Martin Compart


KISS KISS, BANG BANG – Eine Geschichte des Golden Age of Thrillers by Martin Compart


Dies ist ganz klar ein Buch für mich – eines, auf das ich lange gewartet und mit dem ich kaum noch gerechnet habe.

Deshalb habe ich es auch fast zwei Jahre nicht in die Hand genommen und auf den „Belohnungsstapel“ gelegt. Dort darf immer zugegriffen werden, wenn man zu viel Mist gelesen oder eine gute Tat vollbracht hat.
Nach etwa einem Jahr des Stapelabtragens war ich nun endlich bei Ripleys wunderbaren Buch. Es führt mich zurück in ein Königreich, in dem ich verdammt viel Zeit verbracht habe, und das mich bis heute mit schönsten Erinnerungen beschenkt:
Etwa in die Zeit des Schulschwänzens „wegen lesens“ (als man Maturins MELMOTH natürlich nur an verregneten Vormittagen in einer Burgruine lesen konnte, während andere sich im Mathematikunterricht foltern ließen). KISS KISS, BANG BANG ist deshalb für mich auch eine persönliche Zeitreise.

Für Genre-Historiker ist es ein wichtiges Buch! Denn über den Thriller der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts wurde viel gearbeitet. Aber das wahre Golden Age wurde bisher nicht wirklich zusammenhängend dargestellt (natürlich gibt es massenhaft Sekundärliteratur zu LeCarré, Deighton, 007 usw., aber ganz wenig zu der vermeintlich zweiten oder dritten Garde). Zu Recht wurde Ripley auch für diese Pionierarbeit ausgezeichnet.
Das launige Vorwort ist von Lee Child, der sich in dieser Tradition sieht.

Worum geht es?

Um die Zeit ab den frühen 1950ern, in der die britischen Thriller-Autoren fast alle westlichen Bestsellerlisten dominierten. Die Rede ist vom Abenteuer- oder Agenten-Thriller, nicht etwa vom klassischen Detektivroman.

Mike Ripley grenzt das „Golden Age“ ein auf die Jahre von 1953 (erscheinen des ersten Bond-Romans) bis 1975 (er setzt als Endpunkt Jack Higgins THE EAGLE HAS LANDED). Man könnte noch einige Jahre dran hängen, aber Ripley meint, dass mit dem Aufkommen etwa der amerikanischen Conspiracy-Thriller (Ludlum) und Techno-Thriller (Clancy) die absolute Dominanz der Briten im Genre gebrochen wurde. Meinetwegen.

Das Buch behandelt ca. 160 Autoren (neben Briten auch ein paar Südafrikaner und Australier), die heute zum Großteil in Vergessenheit geraten sind. Natürlich werden auch die inzwischen als Klassiker gewerteten Autoren, wie Fleming, Deighton, Francis, Forsyth, Ambler usw., behandelt. Aber da es über diese Autoren genügend Literatur gibt, bemerkt Ripley richtig, habe er sich auf die Unbekannteren konzentriert.

Da ich einige dieser Autoren seit den 1960er Jahren gelesen habe, kann ich häufig Ripley zustimmen: Darunter sind verborgene Klassiker, umwerfende Spannungsromane, die trotz der verstrichenen Zeit nichts von ihrer Faszination verloren haben. Ich nenne hier nur mal Gavin Lyall, Geoffrey Jenkins, Adam Hall, Alan Williams, Berkeley Mather, James Mitchell(Munro), Francis Clifford.

