Filed under: Crime Fiction, Krimis,die man gelesen haben sollte, Noir, NOIR-KLASSIKER, Porträt, SHANE STEVENS | Schlagwörter: J.W.Rider, Noir, Serienkiller, SHANE STEVENS
„Inspiriert von realen Fällen zeigt »Kill« im fesselnden, halb dokumentarischen Stil den (fiktiven) Serienmörder Thomas Bishop in seiner Entstehung, in seinen Taten, aber auch in seinem Alltagsleben, und beleuchtet die Auswirkungen, die seine grausamen Morde auf die Gesellschaft und ihre Moral haben.
»Kill« von Shane Stevens gilt als der erste Roman, der einen Serienmörder in den Mittelpunkt stellt, und ist damit das Vorbild für Thomas Harris und seine Hannibal Lecter-Romane.
»Kill« gilt als erster Serienkiller-Roman, der zugleich die True-Crime-Literatur vorwegnahm, und wird heute von der Literaturkritik als Klassiker gewürdigt.“
Immer noch gibt es unbekannte Klassiker zu entdecken!
Das gilt auch für Shane Stevens, dessen Roman KILL (BY REASON OF INSANITY) der Heyne-Verlag neu aufgelegt hat (eine gekürzte Version erschien bereits bei Moewig, 1981).
Shane Stevens ist ein wunderbarer Schriftsteller mit einem ungewöhnlich treffenden Gespür für Sprache, Charaktere, Situationen und Atmosphäre. Gleich das erste Kapitel ergießt sich mit emotionaler Wucht über Leser, die befähigt sind, diese literarische Qualität wahr zu nehmen:
„Im Frühjahr wälzt sich der Nebel wie stummer Donner über die Bucht und scheint San Francisco in Quecksilber zu baden.“
Was für ein erster Satz! Chandler hätte Freude an dieser Poesie gehabt.
Ich mag auch den Humor des Autors:
„Um die Hintergründe zu verstehen, müssen wir in die frühen Nachkriegsjahre zurückgehen… Im Valley wurden neue Reihenhäuser gebaut… Es gab auch wieder mehr Lebensmittel… In Washington versuchte die Truman-Administration Europa vor dem wirtschaftlichen Zusammenbruch zu retten. Aber wie üblich tat niemand etwas gegen das Wetter… Irgendwann am Abend entschied ein Mann, dass dies eine gute Nacht wäre für Raub und Vergewaltigung…“
Völlig natürlich gleitet Steven stilistisch zwischen humorigen Bemerkungen aus der Metaebene zu berührenden subjektiven Perspektiven:
„Sie wollte nicht sterben, und sie wollte auch nicht schwanger werden. Und doch lag sie hier, die Beine gespreizt, und dieser Fremde auf ihr hatte seinen Spaß. Und das alles nur, weil er ein Mann war und eine Waffe hatte.“
Die verschachtelten Rückblenden im ersten Kapitel zeigen bereits Stevens großes Können.
Stevens behandelt sein Personal mit der Höflichkeit eines gut erzogenen Henkers.
Er beschreibt die politischen, journalistischen, medizinischen und gesellschaftlichen Implikationen dieser Jagd in erstaunlicher stilistischer Meisterschaft. Unterfüttert wird alles mit einer sein gesamtes Werk durchdringenden Frage: Was ist Identität?
Kriminaltechnisch ist das Buch natürlich veraltet. Kein abschreckendes Argument, höchstens für anspruchslose Novitätenleser. Als wütendes Portrait der USA ist es nach wie vor aktuell.
Neben den Aktivitäten des Killers Thomas Bishop, bilden den zweiten Hauptstrang die Nachforschungen des Journalisten Adam Kenton, die häufig in die Irre führen. Geradezu klassisch führt Stevens beide Stränge zum Höhepunkt in eine Synthese.
Die üblichen Serien-Killerromane, die die Bestsellerlisten zumüllen, interessieren mich einen Dreck. Ihr Subtext ödet mich an: Serienkiller-Geschichten unterstellen, dass Technologie und Wissenschaft ausreichen, um soziales Fehlverhalten auszuschalten. Stevens gibt der Sozialisationstheorie weiten Raum, beschreibt das dämonische in der entsprechenden Konditionierung, ohne zu dämonisieren.
„In einem Alter, wo junge Leute nach Möglichkeiten suchen, um ihr Innerstes zum Ausdruck zu bringen, suchte Bishop nach Möglichkeiten, wie man dies am besten verbarg.“
Eine fließende, mehrstufige Geschichte, die auch ein Plädoyer für die Lerntheorie ist, denn die Darstellung von Bishops Konditionierung dürfte jeden Behavioristen begeistern.
