Martin Compart


Wie funktioniert die KRIMI-COUCH? – Interview mit Jochen König by Martin Compart
12. März 2018, 9:13 am
Filed under: Crime Fiction, Dieter Paul Rudolph, Interview, Jochen König, Krimis | Schlagwörter: ,

Ergänzung 2022: Inzwischen arbeitet Jochen – wie auch einige andere herausragende Rezensenten – nicht mehr für die „Krimi-Couch“.

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MC: Die KRIMI-COUCH dürfte mit monatlich mehreren Millionen Klicks (korrigiere mich) die erfolgreichste und größte Plattform für Kriminalliteratur in Deutschland sein.

JK: Im Januar hat sich die Zahl der Besuche auf der Krimi-Couch – nicht der Klicks – laut similarweb.com auf über 600 000 gesteigert. Damit dürfte die Couch tatsächlich eine der bestbesuchten Seiten im Themenbereich sein. Ob es tatsächlich „die erfolgreichste und größte Plattform für Kriminalliteratur in Deutschland“ ist, vermag ich nicht zu sagen. Es läuft auf jeden Fall gut.

MC: Wie kam es zu der Idee und zu ersten Umsetzungen?

JK: Die Geschichte der Krimi-Couch begann 2002, als ihr Gründer Lars Schafft beschloss, eine Webseite aufzubauen, deren erstes Anliegen es war, die unorthodoxe Chronologie der deutschsprachigen Veröffentlichungen Henning Mankells zu korrigieren und die tatsächliche Reihenfolge seiner Romane darzustellen. Dass dies nicht nur archivarisch geschah, sondern gleichzeitig von kritischen Rezensionen begleitet wurde, entwickelte sich zu einem der Markenzeichen der Krimi-Couch.

Nicht nur Kritiken zu veröffentlichen, sondern auch eine Datenbank zu erstellen und diese möglichst umfassend, korrekt und aktuell zu gestalten. Bei dem Wust an hierzulande erscheinenden Kriminalromanen geradezu eine Sisyphos-Arbeit. Heute noch mehr als vor 16 Jahren. Weshalb eine Prioritätenvergabe unausweichlich ist. Neu aufgenommen werden derzeit in erster Linie Autor*innen, zu deren Büchern eine redaktionelle Rezension vorliegt.

Zusätzlich dazu bot und bietet die KC ein Forum, in dem man sich austauschen kann, die Möglichkeit hat, ein Profil anzulegen, um u.a. ein virtuelles Bücherregal zu erstellen und mit anderen Mitgliedern der KC-Community privat zu kommunizieren. Ebenso kann jeder Leser Kommentare hinterlassen, egal ob ein Buch bereits redaktionell besprochen wurde oder nicht. Das war in den Nullerjahren noch nicht Standard und war ganz früh schon so eine Art kriminalistisches soziales Netzwerk. Einfacher Small-Talk ist im Forum natürlich ebenfalls möglich. Wenn man Lust darauf hat.

Nette Gimmicks waren auch der Dr.Watson-Generator, der nach Eingabe von Stichworten passende Buchvorschläge ausspuckte (so soll es zumindest sein. Doch der Doktor ist mitunter etwas eigenwillig und wortkarg) sowie die Möglichkeit, anhand von Landkarten herauszufinden, welcher Roman wo spielte. Diese vielfältige Gemengelage machte die Krimi-Couch schnell ziemlich einzigartig.

Bald fanden sich weitere Kritiker ein, sodass der Rezensionsteil ausgebaut werden konnte. Ich selbst stieg Ende 2007 ein (mit der Rezension zu Walter Mosleys „Little Scarlet“) und wurde schnell zum stellvertretenden Chefredakteur.
Doch bereits einige Zeit davor hatte Lars Schafft mit André Schmechta die „Literatur-Couch GmbH“ gegründet. Die Krimi-Couch blieb nicht alleine. Es gesellten sich die Histo-, Phantastik-, Kinder-, Jugendbuch-, Kochbuch- und Belletristik-Couch hinzu. Das jüngste Kind ist die 2017 gestartete Comic-Couch.

