Filed under: 50 SHADES OF GREY, Alexander Martin Pfleger, Deutsches Feuilleton, Porno, Rezensionen | Schlagwörter: 50 Shades of Grey, Porno
Gibt es über 50 SHADES OF GREY noch irgendwas zu sagen?
Wahrscheinlich nicht allzu viel. Aber Alexander Martin Pfleger untersucht mal genauer, wer was zu sagen hatte, betrachtet die deutsche Rezeptionsgeschichte, benennt Qualitäten der Autorin und sieht Zusammenhänge mit dem viktorianischen Roman.
Selig in Lust und Leid
Persönliche Überlegungen zu „Fifty Shades of Grey“
Alexander Martin Pfleger
Betrachtet man sich die bisherigen feuilletonistischen Einlassungen zur Romantrilogie „Fifty Shades of Grey“ der britischen Autorin E. L. James etwas genauer, kommt man nicht umhin, die Vermutung auszusprechen, hier werde wieder einmal allzu selbstgefällig der vermeintlich bessere Geschmack einiger Vertreterinnen und Vertreter der kritisierenden Zunft gegenüber dem Kaufverhalten einer als ungebildet vorausgesetzten Leserschaft, die es zu belehren gelte, ausgespielt.
Manchmal muß man einfach etwas persönlicher werden – also: Ich interessiere mich für Erotik und Sexualität in der Literatur ebensowenig wie weiland Marcel Reich-Ranicki für die Probleme der Eskimos. Erotik und Sexualität mögen in bestimmten Zusammenhängen ihre Funktion inne haben, wogegen nichts einzuwenden ist, werden aber weiterhin allzu häufig um ihrer selbst willen allem möglichen aufgepfropft, um das jeweils behandelte Thema interessanter erscheinen zu lassen. Und das braucht man nun wirklich, um eine Formulierung des verstorbenen Fuldaer Erzbischofs Johannes Dyba aus einem anderen Zusammenhang aufzugreifen, ebenso sehr wie einen Kropf im Nacken.
Es gereichte der großen europäischen Romanliteratur des 19. Jahrhunderts keineswegs zum Nachteil, daß beide Bereiche bestimmten Formen der Tabuisierung unterworfen waren, wie umgekehrt in der Libertinage des 20. Jahrhunderts kein genereller Vorteil zu erblicken sein sollte – die „Sexszenen“, welche vielfach allein Leser nach den Mach- wie Meisterwerken der Moderne greifen ließen, stellten selten künstlerische Höhepunkte dar.
„Fifty Shades of Grey“ hat mich nur bedingt interessiert. Durch die Medien seit 2012 leidlich informiert, wurde mir rasch klar, daß die Geschichte der jungfräulichen Literaturstudentin Anastasia Steele, die sich in den exzentrischen Multimilliardär und Jungunternehmer Christian „Ich bin in fünfzig Facetten abgefuckt“ Grey verliebt, einen ins Positive gewendeten Hannibal Lecter, der nicht mit Frauen schläft, sondern diese hart zu ficken pflegt (Seltsam? Aber – so steht es geschrieben!), danach gerne mit entblößtem Oberkörper Bach, Chopin oder einen der Virginalisten auf dem Klavier zu spielen beliebt und überdies noch Hubschrauber und Segelflugzeuge zu steuern vermag, nicht unbedingt das ist, was meine Neugierde zu wecken vermöchte. Da lese ich lieber Eskimomärchen.
Die Begeisterung einiger Menschen für „Fifty Shades of Grey“, deren Urteil mir sehr wichtig ist, sowie die überzogen heftig wirkende Ablehnung des „Phänomens“ „Fifty Shades of Grey“ von feuilletonistischer Seite aus, ließen mich die Angelegenheit denn doch etwas näher in Augenschein nehmen.
Phänomen? Wenn mich während der vergangenen 10 Jahre zwischenzeitlich das Gefühl beschlichen haben sollte, die Zeit, da man sich im Feuilleton über bestimmte populärkulturelle „Phänomene“ ereiferte, wären glücklicherweise vorbei, und man frage endlich nur noch nach tatsächlich vorhandener Qualität und tatsächlich angelegtem Potential oder konstatiere unleugbare Schwächen, dann muß mich dieses mein Gefühl gründlich getrogen haben.
Tatsächlich scheint man „Fifty Shades of Grey“ als willkommenen Anlaß genommen zu haben, sich endlich wieder einmal der eigenen „Exklusivität“ zu versichern – und dabei stillschweigend unter den Tisch fallen zu lassen, daß man einerseits doch selber tagein, tagaus literarisch wesentlich dürftigere, erzähltechnisch dilettantischere und überdies offen pornographische Bücher hochjubelt, man andererseits in der Auseinandersetzung mit „Fifty Shades of Grey“ aber stellenweise das Grundinstrumentarium literaturwissenschaftlicher Erschließung eines fiktionalen Textes außer Acht lassen zu dürfen vermeint.
Ina Hartwig wird es in der SZ nicht müde, zu betonen, welch ein schlechter Porno doch „Fifty Shades of Grey“ sei und wie untalentiert deren Autorin – ohne jede metaphorische Begabung, laienhaft im Aufbau, zur unfreiwilligen Komik neigend, dabei stets Schleichwerbung betreibend. Das Ganze verletze einerseits die Regeln der Pornographie, erhebe andererseits keinerlei Kunstanspruch. Merkwürdig, welche Bedeutung hier plötzlich wieder dem Regelwerk beigemessen wird. Nun denn: Merker am Ort – fahren wir fort!
Etwas mehr in die Tiefe geht da schon Nina Pauer, die sich in der ZEIT der Frage widmet, wie der Erfolg dieses für sie todlangweiligen Sadomaso-Softpornos zu erklären sei, und dabei durchaus erwägenswerte Überlegungen anstellt – Sex sei wieder zu einer Utopie geworden, und das Erlebnis des Moments, das Gefühl der Hingabe und Zweisamkeit realisiere sich für das Protagonistenpaar erst in einem „Kosmos aus Codes und Regeln“, innerhalb eines ausgefeilten Vertragswerks, welches das Verkehren miteinander auf geschlechtlicher Grundlage regle.
Also so ähnlich wie in Richard Wagners „Tristan und Isolde“ erst durch den Liebestrank die Titelhelden sich einander zu offenbaren vermögen, nur eben hier mit Paragraphen und Handschellen?
„Wie sich die Herzen
wogend erheben,
wie alle Sinne
wonnig erbeben!
Sehnender Minne
schwellendes Blühen,
schmachtender Liebe
seliges Glühen!
Jach in der Brust
jauchzende Lust!
Isolde! Tristan!
Welten-entronnen,
du mir gewonnen!
Du mir einzig bewußt,
höchste Liebeslust!“
Eine Entgrenzung der Sinne und der Ich-Erfahrung, das Verschmelzen zu einer höheren Einheit, aber ohne Preisgabe der Individualität im negativen Sinne?
„Ohne Nennen,
ohne Trennen,
neu Erkennen,
neu Entbrennen;
endlos ewig
ein-bewußt:
heiß erglühter Brust,
höchste Liebeslust!“
Am Ende gar das Aufgehen im Weltganzen, welches das Unbewußte als Form neuer, niegekannter Bewußtheit definiert?
„In dem wogenden Schwall,
in dem tönenden Schall,
in des Welt-Atems
wehendem All –,
ertrinken,
versinken –,
unbewußt –,
höchste Lust!“
O Wonne voller Tücke! O truggeweihtes Glücke! Rette Dich, Tristan – nichts von all´ dem ist hier der Fall! Das Ganze erweist sich, so Nina Pauer, letztlich als literarischer Müll – in „einem unerträglich mädchenhaften Tagebuchstil à la Bridget Jones“ verfaßt.
Zumindest Julika Griem in der FAZ bemüht sich, bei aller Distanziertheit, die sich in ihrer Feststellung bezüglich des kommerziellen Erfolges von „Fifty Shades of Grey“ ausdrückt, mit „Englishness“ lasse sich eben im auch von den Fan-Imperien der Jane-Austen-Anhängerinnen sowie der Leserinnen von Vampirgeschichten durchzogenen transatlantischen Kräftefeld weiterhin so mancher Lust- und Distinktionsgewinn erzielen, hier und da durchschimmern zu lassen, daß man den intertextuellen Aspekten der Trilogie vielleicht doch etwas mehr Aufmerksamkeit schenken sollte, und daß sich, rekurrierend auf Eva Illouz, die Geschichte von Ana und Christian nicht allein als Symptom, sondern auch als Analyse eines solchen – soziologischer Natur! – lesen lasse.
Ich habe „Fifty Shades of Grey“ bis heute nicht gelesen – will sagen: Ich habe es noch keiner buchstabengenauen Lektüre unterzogen. Ob ich mir eine solche jemals vornehmen werde, ist fraglich – eine detaillierte Studie zur Trilogie plane ich derzeit nicht zu schreiben. Um aber einen kleinen Zwischenruf zu tun wider die vorschnelle Aburteilung dieser drei Bände als, wie es der ansonsten von mir sehr geschätzte Denis Scheck tat, Schrottprosa zwischen zwei oder besser sechs Buchdeckeln, schien mir ein kursorischer Durchgang, ein allgemeines Abklopfen hin auf Rhythmus, Stil, leitmotivisch wiederkehrende Begriffe sowie literarische und musikalische Anspielungen durchaus gerechtfertigt – wenn man den Daumen, zumal angesichts eines Übermaßes von negativer Kritik, eher zu heben denn zu senken geneigt ist, dann scheint mir dies durchaus erlaubt. Ich habe mich dabei vor allem auf den ersten Band konzentriert, da er mir in literarischer Hinsicht mit am ergiebigsten erschien.
