1]

Die Rue Béranger liegt einen Steinwurf entfernt von der Place de la République, auf der am Sockel der Marianne noch immer »Je suis Charlie« prangt. Auf dem Platz sollte am 11. Januar die Marche Républicaine ihren Anfang nehmen und kam dann kaum voran, weil allein in Paris anderthalb Millionen Menschen auf der Straße waren, mit dabei Dutzende Staats- und Regierungschefs, die größte Demonstration in der Geschichte Frankreichs.

Trotz der Gendarmen an der Ecke zum Boulevard du Temple fällt die schmale Einbahnstraße fast nicht auf, denn bewaffnete Militärs in Tarnanzügen sind im Pariser Stadtbild derzeit überall präsent, in Métro-Stationen wie vor Schulen und Museen. Doch als wir in die Béranger einbiegen, stutzt selbst der Taxifahrer. Alle zwanzig Meter ein Posten mit Maschinengewehr, der Eingang zur Tageszeitung Libération weiträumig abgesperrt, Security-Leute mit kugelsicheren Westen. Ich bezahle das Taxi und als ich mich umdrehe, blicke ich in zwei Mündungen.

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Ich treffe mich hier, wo Charlie Hebdo sein Notquartier hat, mit Gérard Biard, dem neuen Chefredakteur, der vielleicht nur deshalb noch am Leben ist, weil er am 7. Januar gerade in London war. Inzwischen ist ein Kopfgeld auf ihn ausgesetzt, wie auf beinahe jeden bei Charlie. Niemand, das hatte er mir schon vorab gemailt, kommt in das Gebäude, der nicht persönlich abgeholt wird. Da wir zum Essen verabredet sind, warte ich unten. Kein Mensch betritt oder verlässt während dieser Zeit die Redaktion, später erfahre ich, dass die Mitarbeiter derzeit nur den Hintereingang durch eine Parkgarage benutzen.

Nach zehn Minuten kommt Gérard aus der Tür. Mit seinen beiden Bodyguards im Schlepptau machen wir uns auf den Weg zu einem nahegelegenen Restaurant, vor dem ebenfalls schon ein Gendarm mit MG steht. Die Leibwächter bleiben am Eingang, wir nehmen ganz hinten in einer von außen nicht einsehbaren Ecke Platz. Gérard zieht die aktuelle Ausgabe hervor und legt sie auf den Tisch. »Sauvez l’Europe«, lautet der Titel, rettet Europa. Die Zeichnung dazu von Laurent »Riss« Sourisseau, der das Attentat mit einem Schuss in die Schulter überlebte, zeigt Christian Noyer, Gouverneur der französischen Nationalbank, der den Kopf eines Mannes in einen Wasserbottich drückt: »Noyer un Grec« – ertränke

»Was ist los?«, will ich wissen. »Geht es etwa tatsächlich ums Geld?« Auch deutsche Zeitungen berichten mittlerweile von Zerwürfnissen, gar Fehden bei Charlie. Die wichtigsten Stimmen des Blattes seien »verstummt, und die Überlebenden kommen mit ihrer neuen Rolle kaum zurecht«, formuliert der Spiegel und spricht von einer »komplizierten Analyse«. »Charlie Hebdo steht vor dem Aus«, meint die Süddeutsche Zeitung. »Keiner will mehr Charlie sein« titelte die Zeit (gänzlich unpassend zu einem dann brillanten Dossier) am Donnerstag vor unserem Treffen. Und immer wieder ist von den dreißig Millionen die Rede, die das Heft der Überlebenden, das sich sensationelle acht Millionen Mal verkauft hat, über zweihunderttausend Solidaritäts-Abonnements und Spenden von mehr als vier Millionen Euro eingebracht haben, Charlie ist so reich wie noch nie.