MC: Ich bin vor einigen Jahren damit konfrontiert worden (in einem Krimi- Chat, in den ich naiv reinrutschte), dass man ziemlich ärgerlich über die KC formulierte. Nach meinen Nachfragen erfuhr ich, dass nach Meinung der Beteiligten ein Qualitätsverlust eingesetzt hatte. Hast Du ähnliche Erfahrungen gemacht?

JK: Nun hat ja jede langlebige „Institution“ ihre ups and downs. Aber woran könnte dieser von einem Teil der Krimiszene wahrgenommene Qualitätsverlust gelegen haben?
Hmm, das zu beantworten ist schwierig, weil es vermutlich jene Zeit betrifft, in der ich nicht für die Krimi-Couch tätig war. Da kann ich nur als Außenstehender antworten: Eigentlich sollten die Ausgaben der Krimi-Couch, wie bei Printmedien, monatlich erscheinen. Elf Mal pro Jahr, mit einer Pause im Januar. Irgendwann reduzierte sich die Anzahl runter bis teilweise auf sieben oder acht Ausgaben. Dazu gesellten sich technische Probleme, die vor allem die Nutzerkonten (Stichwort: Bücherregal) betrafen. Diese Unregelmäßigkeiten gefielen begreiflicherweise zahlreichen Lesern und Usern nicht.

Auch hatten einige kompetente Redakteure die Krimi-Couch verlassen (Matthias Kühn, Martin Krist, und Stefan Heidsiek beispielsweise). Der im letzten Jahr leider viel zu früh verstorbene DPR (Dieter Paul Rudolph) hatte sein Krimilabor, ein Kolumnen-Highlight der Krimi-Couch, bereits zu meiner aktiven Zeit geschlossen, um mehr Muße für seine Autorentätigkeit zu haben. Bevor er dem Krimigenre weitgehend den Rücken kehrte, um seine ganz besondere Art des creative writing zu betreiben. Er veröffentlichte die „Schundhefte“, eine Art ironische Pulp-Hommage und widmete sich als Mentor und kritischer Begleiter einer Gruppe junger Autorinnen, den „Fantasy Girls“. Damit einher ging eine intensive Beschäftigung mit E-Book-Veröffentlichungen.
Teilweise sah es auch so aus, als würden die Rezensionen – das betraf vor allem neue und periphere Schreiber – nicht mehr so sorgfältig wie früher redigiert.
Ein riesiges Loch hinterließ auch der Abschied Susanne Kremmers, die die bibliographische Datenbank der Krimi-Couch äußerst akribisch, kompetent und findig pflegte und erweiterte. Diese Datenbank ist ein enorm wichtiges Feature der Krimi-Couch, das fast für so etwas wie ein Alleinstellungsmerkmal sorgt.
Das hat sich mittlerweile glücklicherweise wieder geändert. Die monatlichen Ausgaben sind seit 2017 eh Geschichte, die Krimi-Couch veröffentlicht, um das serielle Fernsehen mal mit einzubeziehen, quasi horizontal, nicht mehr in abgeschlossener Episodenform und kann so flexibler agieren. Und Susanne Kremmer arbeitet wieder an den Hintergrundinfos.

MC: Wie kam es zu der KC-Reihe bei Fischer und weshalb existiert sie nicht mehr?

JK: Wie genau es zustande kam, müsstest du Lars Schafft und André Schmechta fragen. Der Kontakt zum Fischer Verlag war damals sehr gut, und ich denke, dadurch wurde die Idee geboren, eine kleine Klassiker-Reihe unter Betreuung der Krimi-Couch ins Programm zu nehmen. Das Ende ist banal: Es rentierte sich anscheinend nicht. Die Fans von klassischen Kriminalromanen sind zwar solvente und interessierte Leser*innen, doch ist die Anzahl begrenzt. Und eine Begeisterungswelle schwappte leider nicht über. So blieb es bei elf Titeln, eine dritte Staffel wurde zwar vorbereitet, blieb aber im Schubladenmodus.

MC: Du hast die KC einige Jahre verlassen und dort nicht mehr mitgearbeitet. Warum?

JK: Das hatte mehrere Gründe. Ich hatte das Gefühl, dass Stillstand herrschte, zu viel Arbeit geleistet wurde, ohne dass Erkennbares dabei herauskam. Manches versandete einfach, anderes blieb liegen oder verzögerte sich scheinbar grundlos. Gleichzeitig eröffnete sich für mich mit Booknerds.de die Möglichkeit, nicht nur im Bereich der Kriminalliteratur tätig zu sein, sondern auch meinem ursprünglichen Interesse nachgehen zu können, nämlich Filme und TV-Serien zu besprechen.