Freilich: Verrisse schreiben sich leichter – bedürfen meines Erachtens aber auch sorgfältigerer Abwägung. Als Marcel Reich-Ranicki „Ein weites Feld“ von Günter Grass in die Tonne trat, konnte man zumindest sicher sein, daß er seinen Grass und seinen Fontane wirklich intus hatte, auch wenn man selber zu einer anders gearteten Wertung zu tendieren geneigt sich erwies.
Womöglich fehlt mir aber doch eine wichtige Voraussetzung? Anders als Denis Scheck verfüge ich über keinerlei Kenntnisse italienischer Pornohefte – somit dürfte ich gewiss nicht hundertprozentig kompetent sein, um den Sachverhalt beurteilen zu können, ob sich in denselben tatsächlich mehr Prosa fände denn in der „Steinzeit-Prosa“ von E. L. James – aber andererseits ist doch „Steinzeit-Prosa“ auch eine Form von Prosa? Es gibt aber offenbar nicht nur einhändige Lektüren (diese Anspielung verstehe ich übrigens nicht!) – es gibt auch Formen einhändiger Literaturkritik, auch bei den besten Leuten (diese Anspielung sei mir gestattet, wiewohl es mir am Verständnis für die Grundanspielung eingestandenermaßen mangelte!)!
Ich jedenfalls habe mich lieber mit der Versdramatik Gerhart Hauptmanns befaßt – und dessen „Kaiser Karls Geisel“ sowie dessen „Veland“, den der Dichter der „Weber“ in einem noch unveröffentlichten Brief an Heinrich George anläßlich der Berliner Aufführung dieser altnordischen Rachetragödie im Jahre 1942 als sein dramatisches Hauptwerk bezeichnete, beinhalten mehr SM, Bondage, Unterwerfung und Abgründe als alles, was im Zusammenhang mit „Fifty Shades of Grey“ angeführt wurde und werden letztlich nur von Kleist übertroffen.
Das Hauptproblem, welches gewisse Leute mit E. L. James haben, scheint mir – und ich scheue mich nicht, diese banale, aber leider wahre Feststellung laut und deutlich und weithin hallend vernehmbar auszusprechen! – ihr Erfolg zu sein. Jemand, der sein Werk als Twilight-Fan-Fiction begonnen und bei einem australischen Kleinverleger drucken lassen hat und dann binnen kürzester Zeit weltweit über 30 Millionen Exemplare verkaufte: So jemand darf einfach kein Niveau haben!
Die Autorin gebe Sadomaso- und Bondage-Praktiken fehlerhaft wieder? Schön zu sehen, wie viele Experten hierfür in den Redaktionen sitzen – aber andererseits liegt Böhmen bei Shakespeare bekanntlich auch am Meer!
Ihr mangele es an metaphorischer Begabung? Daß sie eine solche unter Beweis zu stellen beabsichtigte, ist mir nicht aufgefallen – interessanterweise wird zumindest in Kreisen nichtprofessioneller Literaturkritik (Amazonkundenbewertungen, youtube-Kommentare) meines Erachtens zurecht betont, daß gerade ihr Verzicht auf metaphorische Umschreibungen sexueller Aktionen, welche die Lektüre anderer Werke aus diesem Bereich so unangenehm machten, einer ihrer nicht unerheblichen Vorzüge sei; und dies auch von Leserinnen und Lesern, die dem Ganzen auch eher skeptisch gegenüberstehen. Beim Durchblättern stellte sich bei mir ein vergleichbarer Eindruck ein.
Ein Vorzug ist zudem darin zu sehen, daß E. L. James auf im eigentlichen Sinne obszöne und pornographische Begriffe und Formulierungen verzichtet – einigen Quellen zufolge soll hier die deutsche Übersetzung etwas direkter ausgefallen sein; aufgefallen ist mir das nicht.
Die Prosa von E. L. James verfügt nicht über das ästhetische Reflexionsniveau Marcel Prousts oder Thomas Manns – gut, aber das hat meines Wissens auch niemand behauptet, weder ernstlich, noch im Scherz. Niemand hat die Absicht, ihr den Literaturnobelpreis zu verleihen, und besonderes sprachliches Niveau ist in unserer möglichst degetokompatiblen deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, wie sie insbesondere von den Vertretern des Dilettantenstadls vom Wörthersee produziert wird, überdies ohnehin nur selten zu erwarten – erinnert sei an die Feststellung von Michael Lentz, bei der Lektüre Thomas Manns verspüre man wieder einmal die Verpflichtung, wirklich hart an der Sprache zu arbeiten: Also nicht „hart ficken“, sondern „hart an der Sprache arbeiten“ – kein kleiner, wohl aber ein feiner Unterschied!
Hinter Bret Easton Ellis, Nicholson Baker oder Michel Houellebecq braucht sich E. L. James kaum zu verstecken – diese Autoren treten intellektueller auf, erweisen sich aber aufgrund ihres von ihnen selten eingehaltenen hohen Anspruchs als der etwas zurückhaltender auftretenden Kollegin ästhetisch nur geringfügig überlegen.
„Fifty Shades of Grey“ strahlt womöglich nicht jene gefährliche Faszination aus, jene „Wollust der Hölle“, welche für Friedrich Nietzsche in „Ecce homo“ das Besondere des „Tristan“ ausmachte; eine gleichermaßen schauerliche wie süße Unendlichkeit von „fünfzig Welten fremder Entzückungen“ – oder vielleicht doch?
Welche Bilder ein Werk der Literatur, welchen Ranges auch immer, in der jeweiligen Leserin oder im jeweiligen Leser entstehen läßt, welche Emotionen es hervorruft und welche Gedanken es in Gang setzt, läßt sich kaum ermitteln – das ist der Bereich des gemeinhin Subjektiven. Ein paar objektivierbare Aspekte der „Fifty Shades of Grey“ wollen wir uns aber im Folgenden vor Augen führen.
Gemäß dem Ausspruch von Karl Kraus, ein Feuilleton zu schreiben bedeute, auf einer Glatze Locken zu drehen, ist das Gebiet der Intertextualität ein bevorzugtes Feld für Feuilletonisten zum Ondulieren, also wenn es darum geht, auch noch die erbärmlichsten Produkte den selbsternannten und selbstverliebten „happy few“ schmackhaft zu machen. Warum dann diese merkwürdige Ungleichbehandlung im Bezug auf „Fifty Shades of Grey“? Pardon – die Frage war naturgemäß (ich könnte natürlich auch einfach nur „natürlich“ schreiben, aber ich will ja zeigen, daß ich Thomas Bernhard gelesen habe – deswegen schreibe ich „naturgemäß“!) rein rhetorischer Natur.
Einer der wichtigsten intertextuellen Bezugspunkte ist Thomas Hardys „Tess of the D’Urbervilles“ – von Ina Hartwig auf einen „Klassiker der sexuellen Unterwerfung“ reduziert, von Julika Griem hingegen etwas genauer ins Visier genommen. Eine adäquate Auseinandersetzung mit „Fifty Shades of Grey“, fernab aller Pauschalverdammungen à la „Softporno“ (Nebenbei: Wäre es denn besser, wenn es sich hierbei um einen „Hardcoreporno“ handelte? Ich mag jedenfalls beides nicht – ich mag lieber Texte voller subtiler intertextueller Anspielungen!), müßte diesem Beziehungsgeflecht, wie es ja auch in einigen Gesprächen zwischen Ana und ihrer Freundin Kate sowie Ana und Christian thematisiert wird, konsequent nachspüren. In den späteren Bänden scheint Charlotte Brontë mit ihrer „Jane Eyre“ stärker ihr Recht zu fordern; hier gilt ein gleiches.
Das lesefaule deutschsprachige Feuilleton sucht bis heute seine vorgebliche Souveränität immer wieder durch Bezugnahme auf den „Blade Runner“ unter Beweis zu stellen, scheint aber immer noch nicht allzu viel von „Do Androids dream of electric Sheep?“ zu wissen: E. L. James hingegen ist kein Vorwurf zu machen, wenn sie es bei filmischen Anspielungen beläßt – neben dem Androidenjäger wird auch auf „Stepford-Blondinen“ rekurriert, um die Emotionslosigkeit und Gefühlskälte unserer Gegenwart anzudeuten.
Ein weiterer Aspekt, den es zu bedenken gäbe, wäre in der Problematik der Rollenprosa zu sehen. „Fifty Shades of Grey“ ist aus der Perspektive der Anastasia Steele geschrieben, größtenteils im Präsens. Wie es aussieht, scheint die Autorin durchaus ein Konzept mit der offenkundigen Diskrepanz zwischen der außergewöhnlichen Belesenheit ihrer Heldin (von Shakespeare über Jane Austen und alle großen Viktorianer bis hin zu Henry James und F. Scott Fitzgerald!) und ihrer Rolle als Naivchen verfolgt zu haben – durchaus korrespondierend mit ihrer einfachen, bisweilen saloppen, nie aber primitiven oder gar vulgären Ausdrucksweise. Inwiefern dieses Konzept über drei dicke Bände hinweg tragfähig ist und auch durchgehalten wird, oder auch Schwachstellen und Leerläufe aufweist, müßte herausgearbeitet werden.