»Ach was«, sagt Gérard. »Das Problem ist vielmehr, dass wir seit Monaten belagert werden. Die Presse folgt uns auf Schritt und Tritt. Wer hält das aus nach einem derart traumatisierenden Vorfall? Die Nerven liegen blank, wir alle sind in therapeutischer Behandlung, da kommt es schneller zu Reibereien, ein zahmer Haufen waren wir ja nie. Das sind die Nachwirkungen eines solchen Anschlags, mit dem man vielleicht sein Leben lang nicht fertig wird.« Seit dem Attentat lauern Zeitungen, Radio- und TV-Sender auf eine neue Story, stellen Verwandten und Freunden der Opfer nach, verfolgen Zeichner und tun so das Ihre, um Zwist zu befeuern. Die laufende Berichterstattung im französischen Fernsehen trägt längst die Züge einer Daily Soap.

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Zu deren erstem Höhepunkt wird ein Konflikt zwischen der Redaktion und der Religionssoziologin und Kolumnistin Zineb El Rhazoui, Autorin auch der beiden von Charb gezeichneten Alben La vie de Mahomet, seit deren Erscheinen vor zwei Jahren sie nach ständigen Morddrohungen unter Personenschutz steht. Sie bleibt im Januar verschont, weil sie einen verlängerten Weihnachtsurlaub in Casablanca bei ihrer Familie verbringt. Es geht, als sie zurück ist in Paris, darum, ob man jetzt innehalten soll, um zu trauern und sich selbst wiederzufinden, oder ob man weitermacht »um jeden Preis«. Für Zineb ist das Heft der Überlebenden ein Fehler, aber ihre Kollegen stürzen sich in die Arbeit. Auch, um zu verdrängen. Zineb hält es nicht aus in der Redaktion, ohne die Freunde, sie lässt sich kaum noch sehen, schließlich wird sie abgemahnt, nicht zuletzt, weil die Kollegen sie jetzt dringend brauchen. Und da ist sie dann, die »Story«.

Als im Mai Luz alias Renald Luzier, Zeichner der Titelseite auch des Heftes der Überlebenden, erklärt, aussteigen zu wollen und künftig keine Karikaturen von Mohammed mehr zu zeichnen, üben sich die Medien in wilden Spekulationen, vom Eklat darüber, was mit den Millionen geschehen solle, bis zum Streit über die künftige Ausrichtung des Blattes. Doch Luz, seit über zwanzig Jahren bei Charlie, ist ganz einfach am Ende. Jede Ausgabe sei eine Tortur, sagt er, »weil die anderen fehlen: Ich verbringe schlaflose Nächte damit, mich zu fragen, was die toten Freunde, Charb, Cabu, Honoré, Tignous, Wolinski, wohl gemacht hätten.« Luz ist noch am Leben, weil er die Nacht zuvor in seinen Geburtstag gefeiert und dabei »ein bisschen gepichelt« hatte, somit zur Redaktionskonferenz zu spät kommt. Er hört Schüsse, sieht noch den schwarzen Citroën davonjagen, dann steht er inmitten des Blutbads.

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Die Zeit seit diesem furchtbaren Ereignis hat Luz nun in einem Buch festgehalten, das dieser Tage auch auf Deutsch erscheint. Katharsis, betont er vorab, sei »kein Zeugenbericht, geschweige denn ein Comic«. Das erste Mal ins Bild tritt er drei Seiten später jedoch als Tatzeuge, am Abend des 7. Januar, als auf dem Kommissariat am Quai des Orfèvres seine Aussage protokolliert wird. Luz bittet um einen Stift und beginnt zu zeichnen. Mit zittriger Hand, zwei dicke Kreise, wie Tunnel, die zu einem Augenpaar verschmelzen, reglos der Blick, schockstarr. Wieder und immer wieder krakelt Luz diese weit aufgerissenen Augen, darunter ein nur winziger Körper. Er ist nicht Zeuge, sondern gleichfalls Opfer des Massakers. Sein Buch einen »Comic« zu nennen, hält er deshalb für unangebracht; weil er mit komischen Zeichnungen eine gar nicht komische Geschichte erzählt.