Ich habe ja immer neben der Krimi-Couch auch für Musik-Webzines (erst Nocturnalhall.de, dann Musikreviews.de) geschrieben. Ex-Musikreviews-Kollege Chris Popp hat Booknerds.de gegründet, und es geschafft mit einem offenen Konzept – besprochen werden Bücher, Hörbücher, Audiovisuelles und gelegentlich sogar Computerspiele – viele hervorragende Kulturschaffende auf der Seite zu versammeln (der bekannteste dürfte derzeit Oliver Uschmann sein). Ich habe mich dem gerne angeschlossen.

MC: Wie sieht heute Deine Beteiligung an KC aus? Und was hat Dich zur Rückkehr bewogen?

JK: Mein Herz hing auch während meiner Abwesenheit an der Couch. Ich hatte immerhin mehr als ein halbes Jahrzehnt eine spannende Zeit dort erlebt, viele tolle Menschen kennengelernt und mit ihnen zusammengearbeitet. Bereits mein völlig verkorkstes Interview mit James Ellroy, sorgte für viel Nachhall und eine Geschichte, die ich immer wieder gerne erzähle. Obwohl ich gar nicht gut dabei wegkomme. Ich killte das Gespräch damals gleich mit meiner ersten Frage nach dem „Patriot Act“.

Das, was Lars und Andrés Agentur, die Zeitspringer in Münster, aus der Krimi-Couch (und ihren Verwandten) gemacht hatten, fand ich immer beeindruckend. Nicht nur einen Krimi-Blog – die es mittlerweile ja wie Sand am Meer gibt – zu schaffen, der gefühlsduselige Befindlichkeitsrezensionen verbreitet (gerne gipfelnd in einem unverbindlichen „Geschmäcker sind halt verschieden“), sondern eine multifunktionale Seite zu erstellen, die Lesern Austausch und Einbringung erlaubt, kompetente redaktionelle Kritiken veröffentlicht, als Nachschlagewerk funktioniert und noch ein paar knuffige Features mehr bietet (Krimi-Landkarte, Dr. Watson etc.) – das war (und ist) schon eine tolle Sache, die zu Recht mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet wurde.

Dass es bedauerlicherweise zu Unwegsamkeiten kam, liegt auch an dem hochexplosiven Gebräu, das sich Leben nennt. Und das hält neben Erwartbarem gerne Überraschendes parat.
2017 hat Lars Schafft die Literatur-Couch-AG verlassen, André Schmechta und seine Frau Stefanie sind jetzt Hauptverantwortliche. Mit André hatte ich eigentlich dauerhaft Kontakt, er produziert mit X-MARKS THE PEDWALK seit einigen Jahren wieder selbst Musik, hat ein hochinteressantes Soloprojekt (SN-A) am Start und produziert mittlerweile auch andere Künstler. Ein Fall für Musikreviews. Und mich.
Als André mich dann letztes Jahr fragte, ob ich nicht wieder Lust hätte, für die Krimi-Couch zu arbeiten, brauchte ich nicht allzu lange überlegen. Das Konzept war gut, mein Aufgabenbereich ist spannend und erlaubt mir einige Freiheiten. Zudem ist es interessant, zu sehen, ob man, angesichts eines einbrechenden Buchmarktes, nicht doch Interesse an Literatur, speziell der Kriminalliteratur wecken und erhalten kann. Auch und gerade außerhalb des x-ten Serienkiller-Aufgusses und bis zur peinlichen Absurdität überreizten Psycho-Thriller-Standards vom Wühltisch. Die steigenden Zugriffszahlen des letzten Jahres sprechen dafür.

MC: Wie wird oder sollte sich die KC weiterentwickeln? Gibt es da konzeptionelle Möglichkeiten, die Du siehst?