Das gilt auch für die Lieblingsallegorien der Ich-Erzählerin – ihr „Unterbewußtsein“ (so etwas wie ihre Ratio) und ihre „innere Göttin“ (so etwas wie ihr Gefühlsleben). Beide provozierten heftige Kritik – „Pseudo-Esoterik“ sei die letztere, wohingegen ersteres von einem Unverständnis der Freudschen Terminologie zeuge. Ich weiß nicht recht – können beide nicht einfach für sich selbst stehen, ohne auf einen wie auch immer gearteten Überbau zu verweisen? Ein Manierismus – nichts mehr, nichts weniger, vielleicht aber durchaus originell? Auf jeden Fall zählen die Stellen, da wir über beider jüngste Machenschaften informiert werden – und was die beiden so mit- oder besser gesagt: Gegeneinander treiben, das hat es wirklich in sich! – , für mich zu den witzigsten der Trilogie: Unfreiwillig komisch ist das keineswegs. Im übrigen war mancher Kritiker auch nicht gerade glücklich über die Personalisationen „ER-Halm“ und „ICH-Halm“ in Martin Walsers „Brandung“.
Wie schon gesagt, scheint mir der erste Band der literarisch ergiebigste zu sein. Das Thema der vertraglich geregelten sexuellen Unterwerfung, dabei das der sich vertiefenden Liebe Anas zu Christian, ihrer Bemühungen, die eigene Unabhängigkeit zu bewahren, und schließlich ihrer Trennung von Christian, den sie gleichwohl weiterhin liebt – dies alles wird geradlinig und konsequent entwickelt. Umschweife gibt es nicht, wohl aber so manche Andeutungen und dunkle Ecken: Die Mutmaßungen über Christians Vergangenheit und die Frage, warum er sich einerseits zum Kämpfer gegen den Hunger in der Welt, andererseits zum Kontrollfreak entwickelte.
Das alles wird von der Autorin durchaus kunstvoll in der Schwebe gehalten und weist einiges an Potential zu einer wirklich großen Liebesgeschichte auf – leider fasert das in den Folgebänden immer stärker auf. Nebenhandlungen, die mit der Kernproblematik nichts zu tun haben, strecken die Geschichte unnötig, und mit der Aufklärung von Christians Vergangenheit wird einiges vom möglichen atmosphärischen Zauber des ersten Teils zunichte gemacht. Ein paar Rückblenden und Perspektivwechsel lassen die Geradlinigkeit des ersten Teils zugunsten einer gemäßigten Form von Modernität hinter sich, die heute schon zum Standardrepertoir eines jeden Serienkiller-Thrillerautors sowie Stephen Kings zählt, den das Feuilleton in deutschen Landen heutzutage hofiert, früher aber – wie auch anders? – ignorierte, und die gegenüber traditionelleren Ansätzen mittlerweile merkwürdig abgestanden und reizlos wirkt.
Ferner sollte dem Motiv des Ikarus mehr Beachtung geschenkt werden – zumindest im ersten Band stellt er vielleicht die wichtigste mythologische Identifikationsfigur für Ana dar. Sie sieht sich quasi als weiblichen Ikarus, dessen Sonne Christian ist. Er zieht sie an, aber sie versucht gleichwohl, darauf zu achten, daß er das Wachs ihrer Flügel nicht zum Schmelzen bringe. Dies erfahren wir aus ihren Reflexionen, und einmal erwähnt sie es auch im Gespräch mit ihm. Ihr ist es darum zu tun, am Leben zu bleiben, und nicht, wie es Herbert Hinterleithner in seinem „Ikarus“ aus den „südlichen Terzinen“ formuliert, der Schwere singend vergessen „mit entzündetem Gefieder“ von den Höhen ihrer Seligkeit als „Fackel in kristallne Meere“ niederzustürzen.
Auch fällt der Begriff der Erlösung im Zusammenhang mit Beschreibungen des Geschlechtsaktes auf; so, als sollte hier über die Darstellung des Strebens nach bloß sexueller Erfüllung hinaus der Bereich der Transzendenz mitangesprochen werden – blind tastet der Mensch im Sinnentaumel nach dem Göttlichen.
Letztlich erweist sich „Fifty Shades of Grey“, und das ist keine negative Kritik, als eine insgesamt eher viktorianische Angelegenheit – mehr noch: Als Transposition eines dreibändigen viktorianischen Romans ins frühe 21. Jahrhundert, in die Welt der iPods, BlackBerrys und Smartphones; in eine Welt fast ohne sexuelle Tabus, deren Bewohner durch ihr gleichermaßen verzweifeltes wie hemmungsloses Streben nach immer ausgefalleneren Formen sexueller Ekstase letztlich auch nur das Streben nach Erlösung von irdischen Zwängen offenbaren. Jenseits von Helikoptern, Penthäusern, Kabelbindern, Kreppbändern, Floggern und Safewords schimmert nicht allein das Ideal der bürgerlichen Ehe hindurch, die Ana und Christian am Ende zuteil wird, sondern zugleich auch die Idee der reinen, wahren, ewigen Liebe – und das ist wahrlich ein guter Gedanke und eine erfreuliche Botschaft! Wie drückt es Brünnhilde in einer verworfenen Fassung des Schlusses der „Götterdämmerung“ aus?
„Nicht Gut, nicht Gold,
noch göttliche Pracht;
nicht Haus, nicht Hof
noch herrlicher Prunk:
nicht trüber Verträge
trügender Bund,
noch heuchelnder Sitte
hartes Gesetz:
selig in Lust und Leid
läßt – die L i e b e nur sein.“
Ein handwerklicher Einwand aber sei mir zum Schluß noch gestattet: Auf den ersten ein- , zweihundert Seiten schreibt Ana sinngemäß, ihre innere Göttin habe an sich Cheerleader-Qualitäten entdeckt. An wesentlich späterer Stelle wird der Begriff des Cheerleaders im Zusammenhang mit Anas innerer Göttin noch einmal aufgegriffen. Für meinen Geschmack hätte hier etwas deutlicher werden sollen, daß der Begriff schon einmal gefallen ist und hier quasi bestätigt oder vertieft wird. Aber auch dies ist zunächst nur eine rein subjektive Position – eine allererste persönliche Stellungnahme.
Deutschsprachige Ausgaben:
Shades of Grey 01 – Geheimes Verlangen, Übersetzung: Andrea Brandl und Sonja Hauser, Goldmann Verlag, München 2012, ISBN 978-3-442-47895-8
Shades of Grey 02 – Gefährliche Liebe, Übersetzung: Andrea Brandl und Sonja Hauser, Goldmann Verlag, München 2012, ISBN 978-3-442-47896-5
Shades of Grey 03 – Befreite Lust, Übersetzung: Andrea Brandl und Sonja Hauser, Goldmann Verlag, München 2012, ISBN 978-3-442-47897-2
Filed under: Alexander Martin Pfleger, Bücher, Heftroman, Krimis, Leihbücher, Rezensionen | Schlagwörter: Leihbücher
Herbert Kalbitz und Dieter Kästner haben eine illustrierte Bibliographie des Kriminalleihbuchs erstellt und bei ACHILLA PRESSE veröffentlicht.
http://www.amazon.de/Illustrierte-Bibliographie-Leihb%C3%BCcher-1946-1976-Kriminalleihb%C3%BCcher/dp/3940350222/ref=sr_1_1?s=books&ie=UTF8&qid=1413805557&sr=1-1&keywords=Herbert+Kalbitz
Das Medium des Leihbuchs stellt heutzutage fast nur noch das Betätigungsfeld weniger Spezialisten dar. Sieht man von den Arbeiten Jörg Weigands ab, erfuhr es kaum eine nennenswerte Würdigung als Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen
Das Andenken dieser mittlerweile untergegangenen Publikationsform, der Hans-Ulrich Treichel in seinem Romanerstling „Der Verlorene“ (1998) ein Denkmal setzte, bewahrt bis heute eine, wie man überrascht und erfreut vernimmt, deutlich im Steigen begriffene Anzahl spezieller Sammler und Liebhaber.
Doch was ist überhaupt ein Leihbuch? Wie das romantische Kunstlied und der Heftroman stellt das Leihbuch im eigentlichen Sinne ein Phänomen dar, das in seiner spezifischen Ausformung letztlich auf den deutschen Sprachraum beschränkt blieb. Bezeichnet werden mit diesem Begriff Bücher, die speziell zum Vertrieb durch gewerbliche Leihbüchereien hergestellt wurden. Seine Ursprünge reichen weit bis ins 19. Jahrhundert zurück, doch das „goldene Zeitalter“ des Leihbuchs dürfte zweifelsohne der Zeitraum unmittelbar vom Ende des Zweiten Weltkriegs an bis etwa zur Mitte der 1960er Jahre gewesen sein, als in der Bundesrepublik Deutschland, Österreich und der Schweiz etwas über zwei Jahrzehnte hin eine große Anzahl von Verlagen florierte, die sich ausschließlich der Produktion von Leihbüchern widmeten. Die Entwicklung geriet spätestens ab Ende der 1960er Jahre sichtlich ins Stocken, und mit einem Reprint eines Westernleihbuchs im Jahre 1979 dürfte die Geschichte des Leihbuchs ihr Ende gefunden haben.