Es gab und gibt in dem Buch vieles zu entdecken, und bei der Lektüre wuchs meine Leseliste. Beim Wieder- oder Erstlesen ist die hohe Qualität vieler Autoren verblüffend! Dagegen wirken die meisten Thriller der Gegenwart wie elaborierter Schund.
Da merkt man deutlich, wie der PC bei Autoren zum disziplinlosen Schreiben verführen kann (ich fragte in den 1980ern mal Gavin Lyall, warum Desmond Bagleys neue Romane langsamer und dicker würden. Gavin: „He bought a word processor.“). Diese Thriller – egal, von welcher Qualität – verzichten zumeist auf retardierende Momente und gehen direkt nach vorne und beschleunigen zunehmend. Die Besten können einen auch heute noch atemlos und tief in den Lesesessel pressen. Obwohl die meisten Autoren (schon aus Altersgründen) die „Beatkultur“ gehasst haben (dafür gibt es in den Texten genügend Andeutungen, Häme und Hinweise), entsprachen ihre schnellen literarischen Beats dem Rhythmus der Zeit. So wie die YARDBIRDS mit ihren Klängen uns in ferne Sphären trugen, führten diese Autoren in exotische Länder, Katastrophen und fremde Mentalitäten.
Faszinierend sind auch die unterschiedlichen Themen und Stile der Autoren! Dank dieser Vielfalt verdient die Epoche wahrlich das Etikett „Golden Age of Thrillers“.

England hatte den Krieg gewonnen und den Frieden verloren. Das Empire brach auseinander, das Land war wegen der Kriegskosten hochverschuldet und Lebensmittelmarken (für bestimmte Produkte) gab es noch bis Anfang der 1960er (im Gegensatz zum Verliererland Deutschland).
Trotzdem errichteten die Briten einen Sozialstaat, der im Westen unvergleichlich war (und spätestens seit Thatcher, Tony Blair und dieser ganzen Neo-Con-Bande zerstört wurde). Jeder hatte Zugang zu Bildung und medizinischer Versorgung; die Gewerkschaften waren extrem stark, Vollbeschäftigung, Trümmergrundstücke.

Laut vielen Briten, die in den 1950ern aufwuchsen, gab es nur ein Problem: England war stinklangweilig (was war denn dann erst Deutschland mit seinen Fress- und Wirtschaftswunder-Kapitänen, die aus dem 3.Reich direkt in die Chefetagen wechselten?).

Ripley bemerkt für sich und viele seiner Altersgenossen: Das einzig spannende waren Rock´n Roll und Thriller. Dafür konnte man sein Taschengeld ausgeben. Ripley gab mehr für Paperback-Thriller aus, denn da bekam man zwei für den Preis von einer Single „At least that was my thinking until I discovered girlfriends, and the Rolling Stones recorded BEGGAR´S BANQUET.“ In diesem launigen und unterhaltenden Ton plaudert er das Buch hindurch und erzählt bisher unerzähltes, intelligentes, verblüffendes, spannendes, triviales, erhellendes.
Ein Buch, von dem der Fan hofft, es möge nie enden. Wie jeder gute Kritiker hat der Schriftsteller und Rezensent Mike Ripley ein feines Gespür für Drama.

Es ist nicht immer das analytischste oder systematischste Buch (den Anspruch erhebt Ripley auch nicht, nennt es „seine Lesergeschichte“), aber immer wieder voller erstaunlicher Fakten und Kenntnisse: Etwa, dass FROM RUSSIA WITH LOVE 1957 mit einer Auflage von 15 000 Hardcover gestartet wurde, während Alistair MacLeans GUNS OF NAVARONE alleine in den ersten sechs Monaten 400 000 Exemplare verkaufte!

Ripley ordnet Thriller und Autoren immer in den historischen Kontext ein, zeigt die soziologischen und politischen Spannungen auf, die sich direkt oder indirekt auf die Literatur auswirkten.

Er behandelt die Abenteuer-Thriller und Agentenromane (richtig unterschieden in Spy Novels, wie etwa Deighton, und Spy Fantasy, wie Bond), die millionenfach in Paperbacks die westliche Lesewelt zwei Jahrzehnte überfluteten. „Kiss Kiss, Bang Bang is a ‘reader’s history’ – specifically this reader – of a particular period, roughly 1953-1975, when British thriller writers ruled the world.”