Zur geplanten Ausrichtung und Entwicklung müsstest du Stefanie Eckmann-Schmechta fragen, die Geschäftsführerin der Couchen. Was bereits passiert ist eine multimediale Ausrichtung und Themenerweiterung. So gibt es seit Ende letzten Jahres auf Youtube den „Krimi im Kreuzfeuer“. Dort diskutieren Andreas Kurth, Birgit Borloni und ich – durchaus kontrovers – über aktuelle Kriminalromane. Weitere Events – mit Kamerabeteiligung – sind in der Planung.

Abseits von literarischen Rezensionen passiert auch einiges. So habe ich mich länger der dritten Staffel von „Twin Peaks“ gewidmet, ein herausragendes Fernsehereignis, das jede Aufmerksamkeit verdient hat. Außerdem habe ich mich im Zuge der Veröffentlichung von „Endeavour“ („Der junge Inspektor Morse“) dem vor einem Jahr verstorbenen Autoren Colin Dexter und seinem Inspektor-Morse-Universum beschäftigt. Eine lohnende Angelegenheit, nicht nur für Oxford-, Wagner- und Kreuzworträtselfans.

Selbst Filmbesprechungen halten gelegentlich Einzug auf der Couch. Der erste Anlass war „Wind River“ , der Abschluss von Taylor Sheridans „American Border“-Trilogie („Sicario“, „Hell Or High Water“ und „Wind River“). Ein höchst atmosphärischer Country Noir, der im winterlichen Wyoming spielt. Mit exzellenter Besetzung und einer Thematik, die sich mit der Vernachlässigung der indigenen Bevölkerung Amerikas befasst.
Weitere Specials werden folgen, als nächstes werde ich mich mit dem Thema „Krimi und Musik“ beschäftigen. Ein großes Gebiet, das ich zwar nicht abdecken werde, aber ein paar literarische und musikalische sollten drinsitzen. Wie der Verweis auf Nick Cave, der auch die Filmmusik von „Wind River“ (gemeinsam mit Warren Ellis“) geschrieben hat, und der mit seinen „Murder Songs“ explizit das Thema Verbrechen musikalisch aufgegriffen und hervorragend umgesetzt hat.
Insgesamt hoffe ich, dass wir weiterhin breitgefächert und kritisch über Krimi, seinen Status Quo, Entwicklungen, Trends und Möglichkeiten informieren werden. Damit erkennbar bleibt, wie wichtig und erhellend das Genre in seiner Vielfalt für die Literatur und im besten Fall auch unser Leben ist.

https://www.youtube.com/channel/UCc5u1olN474if0PCy_JuTyQ

http://www.krimi-couch.de/



Schund! Theorie und Praxis eines Versuchs von Dieter Paul Rudolph by Martin Compart
23. April 2013, 7:52 am
Filed under: Dieter Paul Rudolph, E-BOOKS, Heftroman, Pulp | Schlagwörter: , , ,

Dieter Paul Rudolph stellt, ausgehend von theoretischen Überlegungen, hier das Verlagsprojekt SCHUNDHEFTE vor.

Das Theoretische…

Ach ja, Schund. Über Schund redet man nicht, an Schund verdient man. Schund, das ist, sagen wir das böse Wort, Unterschichtlesen. So anspruchsvoll wie Reality-TV, so nahrhaft wie ein XXL-Whopper, so kurzlebig wie die Sozialknete, für die man – neben dem obligatorischen Flachbildschirm – gelegentlich Minderleisterlektüre ersteht, um sie im bildungsfernen Milieu soziologisch korrekt zu konsumieren.

Schund, kurz und bündig, das ist ein Pfeil im Arsenal der sozialen Diffamierung. Historisch betrachtet, steht er für die Kolportage- oder Hintertreppenliteratur des 19. Jahrhunderts, angeblich von Dienstboten gelesen (was nicht stimmt; meist wanderte die Lektüre von der Herrschaft hinunter zu den Domestiken) und eben das genaue Gegenteil dessen, was das Bildungsbürgertum, das damals tatsächlich auch noch Vermögensbürgertum war, zu lesen pflegte. Offiziell jedenfalls. Später schuf man neue Namen für das Schmuddelkind, Trivialliteratur, Unterhaltungsliteratur, Heftchenliteratur, sie fand als Forschungsgegenstand Eingang in die akademischen Überlegungen (insbesondere im Nachklapp der 68er Jahre), war dann allerdings zumeist von literatursoziologischem Interesse (Rezeptionsforschung), kaum von literarischem. Immerhin stellte sich heraus, dass einige amerikanische Krimiautoren es geschafft hatten, trotz zweifelhafter Pulp-Herkunft eine schöne Karriere zu machen, Hammett und Chandler natürlich.