Das Leihbuch war, wie der Name bereits suggeriert, für den gewerblichen Verleih bestimmt und mußte daher über eine gewisse Robustheit verfügen. Es handelte sich dabei vorwiegend um Hardcover, zwecks Transporterleichterung in genormtem Format – 18 cm hoch, 12,5 cm breit, ca. 4 cm dick, was einer durchnittlichen Seitenzahl von 250 oder auch mehr entsprach – hergestellt, auf besonders dickem, vergleichbar den US-amerkanischen „Pulps“ stark holzhaltigem und daher besonders widerstandsfähigem Papier gedruckt, zumeist mit knallbunten, schreienden Titelbildern geschmückt und zum Schutz vor allzu schneller Abnutzung und Verschmutzung in eine durchsichtige Plastikfolie aus der Untergattung Supronyl gehüllt, was zu der überaus sinnreichen Koseform „Supronyl-Schwarte(n)“ führte.
Inhaltlich deckten die Leihbücher sämtliche Genres der Unterhaltungsliteratur ab. Die durchschnittliche Auflagenhöhe eines Leihbuchs belief sich auf 2000 Exemplare; nur selten brachten es einige wenige „Starautoren“ wie der deutschsprachige Western-Klassiker G. F. Unger auf eine Anzahl von 5000 bis zu 7000 Exemplaren.
Wiewohl sich auch immer wieder literarische Klassiker á la „Die drei Musketiere“ oder „Der Glöckner von Notre-Dame“ in die Reihen der Leihbuchverlage „verirrten“, galt das Leihbuch gleichwohl lange Zeit mit als die verachtetste Form der Trivialliteratur überhaupt, noch unter dem Romanheft rangierend, vornehm als „billiges Lesefutter“ tituliert, etwas weniger zurückhaltend als „unterster Schund“ diffamiert.
Daß solcherlei Vorurteile und Vorverurteilungen ebensowenig über die tatsächliche Qualität des hier Gebotenen aussagen, wie der von Leihbuchfreunden oftmals vorgebrachte Hinweis auf die zumeist aus abwegigsten Beweggründen vorgenommenen Indizierungen von Titeln aus dem Leihbuchsektor durch die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften – man spricht hierbei auch gerne von einer „Hexenjagd“ – ein Indiz für das generelle Vorhandensein subversiver Subtexte im Supronylgewand darstellt, versteht sich von selbst.
Gleichwohl bleibt der Makel an Feuilleton und Fachgermanistik haften, daß beide eine Reihe literarisch hochwertiger Autoren erst langsam zur Kenntnis zu nehmen begannen, als deren Werke in Verlagen wie Suhrkamp oder Diogenes zu erscheinen begonnen hatten, nicht jedoch zu einem wesentlich früheren Zeitpunkt, als man sie in deutscher Sprache nur in Form von Leihbüchern oder Romanheften zu rezipieren vermochte – stellvertretend seien hier aus den Bereichen der Science Fiction wie der Kriminalliteratur Namen wie Stanislaw Lem, Ray Bradbury, Brian Wilson Aldiss, Philip Kindred Dick, James Graham Ballard, Dashiell Hammett, Raymond Chandler, Cornell Woolrich oder Margery Allingham genannt. Auch sei daran erinnert, daß man mancherorts Warnrufe bezüglich des vermeintlich vor seinem Untergange befindlichen Abendlandes – wobei natürlich erwähnt werden muß, daß bekanntlich die Wenigsten wußten und wissen, worauf Oswald Spengler tatsächlich mit dieser Begriffsbildung hinauswollte! – zu vernehmen vermochte, als Mitte der 1990er Jahre der Rotbuch Verlag eine sorgfältig edierte Neuausgabe der „Mike Hammer“-Romane von Mickey Spillane startete, dessen deutschsprachige Erstausgaben im Leihbuchformat im Amselverlag „sämtlich dem Bannstrahl der Bundesprüfstelle zum Opfer fielen“ (Jörg Weigand im Vorwort, S. 8), weswegen sich später Heyne und Ullstein bevorzugt auf entschärfte und gekürzte Versionen stützten.
Mit Herbert Kalbitz, seit rund einem Vierteljahrhundert Vorsitzender des „Jerry Cotton Clubs Deutschland“ und Betreiber des Aufbaus einer „Zentralkartei für Leihbücher“, die bislang ca. 33000 Datensätze umfaßt, und Dieter Kästner, Autor einer vielbeachteten „Bibliographie der Kriminalerzählungen 1948 – 2000“ (erschienen 2001 im Baskerville Verlag, Köln-Sulz), haben sich nun zwei Koryphäen auf dem Gebiet der Kriminalliteratur wie der Leihbuchforschung – der Begriff ist in diesem Zusammenhang absolut angemessen! – an die herkulische Aufgabe gemacht, die Kriminalliteratur im Leihbuchsektor bibliographisch zu erfassen.
Dabei galt es nicht allein, die tatsächlich vorhandene Anzahl von Leihbüchern im Privatbesitz der beiden Autoren oder befreundeter Sammlerkollegen (nicht zuletzt aus dem Umfeld des von Herbert Kalbitz seit gut zwei Jahrzehnten organisierten „Offenbacher Leihbuch-Symposions“!) zu sichten und auf ihre Genrezugehörigkeit hin zu prüfen – vielfach war es notwendig, die schiere Existenz bestimmter Leihbücher nachzuweisen: Neben einigen marktführenden Verlagen waren im Leihbuchbereich auch viele Klein- und Kleinstunternehmer tätig, deren Läden (gleichermaßen wortwörtlich wie metaphorisch zu lesen!) aus wirtschaftlichen Gründen vielfach bereits schlossen, noch bevor die Deutsche Bibliothek ihre Pflichtexemplare einzutreiben im Stande war – einer von vielen Gründen, weshalb der Gesamtkomplex der Leihbücher bis heute nur unzureichend bibliographisch erfaßt und erst recht in Bibliotheken kaum greifbar ist. Von vielen Leihbüchern ist bis heute unbekannt, ob sie überhaupt je erschienen oder nur vom Verlag angekündigt wurden. In manchen Fällen bestand der einzige Hinweis auf ihre Existenz aus dem bei der Bundesprüfstelle eingegangenen Indizierungsantrag. Auch wurde nicht jedes Buch indiziert, dessen Indizierung man beantragte!
In jahrzehntelanger Kleinarbeit, ohne staatliche Fördermittel, allein aus der eigenen Tasche finanziert, ermittelten Kalbitz und Kästner nicht nur die Zugehörigkeit oder Nicht-Zugehörigkeit eines einzelnen Titels zum Krimi-Genre, sondern erforschten komplette Verlagsprogramme und –geschichten, knackten zahlreiche Pseudonyme und eruierten so manche publikationsgeschichtliche Anekdote.
Dem Interessierten bietet das vorliegende Werk nun die Möglichkeit, nach unterschiedlichsten Kriterien das Gewünschte zu finden – gleichgültig, ob man bei seiner Suche nach Autorennamen, (Verlags-)Pseudonymen, Serienheldennamen, Verlagen oder Verlagsreihen vorgeht. Auch haben Kalbitz und Kästner ihren künftigen bibliographischen Projekten zur Abenteuerliteratur, zum Westerngenre oder verschiedenen kleineren Genres, die für die kommenden Bände ihrer Leihbuchbibliographie geplant sind, bereits deutlich vorgegriffen, indem sie bei jedem behandelten Autor auch gleich sein restliches Schaffen im Leihbuchbereich, freilich aus anderen Genres, mitverzeichneten. So wurde aus einem Hobby – Wissenschaft!
Nach der erweiterten Neuausgabe von Robert N. Blochs „Bibliographie der Utopie und Phantastik 1650–1950 im deutschen Sprachraum“ sowie des Verlegers Mirko Schädel unter Mitwirkung von Robert N. Bloch erstellter „Illustrierten Bibliographie der Kriminalliteratur im deutschen Sprachraum von 1796 bis 1945“ liegt mit dem Auftaktband der Leihbuchbibliographie von Herbert Kalbitz und Dieter Kästner im 1990 gegründeten Verlag ACHILLA PRESSE, der bereits mehrfach durch spektakuläre Neu- oder Erstveröffentlichungen deutsch- und fremdsprachiger Kriminalliteratur und Phantastik (Joseph Sheridan Le Fanu, Wilkie Collins, Herman Melville, Robert Louis Stevenson, Fenimore James Cooper, Charles Brockden Brown, Mary Wollstonecraft und Percy Bysshe Shelley, Edgar Allan Poe, Victor Hugo) sowie die Förderung verschiedener junger Talente (Johanna Moosdorf, Katharina Höcker, Anna Katharina Hahn) oder die Pflege moderner Klassiker (Sherwood Anderson, Boris Vian, Hubert Selby) Aufsehen und positive Resonanz erregte, ein weiteres bibliographisches Werk vor, mit dem bereits Maßstäbe gesetzt werden konnten.
http://www.achilla-presse.de/6-0-Buchhandlung.html
Es ist nun Sache einer geistig aufgeschlossenen, sich von ihren ideologischen Erstarrungen langsam freikämpfenden Literaturwissenschaft, das hiermit gemachte Angebot nicht als hingeworfenen Fehdehandschuh zu betrachten, sondern als Ansporn für fundierte Forschungsarbeit in literarhistorischer „terra incognita“ zu werten – und nach Möglichkeit auch zu nutzen! Die Rechnung für eine solche Unternehmung wird von einer dankbaren Leserschaft gewiß nicht mit Blei entlohnt werden!