Ripley streift und würdigt auch die Arbeit von Cover-Designern wie Raymond Hawkey, die für den speziellen look der Thriller verantwortlich waren. Was gäben diese Cover einen prächtigen Bildband ab!

Die Helden dieser Romane sind von unterschiedlicher politischer Couleur, so wie ihre geistigen Väter.
Lediglich bekennende Faschisten oder Kommunisten sucht man vergebens. “Their heroes regularly confronted Nazis, ex-Nazis and proto-Nazis, the secret police of any and all communist countries and a variety of super-rich and power-mad villains, traitors, dictators, rogue generals, mad scientists, secret societies and ruthless businessmen.”

Ripleys Buch ist ein Anfang, diese Epoche weiterhin zu untersuchen. Aber bis auf weiteres muss es als Standardwerk des britischen Thrillers in dieser Zeit gelten. Nächste Kundschafter sollten vielleicht den Zeitrahmen bis zum Ende des Kalten Krieges ausdehnen.

LESELISTE – Die unten stehenden, fast vergessenen Titel, will ich unbedingt wiederlesen und als Tipps weitergeben. Und das ist nur eine ganz kleine Auswahl!


Geoffrey Jenkins: A Twist of Sand, 1959.

Geoffrey Jenkins: The River of Diamonds, 1964.

Lionel Davidson: The Rose of Tiber, 1962.

Anthony Lejeune: Glint of Spears, 1963.

Alan Williams: Snake Water, 1965.

Gavin Lyall: The Most Dangerous Game, 1966.

Gavin Lyall: Midnight Plus One – und eigentlich jedes andere Buch von ihm!

James Munro: The Man Who Sold Death, 1964.

Peter Driscoll: The Wilby Conspiracy, 1972.

Peter O´Donnell: A Taste for Death, 1969.

Derek Marlowe: A Dandy in Aspic, 1966.

Duncan Kyle: A Cage of Ice, 1970.

Duncan Kyle: Black Camelot, 1978.

Desmond Bagley: High Citadel, 1965.

Desmond Bagley: The Vivero Letter, 1968 (u.v.m.).

Alistair MacLean: HMS Ulysses, 1955.

Ian Stuart: The Satan´s Bug, 1962.

Francis Clifford: Honour the Shrine (Kriegsroman; Birma), 1953.

Francis Clifford: All Men Are Lonely Now, 1967.

Victor Canning: Black Flamingo, 1962.

Clive Egleton: Seven Days to a Killing, 1973.

Desmond Cory: Feramontov-Quintet, 1962-71.

Anthony Price: Other Paths of Glory, 1974.

Andrew York: The Eliminaror, 1966.

Adam Diment: The Dolly Dolly Spy,1967.
https://martincompart.wordpress.com/category/adam-diment/

Brian Freemantle: The Man Who Wanted Tomorrow, 1975.
https://martincompart.wordpress.com/category/brian-freemantle/

Adam Hall: The 9th Directive,
https://martincompart.wordpress.com/category/klassiker-des-polit-thrillers/adam-hall/

Len Deighton: The Ipcress File, 1962.
https://martincompart.wordpress.com/2009/05/15/krimisdie-man-gelesen-haben-sollte/

Berkeley Mather: The Pass Beyond Kashmir, 1960
https://martincompart.wordpress.com/category/berkeley-mather/



BRIT NOIR: SIMON KERNICK – SPEEDKING 2/ by Martin Compart

Seine Cops, wie Milne oder John Gallan und Tina Boyd gehören nicht der Inspector Rebus-Garde an. Es scheint eher, dass der 1966 geborene Autor von der Konventionen sprengenden Fernsehserie THE SWEENEY (1975-78) beeindruckt wurde. „Die meisten meiner Charaktere basieren irgendwie auf realen Menschen. Bei meinen Recherchen stoße ich auf merkwürdige Typen.“ Und natürlich ist er beeinflusst vom Großmeister des Brit-Noir Ted Lewis. „Lewis bekam nie wirklich die ihm zustehende Anerkennung für JACK´s RETURN HOME. Für mich der beste britische Noir-Roman aller Zeiten.“

Seine Noir-Cop- Romane brachten einen neuen Wind in die britische Kriminalliteratur, die an den langweiligen Ermittlern der Colin Dexter-John Harvey-Ian Rankin-Schule erstarrte.