Gerade beim Krimi allerdings wird deutlich, wie vage der Begriff Schund die Dinge umschreibt. Was wir heute Kriminalliteratur nennen, verdankt sich dem Einfluss des Versatzstückhaften und Knalligen auf die literarische Grundessenz. Es bediente sich bei der Verbrechensliteratur von den griechischen Tragöden bis Schiller und Kleist, bei den Schauerromanen und den Mysterien der Romantik, naschte vom Realismus und spannte den Mechanismus einer immer industrialisierten Gesellschaft für seine Zwecke ein. Die Entwicklung des Genres mit seinen Regeln war also eine Entwicklung zum Trivialen, seine aktuelle Ausprägung, in solchen Wortungetümen wie „anspruchsvoller / literarischer Krimi“ fixiert, muss daher als Rückschritt bezeichnet werden. Das ist wahrscheinlich ein literaturbiologischer, gar kunstbiologischer Prozess, eine Form von Degenerierung und beileibe nicht singulär.praz+liebe-tod-und-teufel-die-schwarze-romantik[1]
Zwei Beispiele. Vor über 200 Jahren entstand kunstübergreifend die Romantik. In ihrer literarischen Ausprägung war sie ein Gegenstück zur formal hochgezüchteten Klassik, ihre dunkle, vage Ausformung, allerdings ohne die klassischen Antworten, dafür mit umso mehr Fragen. Sie war, nebenbei, auch hochpolitisch. Ihr widerfuhr im Laufe der Zeit nun das, was wir ihre „Popularisierung“ nennen wollen. Heute ist der Begriff „Romantik“ gleichbedeutend mit einem küssenden Pärchen auf der nächtlichen Parkbank unter dem diskreten Vollmond oder einem Strauß Rosen zwischen zwei Kandelabern mit flackernden Kerzen und einem geigenden Schmalztopf in der Lautsprecheranlage.

Wenn wir schon bei der Musik sind: die „Neue Deutsche Welle“. Das war, die Älteren erinnern sich vielleicht, einmal der musikalische Output genialer Dilettanten auf billigen Casio-Keyboards, auf MusiCassetten gespeichert und u.a. von dem Journalisten Alfred Hilsberg auf Winziglabels vertrieben, Hilsberg, der auch den Begriff „Neue Deutsche Welle“ prägte. Nur wenige Jahre später war „Neue Deutsche Welle“ dies: schlagerjodelndes Jungvolk mit schnoddrigen Texten zu leidlich aufgepeppter Popmusik, wo sich Lima auf Klima und Gas auf Spaß reimte, ein Riesengeschäft eben.

Was war geschehen? Zwei künstlerische Bewegungen hatten sich – vorwiegend aus ökonomischen Erwägungen – verkitscht. Kitsch? Man hält bisweilen Kitsch für ein Synonym von Schund, aber das ist grundverkehrt. Während Schund, wie bereits erwähnt, ein soziologischer Kampfbegriff ist, steht Kitsch für eine literarische Diagnose. Kitsch bezeichnet das Unechte, Verzuckerte, Abgeschliffene, Nachahmende, Verstiegene, er ist allgegenwärtig, in der sogenannten Hoch- ebenso wie in der, nun ja, Schundliteratur. Kitsch versucht krampfhaft, „Literatur“ zu sein, dieses auf das Ergebnis einer schlechten Deutschstunde reduzierte Kulturgut mit seinen Textinterpretationen und Subtexten, seiner stilistischen Brillanz und seiner Bedeutungsschwere. Das meiste davon ist, wie gesagt, längst antiquiert, Schmuckverpackung für schalen Inhalt, Transportmittel für banalste Weisheiten.