Herbert Kalbitz / Dieter Kästner:
Illustrierte Bibliographie der Leihbücher 1946 – 1976
Teil 1: Kriminalleihbücher
500 Seiten, EUR 69.00
Achilla Presse, Stollhamm-Butjadingen 2013
ISBN: 978–3–940350–22–0
Und für alle, bei denen die Lektüre dieser Rezension ein Interesse am Leihbuch sowie einer vertieften Beschäftigung mit demselben zu entfachen vermochte, sei noch das Standardwerk (man beachte bitte die raffinierte Anspielung hierauf im Titel dieser Rezension!) von Jörg Weigand empfohlen, der, wie schon erwähnt, zur Leihbuchbibliographie von Herbert Kalbitz und Dieter Kästner ein Vorwort beisteuerte:
Jörg Weigand:
Träume auf dickem Papier. Das Leihbuch nach 1945 – ein Stück Buchgeschichte
168 Seiten, EUR ca. 20.00
Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2005
ISBN: 3-7890-3866
Filed under: Alexander Martin Pfleger, Nazi, Politik & Geschichte, Rezensionen | Schlagwörter: heydrich, Nazis, Robert Gerwarth
„Tristan, der Held, in jubelnder Kraft“
Robert Gerwarths Biographie über den kunstsinnigen Henker von Prag
von Alexander Martin Pfleger
Durch seinen frühen Tod in mythische Dimensionen entrückt, genießt Reinhard Heydrich bis heute in rechten Kreisen den Ruf eines „Jung-Siegfried des Dritten Reichs“, der, wiewohl nicht einmal zur eigentlichen NS-Führungsriege zählend, wäre ihm durch die Vorsehung ein zwar nicht tausendjähriges, aber immerhin ein paar Jahre längeres Dasein zugewiesen worden, die Endlösung der Judenfrage lückenlos durchgeführt und womöglich gar den Zweiten Weltkrieg zugunsten Hitlerdeutschlands entschieden hätte.
Der vielleicht fanatischste Verfechter der Reinheit des Blutes, dessen Fanatismus man lange Zeit in der Furcht vor der Enthüllung seiner mutmaßlich jüdischen Abstammung begründet sah und der – Ironie der Geschichte! – an einer Blutvergiftung starb, beschäftigte in den 70 Jahren, die seit seinem Dahinscheiden verflossen, die Phantasie von Schriftstellern und Filmemachern – von Heinrich Mann über Fritz Lang und Douglas Sirk bis hin zu Philip K. Dick, Maj Sjöwall und Per Wahlöö und in jüngster Zeit Laurent Binet.
Eine wissenschaftlich fundierte Biographie über ihn lag indes bislang noch nicht vor, und bis in jüngster Zeit wußten sich zahlreiche gleichermaßen von Freund und Feind mitgestrickte Legenden, als vermeintliche Fakten selbst in seriösest sich gebender Fachliteratur zu behaupten. Robert Gerwarths Heydrichbiographie hebt daher geradezu zwangsläufig mit einer Art „Genealogie der Klischees“ an: Schritt für Schritt werden die gängigen Heydrichmythen als solche enttarnt und in ihrer Entstehungsgeschichte nachvollziehbar gestaltet.
Stilisierte „man“ – nicht zuletzt seine einstigen Untergebenen im Reichssicherheitshauptamt, die sich auf diese Weise erfolgreich moralisch zu entlasten vermochten – ihn unmittelbar nach 1945, in konsequenter Umkehr des von der NS-Propaganda intendierten Bildes vom unbeirrbaren Kämpfer und Übermenschen zur vielleicht „dämonischsten Figur“ des NS-Regimes und blonden Todesgott, der durch seine bloße Ausstrahlung alle in seinen Bann geschlagen und jeden Widerstand im Keim aufgrund seiner außergewöhnlichen Begabung, die Schwächen seiner Mitmenschen zu erkennen und den eigenen Machtinteressen nutzbar zu machen, erstickt habe, so folgte dieser personalisierten Deutung ab den 1960er Jahren ein mehr funktionalistischer Ansatz, der Heydrich als emotionslosen und kühl berechnenden Manager des industriellen Massenmords wertete.
Der besondere Rang und das Neuartige von Gerwarths Biographie liegt jedoch nicht in der letztlich banalen Feststellung begründet, dass Heydrich weder Dämon, noch reiner Bürokrat im landläufigen Sinne, sondern, in des Wortes schlimmster Bedeutung, ein Mensch in seinem Widerspruch gewesen war – vielmehr kristallisiert sich hier als entscheidender Aspekt das Faktum heraus, dass diese Lebensgeschichte letztlich jede Art von Zwangsläufigkeit zu entbehren scheint.
Wie wird ein Mensch zum Massenmörder? Daß sich diese Frage nicht beantworten läßt und daß man ihr bestenfalls auf dem Wege der Falsifikation näherzurücken vermag, demonstriert Gerwarth auf eindrucksvolle Weise am Beispiel Heydrichs. Ein „kranker Außenseiter“ und „Psychopath“ war er ebensowenig wie die meisten anderen ranghohen Nationalsozialisten, sondern kam wie diese aus der „Mitte der Gesellschaft“. Daß der Sohn eines Opernsängers und Komponisten schon früh durch die nationalistische und nicht bloß latent antisemitisch getönte Gesinnung eines „bildungsbeflissenen Kleinbürgertums“ geprägt war, prädestinierte ihn ebensowenig für seine spätere Rolle als zentraler Agent der Vernichtung wie sein zeitweiliges Engagement in paramilitärischen Verbänden zu Beginn der 1920er Jahre.
Auch daß sich sein Vater vehement und erfolgreich dagegen zur Wehr setzte, im öffentlichen Bewußtsein aufgrund des Namens „Süß“ seines Stiefvaters fälschlich als Jude zu gelten, kann den späteren Fanatismus nur bedingt erklären. Gewiß war auch Heydrich selbst eifrig während der 1930er Jahre nachzuweisen bemüht, daß er nichtjüdischer Abstammung sei, doch stellte auch dieses Bestreben, bei aller Brisanz, die diese Angelegenheit für sich beanspruchen durfte, letztlich nur einen Nebenstrang dar – allerdings einen Nebenstrang, aus dem sich posthum die Legende vom „dunklen Geheimnis“ des gefürchteten SD-Chefs konstruieren ließ, nämlich das seiner jüdischen Abstammung, das ihn, in wahnwitziger Übersteigerung des jüdischen Selbsthasses, im Laufe der Jahre radikalisiert und fanatisiert habe. Auch davon kann laut Gerwarth jedoch keine Rede sein, und es mutet überdies wie eine weitere Ironie der Geschichte an, daß ausgerechnet der jüdische Historiker Shlomo Aronson 1967 posthum den „Ariernachweis“ Heydrichs erbrachte – was jedoch Autoren wie Karl Dietrich Bracher und Joachim C. Fest nicht daran gehindert habe, in ihren Werken auch weiterhin vom Mythos des „Juden Heydrich“ verheißungsvoll zu raunen.
Zum Nationalsozialismus bekehrt haben dürfte Heydrich mit Sicherheit erst seine Verlobte und spätere Ehefrau Lina von Osten, die, glühende Nationalsozialistin, zunächst mit Befremden feststellen mußte, daß ihr Zukünftiger weder „Mein Kampf“ gelesen hatte, noch dessen Verfasser sowie Joseph Goebbels mit besonderem Respekt begegnete, sondern beide mit spöttischen Bemerkungen bedachte. Womöglich war die Aussicht auf beruflichen Erfolg und gesellschaftlichen Aufstieg innerhalb der nationalsozialistischen Bewegung nach dem unehrenhaften Scheitern seiner Marinelaufbahn, die letzte realistische Chance, die sich Heydrich zu bieten schien, seinem Leben zu einer soliden Grundlage zu verhelfen. So gelang es ihm, allein durch die Lektüre von Spionageromanen qualifiziert, als Himmlers rechte Hand einen Sicherheitsapparat von tödlicher Effizienz zu etablieren.
Daß Heydrich im Berliner Nachtleben regelmäßige Abstürze kultiviert habe, bei denen er bis zur Besinnungslosigkeit betrunken randalierte und zur allgemeinen Erheiterung anderer Kneipenbesucher, die ihn nicht erkannten, diesen mit dem KZ drohte, gehört laut Gerwarth ebenso ins Reich der Legende wie das Gerücht vom selbst von seinen Vorgesetzten gefürchteten, übereifrigen Beamten, der sogar über den Führer eine Akte mit möglicherweise belastendem Material angelegt habe – wohl aber vernichtete Heydrich nicht alle Dokumente, von denen man ihm dies befahl, sondern legte sich in der Tat geheime Reserven an, auf die sich, wie im Falle der Affäre „Fritsch-Blomberg“, wirkungssicher zurückgreifen ließ.