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Wobei es sich, genauer, um Kurzgeschichten handelt, dreißig an der Zahl, die in Länge, Stil, Technik, Ton und Zugang überaus eigen sind, ganz unterschiedlich, sich am Ende aber zu einer dichten Collage von höchster künstlerischer Präzision zusammenfügen – dem vielschichtigen, ungefilterten Blick auf eine traumatisierte Psyche. Gleich in der nächsten Story, zwei Seiten nur, ist Luz im Januar bei der Redaktionskonferenz dabei. Verspätet, er hat ja gepichelt letzte Nacht. Er schlägt Themen vor, vielleicht wieder Houellebecq, ha ha ha, und dabei merkt er gar nicht, wie ihm der halbe Kopf weggeschossen wird. »Grrr, der Scheißstift läuft aus«, wundert er sich erst auf der nächsten Seite über all das Blut. Und dann darüber, dass plötzlich der Geburtstagskuchen weg ist, von dem er doch mitgebracht hatte, um mit den Kollegen später noch weiter zu feiern. Ein böser Traum, nicht der einzige, von dem uns Luz berichtet.

Die schwarz vermummten Kouachi-Brüder geistern durch einige der Geschichten, doch nur diese eine hat das Attentat selbst im Blick. Mal erzählt Luz, der »Überlebende auf Lebenszeit«, von dem Versuch, sich mit seinem neuen ständigen Begleiter zu arrangieren, jenem Kloß im Bauch, der klarstellt: »Wenn ich in deine Fingerspitzen krieche und dich am Zeichnen hindere, bin ich zugleich deine Angst vor der Zukunft wie vor dem leeren Blatt Papier.« Mal von – das ist eine der längsten Geschichten – dem vergeblichen Versuch, seinen Leibwächtern zu entwischen, um einen Moment für sich allein zu haben. Vom Zwiegespräch mit Charb an dessen Grab, das sich bald als Soliloquium erweist: »Du musst dich dran gewöhnen, Charb ist nicht mehr da, du redest jetzt mit dir selbst.« Von der Qual, mit der Trauer derer umgehen zu müssen, die alle Charlie sind und sich jetzt bei ihm ausweinen, nein ist das schrecklich! Vom Zusammenbruch.

Luz‘ Geschichten gehen unter die Haut, eine jede auf ihre ganz eigene Art. Über manche lässt sich sogar lachen, über die mit dem Vogel etwa, der von den Schüssen aufgeschreckt auffliegt und so ein paar Straßen weiter, platsch, Hollande auf den Kopf kackt – eine bizarre Allegorie darauf, welche Rolle Zufälle spielen, wer an jenem 7. Januar zufällig wo ist. Witzig auch die, in der ein Islamist in einem Tintenklecks den Propheten erkennt, obwohl Luz beteuert, dass es bloß ein Klecks sei: »Ich verbiete dir, Mohammed mit einem Klecks zu vergleichen, Ungläubiger!« Wo ist hier Mohammed? »Ich darf nicht hingucken, ich darf nicht hingucken!« Luz schlägt den Rorschach-Test vor, aber: »Ist das nicht jüdisch, der Name …?« Die fatale Mechanik des Irrsinns.

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In einer Story entdeckt Luz das Album Schwarze Gedanken wieder, das »so komisch« sei, obwohl Franquin unter schweren Depressionen litt, als er es zeichnete. Etwas, das Hoffnung gibt: »Der Beweis, dass man immer noch Schönes und Komisches zeichnen kann.« Luz‘ Einblicke in seine Seele brennen sich ein, lassen spüren, wie er den Albtraum zeichnend zu bewältigen sucht. Und dabei mit einer Intimität erzählt, die ein erhellender Kontrast ist zu all dem Mediengesummse; die uns einen neuen Zugang erlaubt – ein wahrhaft seltenes Meisterstück!

Auch die Presse wird kurz abgehakt, und dass die bei Luz nicht gut wegkommt, hat durchaus auch mit früheren Erfahrungen zu tun. Lange vor dem Überfall bereits ist Charlie regelmäßig in die Kritik geraten, »Rassismus« lautet der ständige Vorwurf und »Schüren von Islamophobie«. Als etwa der Autorenverband PEN dem Satiremagazin im Mai den Preis für Meinungsfreiheit verleiht, protestieren hundertfünfzig zumeist US-amerikanische Schriftsteller (inzwischen liegen über tausend Unterschriften vor). Sie bezichtigen Charlie der »kulturellen Intoleranz« und beharrlichen Verspottung einer Minderheit. In New York zählt neben Art Spiegelman und Alison Bechdel zu den Laudatoren auch Neil Gaiman, der betreten anmerkt, dass wohl »einige gutmeinende Schriftsteller nicht verstanden haben, dass man nicht teilen muss, was gesagt wird, wenn man das Recht verteidigen will, es sagen zu können«.