Im Krimigenre, dem wir, siehe oben, eine gewisse Neigung zum Dekadent-Degenerierten nachsagen wollen, ist der Kitschanteil besonders evident. Sobald etwa ein Protagonist zu grübeln anhebt, erscheint vor dem inneren Auge des erfahrenen Lesers, der routinierten Leserin augenblicklich der Warnhinweis „Vorsicht, Kitsch!“ Und meist zu Recht. Da Krimis immer auch Unterhaltungsliteratur sind und damit automatisch unter Schundverdacht stehen, wird dieser Kitsch zumeist mit eben jenem Schundanteil assoziiert – und nicht etwa, wie es zutreffender wäre, mit seinem intendierten Maß an Hoch- und Schwerliteratur. Dabei liegt genau hier das Problem. Die meisten Kriminalromane sind nicht deshalb unlesbar, weil sie „Schund“, vulgo: unterhaltsam sind, sondern weil sie beanspruchen, „Literatur“ zu sein (die gute, die hehre, die anspruchsvolle), diesen Anspruch aber nicht einlösen können.

Zurück zum Schund. Er soll uns unterhalten, er soll uns die Zeit vertreiben, er soll positive Gefühle in uns wecken, zum Weinen oder Lachen bringen. Die Diffamierung des Schunds ist dabei unauflöslich mit der behaupteten Abwesenheit von Nachdenken verbunden, jener fortschrittlichen Gehirnfunktion also, von der angenommen wird, sie werde bei „Hochliteratur“ automatisch aktiviert (nichts könnte irriger sein…). Wer sich darauf einlässt, dass man an seine niederen Instinkte appelliert (denn genau darum geht es beim Schund), schaltet nicht unbedingt seinen Verstand ab. Dass er ihn nicht einsetzen kann, liegt nicht am „Schund“, es liegt an den Produzenten desselben.
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Wenn wir für einen Moment die Argumentation der Schundverächter übernehmen wollen, dann können wir feststellen, dass Schund ein ideales Transportmittel für unangenehme Wahrheiten sein kann, für die produktive Arbeit mit den unappetitlichen Seiten der Gesellschaft, für die Vorurteile, die banalen Geheimnisse oder den Potemkinismus der Schleiflackkultur. Er ist, im Wortsinne, „trivial“, sprich: jedermann zugünglich. Im Schund, dessen Leserschaft nicht auf intellektuelle Feinkost aus ist, fühlt sich der ungeschliffene Klartext am wohlsten, die Regelverletzung, das hemmungslose Spiel mit den Versatzstücken, das Ersetzen der verdünnten Lesebrühe durch den kräftigen Extrakt.

So wie das Starkgebärdige des Schunds konstituierend für das Genre des Krimis wurde, so destruierend wirkt sich seine Verkitschung aus. Spätestens seit Mankell regiert der Psychokitsch, einhergehend mit dem Politkitsch. Der Krimi als ABC-Fibel für das Einpauken der Gut-Böse-Weltbilder mitsamt einer beruhigenden Portion Küchenpsychologie, die Schweinereien der Globalisierung als auf der To-Do-Liste des Anspruchsvollen abzuhakende Items. Neben dem Kitsch der Erniedrigung von Geschichten und Sprache existiert also auch der Kitsch der Erhöhung von Geschichten und Sprache zu einem letztlich affirmativen System von „Anspruch“. Wer nicht liest, um sein Gehirn bei der Bearbeitung des intellektuellen Common Sense hörbar ächzend in Schwingungen zu versetzen, wer gar nur „aus Wolluscht“ schmökert, fällt ohne Umschweife aus der Hochkultur.

… die Zurichtung des Theoretischen…

Schund als Kampfbegriff. Was sich wie ein roter Faden durch die kulturelle Entwicklung zieht, kann auch als die Diffamierung des Denkens außerhalb akademischer Bahnen, außerhalb intellektueller Verständigungssystems generell definiert werden. Dann bleibt Schund zwar ein Kampfbegriff – wendet sich aber nun gegen diejenigen, die ihn erfunden haben. Schund bedeutet nicht die Abwesenheit von Kultur, sondern ihre Anwesenheit in anderer Form. Vor allem jedoch erweist sie sich als probates Mittel im Kampf gegen den als Anspruch verbrämten Kitsch, der längst als Alibi für bahnengebundenes Denken herhalten muss. Also lasst uns Schund produzieren, um die intellektuelle Blümchentapete von den Wänden der Texte zu reißen!

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… zum Praktischen.