Auch fürchtete Himmler, wie vielfach kolportiert wurde, Heydrich keineswegs – Gerwarth attestiert beiden durchaus so etwas wie freundschaftliche Nähe. Gleichwohl sei Himmler vor allem erleichtert darüber gewesen, daß Heydrich ins Protektorat „Böhmen – Mähren“ abkommandiert werden sollte, da sich so seiner rechten Hand persönliche Nähe zu und mutmaßlicher Einfluß auf Adolf Hitler verringerte und wieder zu seinen eigenen Gunsten verschöbe.
In Prag bot Heydrich, der den fingierten Überfall auf den Sender Gleiwitz organisiert und die Wannsee-Konferenz geleitet hatte, ein Muster für spätere Klischeevorstellungen vom gebildeten Nazi, der einerseits Violine und Klavier spielte, bei Mozart und Wagner Tränen vergoß und privat historische Studien über Wallenstein betrieb, den er als Wahrer des Reichsgedankens würdigte, der aber andererseits durch all´ dies nicht daran gehindert wurde, zahllose Unschuldige ermorden zu lassen und sein bildungspolitisches Engagement bezüglich der tschechischen Bevölkerung darauf zu fokussieren, daß diese künftig lediglich über ausreichende Intelligenz verfügen mochte, den Befehlen eines Deutschen Gehorsam zu leisten.
Heydrichs Aufbauarbeit wurde durch die potentiellen Empfänger derartiger Wohltaten mit einem Attentat quittiert, das dieser weitgehend unverletzt überstand, doch einige Kunststofffasern seines Rücksitzes gelangten in seine Wunde und lösten eine Blutvergiftung aus, die knapp eine Woche später zu seinem Tod führte. Die Racheaktionen des Regimes, das nun über einen weiteren Märtyrer verfügte, ließ nicht lange auf sich warten und traf sowohl Tschechen, als auch Juden, die sich als eigentliche Drahtzieher des Anschlags dem deutschen Volke besser verkaufen ließen. Heydrich hatte ein gut bestelltes Haus hinterlassen – sein Tod hinterließ in der Vernichtungsmaschinerie des Dritten Reiches keine Lücke, die Endlösung konnte reibungslos weiterbetrieben werden, und da das Heldentum des rein juristisch gesehen als „braver Soldat“ gefallenen Reinhard Tristan Eugen Heydrich durch keine Verurteilung als Kriegsverbrecher geschmälert wurde, konnte seine hinterbliebene Lina erfolgreich die Zubilligung der Rente einer Generalswitwe für sich einklagen.
Gerwarth beschreibt sein Verfahren als „kalte Empathie“: Als Historiker sei er zur mit kritischer Distanz erfolgen müssender Rekonstruktion des Lebens seines Gegenstandes verpflichtet und dürfe nicht in die Rolle eines Anklägers verfallen, wenngleich die ohnehin für sich sprechenden Taten Heydrichs dies gewiß nicht leicht sich bewerkstelligen ließen. Durch die Verschränkung von „privater Lebensgeschichte“, „politischer Biographie“ und „Strukturgeschichte“ ist ihm ein gleicherweise faktengesättigtes wie auch fessendes Zeitgemälde geglückt, das, ohne je reißerisch zu wirken, auf anschauliche und eindringliche Weise „Handlungsmotivationen, Strukturen und Kontexte“ sinnfällig werden läßt.
Robert Gerwarth: Reinhard Heydrich. Biographie.
Übersetzt aus dem Englischen von Udo Rennert.
Siedler Verlag, München 2011.
479 Seiten, 29,99 EUR.
ISBN-13: 9783886808946
http://www.youtube.com/watch?v=h0HQnHmnNNM
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Ich habe wieder mal das Vergnügen, in diesem Blog einen Text der großen weißen Hoffnung der Germanistik zu präsentieren. Weitere sollen folgen!
Mann und Maus
Daniel Keyes´ „Blumen für Algernon“
von Alexander Martin Pfleger
Daniel Keyes´ „Blumen für Algernon“ zählt zu den wenigen Werken der US-amerikanischen Science Fiction, die bereits kurz nach ihrem Erscheinen auch außerhalb der engen Grenzen des Genres literarische Anerkennung fanden. Die 1959 erschienene Kurzgeschichtenfassung wurde mit dem Hugo Gernsback Award ausgezeichnet, die 1966 publizierte Romanversion brachte dem Autor einen Nebula Award ein – die beiden höchsten Ehrungen innerhalb des Science Fiction Genres. Im deutschen Sprachraum wurde der in mehrere Sprachen übersetzte erfolgreichste Roman des Literaturwissenschaftlers und Psychologen Keyes bereits in den 60er Jahren positiv in Kindlers Literatur Lexikon besprochen. Die Verfilmung von Robert Nelson unter dem Titel „Charly“ aus dem Jahr 1968 brachte dem Hauptdarsteller Cliff Robertson einen Oscar ein.
Erzählt wird die Geschichte des geistig zurückgebliebenen zweiundreißigjährigen Charlie Gordon, der als Hilfsarbeiter in einer Bäckerei arbeitet und aufgrund seines unbeugsamen Ehrgeizes zu lernen und intelligenter zu werden dazu ausersehen wird, an einem einzigartigen wissenschaftlichen Experiment teilnehmen zu dürfen. Durch eine Gehirnoperation wird seine Intelligenz sukzessive gesteigert – parallel zu ihm wird der gleiche Eingriff bei der Maus Algernon vorgenommen. Sowohl beim Mann als auch bei der Maus scheint der Versuch geglückt. Während Algernon immer komplexere Labortests spielend zu meistern weiß, erlernt Charlie binnen weniger Wochen mehrere Sprachen, entwickelt sich zu einem auf wissenschaftlichem wie künstlerischem Gebiet überdurchschnittlich gebildeten Menschen, verfaßt linguistische Untersuchungen, komponiert Klavierkonzerte und übernimmt schließlich selbst die Überwachung des Experiments. Seine Beobachtungen führen ihn allerdings zu dem Schluß, daß es letzten Endes scheitern werde – auf eine kurze intellektuelle Hochphase bei ihm und der Maus folgt unwillkürlich der Rückfall in Primitivität. Tatsächlich wird Algernon auf einmal aggressiver, findet sich nicht mehr in den Labyrinthen zurecht, durch die man ihn laufen läßt, um seine Intelligenz zu messen, und stirbt schließlich an Hirnerweichung. Auch Charlies Sturz ist unausweichlich – er verlernt alles, was er sich noch vor ein paar Monaten selbst beigebracht hatte, kann mit moderner Musik, die ihn besonders faszinierte, nichts mehr anfangen, und führt schließlich sein Zurücksinken auf das Niveau eines Schwachsinnigen darauf zurück, daß er sein Hufeisen und seine Hasenpfote verloren oder jemand den bösen Blick auf ihn geworfen habe. Am Ende bleibt ihm nichts weiter übrig, als sich in ein staatliches Pflegeheim zu begeben und eine Notiz zu hinterlassen, Blumen auf das Grab Algernons zu legen, den er in seinem Garten beerdigt hatte.
Der in Tagebuchform geschriebene Roman umfaßt einen Zeitraum von knapp 10 Monaten, von Anfang März bis Ende November eines nicht näher bestimmten Jahres. Er präsentiert sich dem Leser als chronologische Sammlung der fast täglich abgefaßten Fortschrittsberichte Charlies für seine behandelnden Ärzte. Auf diese Weise gelingt es dem Autor, den Leser das Geschehen quasi unmittelbar aus der Perspektive des Betroffenen miterleben zu lassen. Zu Beginn beherrscht Charlie nicht einmal die einfachsten Regeln der Orthographie, im Verlauf der Behandlung erlernt er jedoch sehr schnell die Gesetze der Interpunktion, sein Satzbau wird komplexer, sein Wortschatz reichhaltiger, seine Darstellungsweise differenzierter und selbstreflexiver. Mit dem Schwinden seiner geistigen Fähigkeiten gleichen sich seine späteren Eintragungen wieder dem Anfang an.
Besonders Keyes´ originelle stilistische Vorgehensweise trug zur Eindringlichkeit bei, mit der sich die dargestellten Ereignisse dem Leser präsentieren. Obgleich das psychologische Einfühlungsvermögen des Autors zurecht gerühmt wurde, offenbart der Roman dennoch einige Klischees in der Figurenzeichnung. Charlies in ausführlichen Rückblenden erzähltes Vorleben wird allzu schematisch auf Schlüsselerlebnisse reduziert, die seinen Ehrgeiz zu lernen oder seine anfängliche Scheu vor Frauen erklären sollen. Auch sind die Differenzen der ihn untersuchenden Wissenschaftler etwas überzeichnet, und die weiblichen Charaktere des Romans entsprechen zu sehr bestimmten Stereotypen – die vom Kindler als „mütterlich“ bezeichnete Sonderschullehrerin Alice Kinnian oder die ausgeflippte, weltoffene, aber auch oberflächliche und letztlich unzuverlässige Künstlerin Fay – , als daß sie tatsächlich zu überzeugen vermöchten. Überhaupt merkt man der besonderen Betonung der sexuellen Verschlossenheit Charlies, die sich zudem in Angstträumen und Wachhalluzinationen niederschlägt, doch sehr stark die Verhaftetheit des Romans in Grabenkämpfen der 50er und 60er Jahre an. Die vielfach lobend hervorgehobene Vertiefung der sozialen Aspekte in der Romanversion mutet in dieser Hinsicht durchaus unvorteilhaft gegenüber der Kurzgeschichtenfassung an.