Nur zwei Tage vor seiner Ermordung hatte Charb das Manuskript für einen Essay abgeschlossen, der als Brief an die Heuchler und wie sie den Rassisten in die Hände spielen inzwischen auch in deutscher Übersetzung vorliegt. Nach dem Brandanschlag Ende 2011 auf die Redaktion von Charlie war Charbs Statement, er habe weder Frau noch Kinder, um die er sich sorgen müsse, und wolle »lieber aufrecht sterben, als auf Knien zu leben«, zum Leitsatz geworden. Das war kein flotter Spruch, sondern gelebte Haltung – die sich tragisch erfüllt hat. Charb, Stéphane Charbonnier, war die zentrale Persönlichkeit bei Charlie, jedem, der von ihm spricht, treten heute noch die Tränen in die Augen. Der Brief an die Heuchler ist sein Vermächtnis, in dem er präzise analysiert, warum Charlie mit dem Rassismus-Vorwurf immer wieder auch aus dem eigenen Lager angegriffen wird, und aufzeigt, wie der (schon etymologisch fragwürdige) Begriff »Islamophobie« von den unterschiedlichsten Interessengruppen instrumentalisiert wird – gleichermaßen um den Islam zu kräftigen, wie um ihm zu schaden.

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Charbs Streitschrift ist Pflichtlektüre für jeden, der meint, Charlie zu sein. Bedauerlich deshalb die spröde, teils missverständliche Übersetzung. Der Begriff des »Kommunitarismus« etwa, auf den Charb mehrfach rekurriert, hat in der politischen Debatte Frankreichs eine ganz andere Färbung als hierzulande, worauf jedoch nicht einmal verwiesen wird (eine kurze Fußnote führt im Gegenteil sogar noch mehr in die Irre); das macht die Lektüre des schmalen Bändchens leider streckenweise beschwerlich.

Charb stellt klar, dass Kritik an der extremistischen Auslegung einer Religion nichts zu tun habe mit der Menschenverachtung, die das Wesen des Rassismus ist. Dass der Spott von Charlie Terroristen gelte, die sich auf den Islam berufen, und keineswegs »den« Muslimen. Doch »wagt man es, auf dem Titelblatt den Propheten oder eine ihm ähnlich sehende Person zu zeigen, geht es wieder los! Die Zeichnung wird dann als ›neuerliche Provokation von Charlie Hebdo‹ dargestellt. Und wenn das Fernsehen verkündet, dass etwas eine Provokation ist, gibt es immer ein paar Idioten, die sich provoziert fühlen.«

Charb spricht sogar von einer »Komplizenschaft der Medien«, mit ganz profanem Motiv: »Jeder Skandal, der mit dem Wort ›Islam‹ überschrieben ist, ist verkaufsfördernd. Seit dem Attentat vom 11. September 2001 setzten die Medien eine ebenso faszinierende wie erschreckende Gestalt in Szene: den islamistischen Terroristen. Ein Terrorist macht große Angst, aber wenn man islamistisch hinzufügt, macht sich wirklich jeder in die Hose. Angst verkauft sich gut.«

Die Krise ist also längst noch nicht überwunden, wie geht es nun weiter mit Charlie? »Ich hoffe, dass wir im September endlich unsere neuen Büros beziehen können«, sagt Gérard auf dem Weg zurück in die Rue Béranger. Der Ausbau zieht sich hin, weil die schweren Sicherheitsschleusen eine Verstärkung der Gebäudestatik erfordern. Zeichnen im Hochsicherheitstrakt. Nach dem Umzug soll dann ein frischer Auftritt mit neuem Konzept erfolgen. Die Medien werden berichten.

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Luz: Katharsis, S. Fischer | HC | 128 Seiten | 16,99 €

Charb: Brief an die Heuchler und wie sie den Rassisten in die Hände spielen, Tropen | TB | 96 Seiten | 12,00 €