Die Reihe [Schundheft!] (http://schundheft.wordpress.com/) möchte gleich dreierlei ausprobieren. Erstens: Krimis und andere Genreprodukte ohne kitschige Zierleisten herstellen. Zweitens: Lesevergnügen für Bauch, Zwerchfell und Kopf. Drittens: Eine Renaissance der längeren Erzählung (mit der, nebenbei, die Kriminalliteratur begann!), die zwischen die Mühlsteine dickleibiger Thriller und flotter Kurzgeschichten geraten ist, im Zeitalter von E-Books und des problemlosen Selbstverlegens von Papierbüchern aber unverhofft eine neue Chance erhält.

Darüber steht für alle beteiligten AutorInnen das große Motto: Habt Spaß! Spielt und experimentiert! Betrachtet die Hirnmasse nicht allein als den Ort, an dem Konsumentscheidungen emotional manipuliert werden können!
Denn der Schund – oder sollten wir ihn die niederschwellige Literatur nennen? – ist ein Einfallstor für die widerborstigen Geschichten, die abgeschnittenen und in den Abfalleimer gekehrten Haare im vornehmen, parfümierten Frisörsalon des literarischen Betriebs. Schund kann subversiv sein, Schund kann dich in Gegenden deines Bewusstseins führen, von denen du bisher gar nicht wusstest, dass sie überhaupt existieren.
Die AutorInnen schreiben – unter mehr oder weniger geheimen – Pseudonymen. Sie sind im wirklichen kriminalliterarischen Leben durchweg renommierte Vertreter ihrer Zunft und sehen die Teilnahme am Schundprojekt auch als eine stilistische Entschlackungskur.

In der [Schundheft!] – Reihe (die von einer merkwürdigen Organisation namens Schundbüro herausgegeben wird) sind bisher acht Titel erschienen (ein neunter, ein Ritterroman mit Suspense!, ist in Vorbereitung). Neben traditionellen Krimis mit erfolglosen Privatdetektiven (siehe die beiden Schundromane von O.M. Gott) gibt es eine erbarmungslose Agentenpersiflage (Hans I. Glocks „Beiß die Zähne zusammen, alter Schwede“), eine Cyborg-Dystopie zu Ehren Isaac Asimovs (Isa Oblomovs „Robozid – Das große Verschrotten“), einen Western aus der deutschen Spätpubertät (Hans I. Glocks „Der Herbert ist dem Karl sein Freund“), zwei hartgesottene Krimis aus dem gesellschaftspolitischen Müll (Edi La Gurkis „Buschzulagenficker“ und „Loch Starnberg“) – und in Zukunft noch einiges mehr, gerne auch Tarzanromane, Mädchenromane, Arztromane.

60 Seiten. Schnörkellos verspielt. Weitgehend kitschfrei (garantiert unter 2%). Direkt von den Erzeugern (oder über Amazon…). Haarscharf an der deutschen Kritik vorbei, die derweil über „gute Krimis“ räsoniert. Bauchnahrung, Hirnnahrung: Vollwertsschund!

Dieter Paul Rudolph

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NOIR-FRAGEN AN DIETER PAUL RUDOLPH by Martin Compart
10. April 2013, 8:34 am
Filed under: Dieter Paul Rudolph, Fragebogen | Schlagwörter:

Er gehört zu den markantesten und vielseitigsten Typen in der deutschen Krimi-Szene. Als Theoretiker war er Mitherausgeber mehrerer Krimi-Jahrbücher, Herausgeber der Criminalbibliothek des 19. und frühen 20. Jahrhunderts und vor allem Blogger des inzwischen legendären Watching the detectives (2007-13). Außerdem schreibt er Kriminalromane, von denen DER BOTE (Conte, 2012) ein gelungener cross over zwischen Detektivroman und steam punk ist. Heute also der Bünnagelsche Fragebogen mit ihm.dpr

Name?
Dieter Paul Rudolph. Unter anderem.

Berufungen neben dem Schreiben?
Denken. Beobachten. Fehler machen. Also alles, was man tun sollte, wenn man schreibt.

Film in Deinem Geburtsjahr?
Wahlweise „Der Mann mit dem goldenen Arm“ und „Die Mädels vom Immenhof“. Immer wieder interessant ist dabei die Frage, welcher davon mehr noir ist.