Dennoch tangieren diese Einwände die Substabz des Werks nur peripher. Ein zentrales Motiv des Romans ist die Ungeduld, mit der insbesondere Erwachsene dem jungen Charlie in einer Phase begegnen, da etwas mehr Zeit, Anteilnahme und Zuwendung eine und wenn auch noch so geringe geistige Weiterentwicklung hätten ermöglichen können. Insbesondere hinsichtlich dieses konsequent entwickelten Motivs ist dem Autor ein Meisterstück subtil andeutender Charakterisierungskunst geglückt. Diesbezüglich läßt sich auch die Grundhaltung des Buchs gegenüber dem wissenschaftlichen Fortschritt sehr präzise erfassen – kein billiger Zukunftsoptimismus, auch keine unreflektierte Fortschrittsfeindlichkeit, wohl aber ein besonnener Hinweis darauf, nicht blind auf die Segnungen der Wissenschaft zu vertrauen, wo sich wahrhaftiges Menschentum und wahrhaftige Mitmenschlichkeit hätten behaupten müssen, aber kläglich versagten.
Die besondere Anziehungskraft von „Blumen für Algernon“ – in welcher Form auch immer – beruht aber letztlich auf der Vergegenwärtigung der Ohnmacht des Ich-Erzählers gegenüber Geschehnissen, die er zwar rational erfassen, nicht aber verhindern kann, und auf der geradezu alptraumhaft wirkenden Wiederkehr längst überwunden geglaubter Entwicklungsstufen. Charlie durchschaut auf seinem geistigen Höhepunkt die Unzulänglichkeit der an ihm und Algernon vorgenommenen Maßnahmen, erkennt, daß zu einem späteren Zeitpunkt eine tatsächliche Intelligenzsteigerung auf medizinischem Weg möglich sein könnte, weiß aber auch, daß er diese Entwicklung nicht mehr erleben wird. Dem Rückfall in die geistige Unterentwickeltheit seines früheren Lebens sieht er zunächst mit der Gefaßtheit eines tragischen Helden entgegen, der das Unabänderliche akzeptiert; im Laufe seines Herabsinkens bemüht er sich vergeblich darum, zumindest Teile seiner einmal errungenen Intelligenz zu bewahren, um schließlich am Endpunkt der Entwicklung die Geschehnisse überhaupt nicht mehr zu verstehen und auf Erklärungsmodelle aus dem Bereich des Aberglaubens zurückzugreifen.
Der Vorwurf, daß letztlich jede Science Fiction Erzählung zum Thema „Übermenschen“ daran scheitere, die Geschichte aus der Perspektive eines weit über dem Durchschnitt stehenden Protagonisten zu schildern, wurde auch Keyes vereinzelt gemacht, erweist sich aber bei genauerer Lektüre als unzutreffend. Keyes beschränkt seine stilistischen Experimente auf Charlies Schwachsinnsphasen; seine geistigen Höhenflüge werden hingegen lediglich angedeutet und sprachliche Exaltationen vermieden. Keyes´ Roman erscheint nicht allein deshalb geradezu zeitlos; eine Geschichte wie die Charlies ist gerade heutzutage, angesichts des rasanten Erstarkens längst überwunden geglaubter deterministischer und biologistischer Ansätze in erziehungs- und sozialpolitischen Fragen, wieder von beängstigender Aktualität.
Daniel Keyes:
Blumen für Algernon. Roman
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Eva-Maria Burger
Klett-Cotta, Stuttgart 2006
298 Seiten, 19.50 EUR
ISBN: 978-3-608-93782-4
3-608-93782-X
Filed under: Alexander Martin Pfleger, M.P.Shiel, Michael Moorcock, Porträt, Rezensionen, Science Fiction | Schlagwörter: Javier Marías, M.P.Shiel, SF
Es ist immer ein erhellendes Vergnügen, einen Text von Alexander Martin Pfleger zu lesen. Er gehört zu den besten und originellsten unter den jungen deutschen Literaturwissenschaftlern und verfügt über ein bemerkenswert breites Spektrum. Auf literaturkritik.de steht lapidar:
„Veröffentlichungen über Gerhart Hauptmann, Thomas Mann, Josef Weinheber, Ernst Jünger, Arno Breker und Alfred Elton van Vogt.
Forschungsschwerpunkte: Epigonale (oder besser gesagt: gemeinhin als epigonal angesehene) deutschsprachige Versdramatik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, NS-Literatur und Literatur der Inneren Emigration, kommerzielle Hörspiele, Trivialliteratur.“
Ich hatte bereits das Vergnügen, einen Text über Michael Moorcock in diesem Blog zu veröffentlichen. Hier nun schreibt er über einen der faszinierendsten Literaten des britischen Empires.
Der erste deutschsprachige Auswahlband einiger Erzählungen von Matthew Phipps Shiel
von Alexander Martin Pfleger
Matthew Phipps Shiel zählt hierzulande immer noch zu jenen Klassikern der angloamerikanischen Phantastik, deren Bedeutung sich mehr an der Anzahl ihrer Erwähnungen in Essays und Lexika zur phantastischen Literatur denn anhand ihrer deutschsprachigen Übersetzungen ablesen läßt. Zollten ihm zu Lebzeiten so unterschiedliche Autorinnen und Autoren wie Dorothy Sayers, Rebecca West, H. G. Wells, Arnold Bennett, E. F. Benson, L. P. Hartley, J. B. Priestley, Hugh Walpole, Dashiell Hammett, Lawrence Durrell oder H. P Lovecraft ihren Tribut, so fristete er bei uns seit seinem ersten Auftreten kaum mehr als ein Schattendasein. Ende der 1970er Jahre fand eine seiner bekanntesten Erzählungen, das Fragment „Xelucha“, Eingang in eine Reclamanthologie klassischer englischer Spukgeschichten. Anfang der 1980er Jahre, als es noch völlig undenkbar war, daß ein Titel aus diesem Bereich auch nur das minimalste feuilletonistische Interesse auf sich zu lenken vermöchte, wenn er unglücklicherweise außerhalb der „Phantastischen Bibliothek“ oder der „Hobbit Presse“ erschien, kam Shiels bekanntester Roman, die „Letzte-Mensch“-Geschichte „The Purple Cloud“, auf Grundlage der Originalfassung von 1902, mit einem detaillierten Nachwort des späteren SFWA-Präsidenten David G. Hartwell versehen, in der Übersetzung von Hans Maeter als Heyne Taschenbuch heraus. Erst in den 1990er Jahren erschien wieder eine Erzählung von ihm – die Titelstory des vorliegenden Bandes! – in einer Heyne-Anthologie.
Seine Präsenz im sekundären Sektor indes war dazu angetan, das Interesse an seinem Werk lebendig zu erhalten. In Rein A. Zondergelds „Lexikon der phantastischen Literatur“ konnte man von einer Vielzahl phantastischer Abenteuerromane und Erzählungen sprachlich barock-archaisierenden Zuschnitts lesen, die dem Enzyklopädisten zwar größtenteils künstlerisch mißglückt dünkten und zudem die reaktionären, schon durchaus faschistisch zu nennenden Ansichten ihres Verfassers offenbarten, von denen einige aber durchaus einen gewissen Anspruch auf literarhistorische Bedeutung innerhalb des phantastischen Genres für sich beanspruchen dürften, insbesondere die Erzählung „Vaila“ oder, wie sie in ihrer späteren Fassung heißen sollte, „The House of Sounds“, die aber letztlich nichts weiter als eine sowohl inhaltlich als auch sprachlich geradezu ans Lächerliche grenzende Nachahmung von Edgar Allan Poes „Der Untergang des Hauses Usher“ darstelle, wohingegen sie H. P. Lovecraft, vor allem die überarbeitete Version, als Meisterwerk feierte.
Als sich während der 1890er Jahre Arthur Conan Doyle vom Ruhm seines Sherlock Holmes zu emanzipieren trachtete, indem er diesen in den Reichenbachfällen bei Meiringen ein vorläufiges Ende finden ließ, gab es einige, die um den verwaisten Thron des Meisterdetektivs aus der Baker Street buhlten, und für nicht wenige Leser und Kritiker schien für einige Zeit Matthew Phipps Shiel mit seinem „Prince Zaleski“ aus dem gleichnamigen Erzählungsband von 1895 der vielleicht aussichtsreichste Aspirant zu sein. Des Prinzen berüchtigtster Fall ist ohne Zweifel in der Geschichte „The S. S.“ dokumentiert, die von den Machenschaften eines weltweit operierenden Geheimbundes handelt, der „Society of Sparta“, die es sich zur Aufgabe gesetzt hat, alle Kranken und Schwachen zu töten, diese Unternehmungen aber wie Selbstmord aussehen zu lassen. Shiel beschränkte sich jedoch nicht auf das Feld der Detektivgeschichte, sondern versuchte sich in den unterschiedlichsten Genres. Er behandelte Themen der décadence auf eine Weise, die seine Romane und Erzählungen sich auf dem Jahrmarkt der Sensationsliteratur zeitweilig äußerst erfolgreich behaupten ließ, allerdings nicht verhindern konnte, daß sie letzten Endes Geheimtips blieben.