Wenn man Bishops Entwicklungsgeschichte gelesen hat, erscheint einem die Karriere zum Serienkiller fast zwangsläufig.
Einmal in die Hand genommen, kann man das Buch nicht mehr weglegen. Ein einzigartiges und eigenartiges Meisterwerk. Wieder mal ein Buch das den deutschen Spitzweg-Spießer in seiner you-Tube-Gestalt überfordern könnte.
Die wenigsten Serienkiller-Autoren verfolgen die These, dass eine empathielose Gesellschaft sich in empathielosen Mördern spiegelt. Oder warum einige Theoretiker den Serienkiller als „letzten amerikanischen Helden“ titulieren (eine besonders perverse Variante ist der „gerechte Serienmörder“ in DEXTER von und nach Jeff Lindsay).
Über den Autor ist wenig bekannt.
Shane Craig Stevens wurde am 8.Oktober 1941 in New Yorks Hell´s Kitchen geboren; er starb 2007. Er wuchs in Harlem auf und war mit Harry Crews während ihrer gemeinsamen Zeit als Stipendiaten in Bread Loaf befreundet (damals entstanden die beiden einzigen Fotos von Stevens, die zugänglich sind). Er schrieb acht Romane, die in sechs verschiedenen Verlagen veröffentlicht wurden. Im heutigen Markt wäre er wohl e-Publisher geworden.
In den USA ist er fast so unbekannt wie bei uns. Und natürlich – man muss es wie ein Mantra runterbeten – kennt ihn in Frankreich jeder Noir-Fan.
Er war politischer Aktivist und Vietnam-Kriegs-Gegner, was sich in vielen seiner Romane brutal äußert. Sein Platz war mitten in den Ereignissen, und seine Erfahrungen im Harlem der 1960er Jahre finden sich in den ersten Büchern.
Seine Hautfarbe war Stevens unwichtig.
Er schlug sich durch, kannte die Armut. Einmal musste er seinen ersten Agenten um ein paar Dollar anbetteln, damit er nicht ins Gefängnis kam.
Im Malrauxschen Sinne dürfte kein Unterschied zwischen Leben und Handeln gestanden haben, kein Gegensatz zwischen Werk und Leben. Noir-Romane sind Grenzbegegnungen in den Randbezirken des Grauen. Bücher als Waffen.
In seiner Besprechung von Eldridge Cleavers SOUL ON ICE in „The Progressive“ zeichnete Stevens so etwas wie sein Credo als Autor:
„For those of us who believe that the writer must grapple with the moral issues of his day, that he must view himself in the context of events and not just from his own personal needs, these are dangerous times. The urge to be a full-time revolutionary in a country so desperately ill is overwhelming.”
Crime fiction is supposed to be social fiction—I think even more so than “literary fiction”—confronting the issues we currently face as human beings in our society… It’s much more comforting for us to reduce criminal actions to the purely aberrant: the criminal becomes mutant, his behavior occurring for the same reasons that a baby might be born with six fingers or webbed toes. These actions are then countered through: the might of pure logic/reason; the law-breaking force which exists only to reaffirm the status quo; or because the mutation (the criminal) is faulty, it simply “fails to thrive”. Too often as well, the crime itself becomes the only important thing without any acknowledgment of motivation and circumstance. The heist, the murder for hire, and the million dollar drug-deal are played simply for thrills and to showcase the writer’s ingenuity or capacity to craft empty brutality.”
Der zweite Roman, WAY UPTOWN IN ANOTHER WORLD, ist die zornige Ich-Erzählung eines Schwarzen, der voller Verachtung über „sein Volk“ spricht und für die politischen Aktivitäten der Afro-Amerikaner nur Hohn hat. Outlaw-Literatur in der Tradition von William S. Burroughs und Hubert Selby jr. (der seinen Erstling GO DOWN DEAD, an dem Stevens sechs Jahre gearbeitet hatte, über einen Harlemer Gang-Leader lobte).
Sein dritter Harlem-Roman war RAT PACK – also kein Wunder, das zeitgenössische Leser ihn für einen Schwarzen hielten. Über letzteren schrieb Chester Himes: “Truly a classic of the lower depths.”
Der Roman DEAD CITY, 1973, ist ein brutales Mob-Drama, das einem Kritiker als eine Art Vorläufer für Martin Scorseses Film GOODFELLAS erscheint.
Der letzte Roman unter seinem Namen war der Polit-Thriller THE ANVIL CHORUS über die Jagd nach einem Nazi-Killer,1985. Danach erschienen noch die beiden Privatdetektiv-Romane unter J.W.Rider.