Was steht im Bücherschrank?
Alles von: Arno Schmidt, Jean Paul, Vladimir Nabokov, Alfred Döblin und mir. Natürlich auch eine Tour de Force durch die Kriminalliteratur. Von J.D.H. Temme bis Guido Rohm, sprich: nur das Beste.

Was war Deine Noir-Initiation (welcher Film, welches Buch)?
Weder Film noch Buch, sondern eine Erkenntnis: Dass am Ende eines guten Buches immer die Resignation steht. Das Scheitern, die Einsicht. Das Schulterzucken.

Welches Noir-Klischee ist Dir das liebste?
Alkohol, Zigaretten, schöne Frauen, die wie Lauren Bacall aussehen.

Ein paar Film noir-Favoriten?
Geständnis: Ich mache mir nicht viel aus Filmen. Grund: Ich drehe pausenlos in meinem Kopf selber welche und bemühe mich anschließend mit mäßigem Erfolg, sie als Literatur auf die Menschheit loszulassen. Gehört „die Schwarze Serie“ zum Noir? Wenn ja: Ich mag diesen Film, in dem man das Gesicht des Protagonisten nicht sieht, weil es durch die Kamera ersetzt wird.

Und abgesehen von Noirs?
Natürlich „Manche mögen’s heiß“! Natürlich „The Big Sleep“! Und „Jonas, der im Jahr 2000 25 Jahre alt sein wird“ von Alain Tanner. Weil dort ein Männertraum erfüllt wird: der Dreier mit zwei schönen jungen Frauen.

Welche Film- oder Romanfigur würdest Du mit eigenen Händen umbringen?
Keine, das wäre nämlich ungerecht. Die können ja nichts für ihre Blödheit. Man sollte die verantwortlichen Schöpferinnen und Schöpfer – nicht umbringen, aber vielleicht mal tüchtig vermöbeln. All diese im Brei ihrer Klischees und Versatzstücke herumgrübelnden Tiefsinnmenschen, die Flachwichser.

Internet?
Ständig. Überall vorbeischauen. Aufsaugen, abgestoßen sein, angeregt werden. Selbermachen.

Noir-Fragen – Dein Leben als Film noir
1. Im fiktiven Film noir Deines Lebens – welche Rolle wäre es für Dich?
Ich würde eine Statistenrolle bevorzugen. Der kleine Angestellte in der U-Bahn beispielsweise, der den Protagonisten jeden Morgen zwischen Station A und Station C beobachtet, wie er immer desillusionierter wird.

2. Und der Spitzname dazu?
Karl-Heinz natürlich. So heißen die meisten kleinen Angestellten.

3. Welcher lebende (oder bereits abgetretene) Schriftsteller sollte das Drehbuch dazu schreiben?
Ich wünsche mir einen Autor mit der nüchternen Sprache von J.D.H. Temme, an einigen Stellen das kalte Feuer von Jim Thompson.

4. Berühmtestes Zitat aus dem Streifen? (Beispiel: Scarface = The World
Is Yours, White Heat = Made It Ma, Top Of The World)
„Sie dürfen hier nicht rauchen. Das ist ein Krematorium.“

5. Schwarzweiß- oder Farbfilm?
Nur schwarzweiß. Gibt es überhaupt schon Farbfilme?

6. Wer liefert den Soundtrack zum Film?
Joni Mitchell, weil sie schon immer ergreifender und intelligenter war als Dylan.

7. Welche Femme fatale dürfte Dich in den Untergang führen?
Keine! Ich bestehe darauf, eine Femme Fatale in den Untergang zu führen. Egal welche.

8. In welchem Fluchtwagen wärst Du unterwegs?
In einem von den Dingern, die James Bond immer fährt. Und bei denen der Knopf für die Mittelstreckenrakete klemmt.

9. Und mit welcher Bewaffnung?
Mittelstreckenrakete, Machete und Intelligenz.

10. Buch für den Knast?
Prousts „Recherche“. Weil es a) sehr umfangreich ist und damit genau richtig für den Knast und weil es b) eigentlich ein prototypischer Noir ist. Am Schluss hängt alles von einem Stück Gebäck ab.

11. Und am Ende: Welche Inschrift würde auf dem Grabstein stehen?
„Er kam, sah und ging wieder.“