Brian W. Aldiss – keineswegs ein Bewunderer Shiels! – äußerte einmal, daß man die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts als eine Wiederholung des 19. nach einem Drehbuch von Shiel ansehen müsse. Jugendwahn, Übermenschenkult, Vernichtungsphantasien – all dies findet man in seinen Werken in einem zwischen Baudelaire und Boulevard, zwischen Swinburne und „The Strand“ oszillierenden, auf manchen Leser mit literarischen Anspielungen überfrachtet wirkenden Stil dargeboten, dem Aldiss angesichts von Sätzen wie „As a brimming maiden, out-worn by her virginity, yields half-fainting to the dear sick stress of her desire—with just such faintings, wanton fires, does the soul, over-taxed by the continence of living, yield voluntary to the grave, and adulterously make of Death its paramour.” (In deutscher Übersetzung: „Wie eine alte Jungfrau, von ihrer Jungfräulichkeit verdorrt, sich halb ohnmächtig der vertraut wehmütigen Qual ihres Verlangens hingibt – mit solcher in Ohnmacht versinkender, brennender Lust gibt sich die Seele, überdrüssig der Enthaltsamkeit des Lebens, dem Grabe hin und nimmt sich ehebrecherisch den Tod zum Geliebten.“; zitiert nach Brian W. Aldiss: „Der Millionen-Jahre-Traum. Die Geschichte der Science Fiction“. Bergisch Gladbach 1980. Ins Deutsche übertragen von Michael Görden, S. 196) aus „The S. S.“ eine geradezu preiswürdige Groteskheit attestierte.
Sehr direkt geht es auch in dem Roman „The Lord of the Sea“ (1901) zu, der Geschichte eines fanatischen Antisemiten, der zunächst aus Rache die Unterdrückung und Entrechtung der Juden forciert, schließlich aber erfährt, daß er – Schirinowski läßt grüssen! – selber jüdischer Abkunft ist und in Palästina einen jüdischen Staat gründet. Mit „The Yellow Danger“ von 1898, wie der Titel bereits nahelegt der Geschichte eines „schlitzäugigen Schurken“, sollte Shiel schliesslich, zumindest für den englischen Sprachraum, ein ungutes Schlagwort liefern, das selbst Lesern geläufig sein dürfte, die nie etwas von Shiel gehört haben.
Diese durchaus als skandalumwittert anzusehenden Texte liegen aus nachvollziehbaren, wenngleich nicht immer berechtigten Gründen (noch?) nicht auf Deutsch vor, aber gerade ihr Nimbus wirft die Frage auf, worin denn nun eigentlich die Bedeutung Shiels begründet läge und wie sich die Faszination erklären ließe, die er auf solch eine illustre Schar von Bewunderern auszuüben vermochte. Zu einer solchen Erklärung trägt die erste deutschsprachige Sammlung einiger seiner Kurzgeschichten leider nichts bei, obwohl gerade sie ideal dazu disponiert gewesen wäre – und dies vor allem aufgrund der Person ihres Herausgebers.
Das vorliegende Buch ist keine deutschsprachige Originalzusammenstellung, sondern die deutsche Ausgabe der ersten spanischen Kurzgeschichtensammlung Shiels, welche von Javier Marías zusammengestellt wurde, der in einigen seiner Romane Anspielungen auf Klassiker der englischsprachigen Phantastik um 1900 einbaute, insbesondere auf Arthur Machen – und eben auf Shiel. Wir wollen die Angelegenheit nicht schlecht reden: Es liegen nun ein paar interessante Texte in erwartungsgemäß guter Übersetzung gesammelt vor – die Titelgeschichte in einer Neuübersetzung, die erste Fassung von „Vaila“ (die von Lovecraft gerühmte zweite Fassung „The House of Sounds“ erschien 2002 in einer Anthologie des Festa Verlages erstmals auf Deutsch) sowie vier andere Erzählungen und zwei autobiographische Texte. Ergänzt wird das Buch durch einen Kommentarteil von Antonio Iriarte, der sowohl zahlreiche literarische Anspielungen in Shiels Werken entschlüsselt, als auch den verschiedenen biographischen Verästelungen bis hin zu Oscar Wilde und Knut Hamsun nachspürt, gegenüber der spanischen Ausgabe jedoch „eine adaptierte und leicht gekürzte Fassung“ darstellt – warum auch immer. Wahrhaft abgerundet wäre das Ganze gewesen, hätte Marías einen großen Essay, notfalls ein kurzes und prägnantes Vor- oder Nachwort beigesteuert, doch seine Beiträge zu diesem Band sind enttäuschend und lassen es zweifelhaft erscheinen, ob sich hiermit ein gelungener Einstand bestreiten ließe.
David G. Hartwells Ausführungen zu Shiel im Allgemeinen und zu „The Purple Cloud“ im Besonderen waren entschieden werkbezogen – Shiel wurde unter den frühen Science Fiction Vorläufern um 1900 in die Tradition Poes im Unterschied zu den Traditionen von Jules Verne und H. G. Wells eingeordnet, sein Stil als häufig mißglückte, selten als wirklich gelungen zu erachtende Kombination seiner Idole Thomas Carlyle und Edgar Allan Poe charakterisiert und seine Charaktere als letzten Endes künstlich herausgearbeitet – entweder mithilfe vieler Kunstgriffe auf interessant getrimmt oder klischeebehaftet belassen. Auch in seinen autobiographischen Texten, so Hartwell, habe Shiel eher eine Kunstfigur entworfen, möglicherweise ein souveränes Idealbild seiner selbst, denn ein zutreffendes Bild von sich gezeichnet, weshalb diesen mit Vorbehalten zu begegnen geraten schiene. Ein biographisches Detail erwähnt Hartwell nur als Kuriosität am Rande: daß nämlich Shiel großen Wert darauf legte, den Titel eines Königs der Karibikinsel Redonda (auch: Redegonda) führen zu dürfen.
Diese Angelegenheit ist für Marías indes von eminenter Wichtigkeit, da er selbst seit einigen Jahren diesen Titel als legitimer Nachfolger Shiels führt und so auch die Rechte an seinem Gesamtwerk besitzt. Javier Marías hat offensichtlich einen großen Freundeskreis. Auf prominente Namen wie Francis Ford Coppola, Eric Rohmer, Pedro Almodóvar, António Lobo Antunes, Claudio Magris, Antonia S. Byatt, J. M. Coetzee, César Romero, Alice Munro, W. G. Sebald, Pierre Bourdieu sowie seinen deutschen Verleger Michael Klett und die Übersetzerin Carina von Enzenberg stößt man in den Listen der Ehrenbürger, Preisträger oder was auch immer des Königreichs Redonda, die Marías dem Band beigefügt hat. Welcher Art jedoch deren Bezug zu Shiel ist, inwiefern Shiel auf das Schaffen der Erstgenannten einen konkreten künstlerischen Einfluß ausübte oder diese in einer zwar abstrakten, aber letztlich schlüssig darzulegenden Weise in einer von Shiel begründeten Tradition stünden, wird nicht ersichtlich. In seinem Vorwort weist er lediglich auf die Shielreminiszenzen in seinen Werken hin und referiert in groben – man muß wirklich sagen: in extrem groben Zügen die „Geschichte“ des Königreichs Redonda von Shiel bis Marías. Nichts also von „Leiden und Größe Matthew Phipps Shiels“, sondern leider nur Vereinsinterna aus Javier Marías´ exklusivem privaten Kegelclub bzw. Kaffeekränzchen.
Dem unvoreingenommenen Leser bietet sich folglich eine zwar abwechslungsreiche Sammlung kurzer Erzählprosa dar, die sich sehr schön in das Gesamtbild angloamerikanischer Phantastik und Abenteuerfiktion um 1900 einfügt – Erzählungen, die Motive Poes oder auch Villiers de l’Isle-Adams, den Shiel übersetzte, aufgreifen und weiterführen, und die den Vergleich mit entsprechenden Werken von H. G. Wells, Robert Louis Stevenson, Jack London und wiederum Arthur Conan Doyle nicht zu scheuen brauchen: worin jedoch das Besondere des Shiel´schen Oeuvres läge, welches den Kult um sein Werk und den Firlefanz um das Königreich Redonda nachvollziehbar sich gestalten ließe, dürfte hieraus kaum ersichtlich werden. Ein kleiner rezeptionsgeschichtlicher Lichtblick – aber sonst ? Diese Chance wirkt vertan, aber es könnten sich durchaus noch weitere bieten, die sich besser nutzen ließen: In den Anmerkungen verweist Antonio Iriarte auf Seite 250 auf „Cold Steel“ von 1899, „Shiels vierter Roman (und zugleich einer seiner besten)“. Man vernimmt die Botschaft dankbar und harrt, neugierig geworden, einer spanischen Ausgabe des Buchs – nicht zuletzt in der Hoffnung, daß dann Klett Cotta nachzöge; nach Möglichkeit dann aber mit etwas mehr Hintergrundinformationen in Sachen Shiel von Javier Marías.
Matthew Phipps Shiel:
Huguenins Frau. Erzählungen
Herausgegeben und mit einem Vorwort versehen von Javier Marías
Aus dem Englischen übersetzt von Wolfgang Krege
Aus dem Spanischen übersetzt von Carina von Enzenberg
Klett-Cotta, Stuttgart 2006
251 Seiten, 19.50 EUR
ISBN: 978-3-608-93631-5
3-608-93631-9
Eine Hollywood-Version von THE PURPLE CLOUD