In KRIMIAUTOREN VON A-Z (https://krimiautorena-z.blog/2018/05/22/stevens-shane/) steht über die Malone-Romane von Rider:
„Malone ist einer der härtesten und gemeinsten Ermittler der Kriminalliteratur. Er nimmt grundsätzlich nur Mordfälle an – allenfalls noch Fälle von Morddrohung. Liiert ist er mit der aparten Malerin Marilyn, die sich auf Werwolf-Bilder spezialisiert hat. Im ersten Roman ‚Der Teufel hat vielen Masken‘, einer mit ausgesprochen fiesen Gestalten bevölkerten Geschichte, hat Malone zwei Auftraggeber: Den aufstrebenden Immobilienhai Cooper Jarrett, dem anonyme Telefonanrufer einen baldigen Tod vorausgesagt haben, wenn er sich nicht aus seinem Milliardenprojekt beim Hafen von Jersey City zurückzieht; und Constance Kelly, eine atheistische Aktivistin, deren Mutter kürzlich durch eine Kugel aus dem Leben schied – laut der Polizei handelte es sich um Suizid. Schon bald wird Malone klar, dass die beiden Fälle eng miteinander verknüpft sind – Geldgier und Korruption, Sexualität und Hass sind die Bindeglieder. Welche Rolle aber spielt Jarretts Ex-Frau und Geschäftspartnerin Laura, die Malone heftig umgarnt?“
Warum seine Stimme dann verstummte, ist mir nicht bekannt. Aber kaum entschuldbar. Stevens war einer der klügsten Köpfe und besten Schreiber im Genre, der „Black Experience“ und die Outlaw-Literatur der Beats mit tiefsten noir verband.
Die meiste Zeit verdiente er wenig. Erst mit KILL kam das „große Geld“: Der Roman verkaufte sich gut, es kamen ausländische Lizenzen hinzu und Hollywood kaufte die Filmrechte. Für Columbia Pictures schrieb er ein Drehbuch nach KILL. Daneben verfasste er wohl noch andere Adaptionen für Hollywood.
Popular crime fiction is really one big buffer zone that reinforces the status quo.
Shane Stevens bediente nicht die lahmen Mittelschichts-Phantasien, die den durchschnittlichen Kriminalroman verseuchen. Rassen- und Klassenkampf, institutionalisierte Gewalt, Armut, Korruption, Verrohung, rücksichtslose Ausplünderung gehörten zu seinen Themen, und sie sind gerade in den Staaten aktueller denn je. Auch wenn es in seinen Büchern keine Smartphones gibt.
In einem Brief an Charles Harris:
“What’s happening is that this is a class struggle going on in this insane country. Of which white racism is a part. What counts is not skin color but life style: money, Charles, money. The question is how you live—that determines what side of the gun you’re on. Now the people of all colors who are poor are beginning to move and they’re moving against those who keep them down. Middle class America: with its false liberals, its private ownership of everything needed to live, its slave state mentality and racist theology…”
Stephen King sagte über sein Werk, dass er drei der besten Bücher über die dunkle Seite des amerikanischen Traums geschrieben habe. Nachdem sich King im Nachwort zu seinem Roman THE DARK HALF begeistert über Stevens ausgelassen hatte, wurden drei Bücher neu aufgelegt. King hatte von Stevens in seinem Roman den Namen Alexis Machine aus DEAD CITY für George Starks Protagonisten übernommen.
Vom Heyne-Verlag wird der Roman unnötig als „Mutter aller Serienkiller-Romane“ vermarktet (Serienkiller bevölkerten die Literatur bereits vor 1979; z.Bsp. Ellery Queens CAT OF MANY TAILS, 1949, oder Robert Blochs PSYCHO, 1959). Das sei gerne verziehen für diese Veröffentlichung und hoffentlich die Publikation weiterer Romane Stevens (dessen beiden J.W.Rider-Bücher ich in der SCHWARZEN SERIE publizieren durfte). Die Behauptung, dieser Roman hätte die True-Crime-Literatur vorweggenommen, ist natürlich absoluter Schwachsinn. Und mit True-Crime hat er genauso wenig zu tun wie DRACULA mit Chiropterologie.
Sicherlich kann man aber KILL zusammen mit Lansdales ACT OF LOVE und Thomas Harris´ RED DRAGON, beide 1981, als die Romane ansehen, die das Sub-Genre in seiner aktuellen Form definiert haben. KILL hebt sich dank der literarischen Qualität und dem gesellschaftlichen Blick ganz klar heraus.
Die von Heiko Arntz ergänzte und überarbeitete Übersetzung von Alfred Dunkel ist gut gelungen (auch wenn mal wieder ein „Sedan“ herumfährt).
P.S.: Quelle der Zitate ist der angehende Stevens-Biograph Chad Eagleron.