Ab 2006 wechselte er die Richtung: Mit GNADENLOS (RELENTLESS) begann er seine „pot boiler“, für die er heute bekannt ist und ihn erfolgreich machten. Seine düstere Weltsicht hat er beibehalten, aber diese schnellen Action orientierten Romane konzentrieren sich auf den Kampf gegen die Zeit. Niemand setzt Zeitdruck besser in Szene.
Seine Thriller lesen sich in Passagen wie Vorlagen für Jason Statham-Filme und haben natürlich das Interesse der Filmindustrie auf sich gezogen. Einige Fans seiner frühen Romane mochten diesen Tempo-Wechsel gar nicht, aber Kernick gelang damit der Ausbruch aus der Noir-Nische in die Bestsellerlisten. Trotz des Erfolges ist er ein pflegeleichter Autor, der sich tatsächlich noch bei SIEGE vom Verlag vorschreiben ließ, das Ende umzuschreiben und den Titel zu ändern. Hoffen wir mal, dass er einen fähigen Lektor hat(te). Aber jemand, der so lange und verbissen darum gekämpft hat veröffentlicht zu werden, verliert nicht so schnell die Bodenhaftung. Die ersten vier Romane brachten zwar tolle Kritiken, aber wenig Geld. GNADENLOS war 2007 der erfolgreichste Kriminalroman in Großbritannien.

Die Idee für GNADENLOS kam Kernick durch einen Alptraum, den er in Toronto nach einem exzessiven Besäufnis hatte. Protagonist Tom Meron hört am Telefon, wie ein alter Schulfreund umgebracht wird. Seine letzten Worte sind Merons Adresse. Der Höllenzug verlässt den Bahnsteig…

Der Nachfolger TODESANGST beginnt mit einem Satz, der das Schicksal von Noir-Protagonisten Im Allgemeinen und von Kernicks „Helden“ im Besonderen auf den Punkt bringt: „Kaum öffne ich die Augen, weiß ich, es wird ein Scheißtag.“Der Ex-SAS-Soldat Tyler erwacht blutüberströmt neben der kopflosen Leiche seiner Geliebten und erinnert sich an nichts. Und dann geht es ab, dass der Leser aus der Kurve fliegt. Eventuelle Plotschwächen werden einem egal, weil man nur noch mit zitternden Fingern die Seiten umdreht. Kernick fährt mit Bleifuss und schaltet bis zum Finish nicht einmal runter. Um das Tempo noch zu erhöhen, hat er TODESANGST als bisher einzigen Roman im Präsens geschrieben. Eine schwierige literarische Technik, die leicht albern klingt und am besten bei komödiantischen Handlungen funktioniert (siehe Peter Cheyneys Lemmy Caution-Romane, die ich sehr unterhaltsam aber nie spannend fand).

In DEADLINE erzählt Kernick zwar in der dritten Person, wählt aber die Perspektive der Protagonistin, deren Tochter entführt wurde. Tausendmal gelesen und gesehen? Aber nicht so! DEADLINE ist Kernicks einziger Roman, der bei uns auch als Hörbuch vorliegt (Audiobuch Verlag). Wie Johannes Steck es vorträgt, ist unglaublich! Sehr intensiv und dem Tempo entsprechend. Das sollte man nicht auf Kurzstrecken hören, sonst fährt man bis zum Nordkap durch.
Mit seinen On-the-Edge-Thrillern steht Kernick in der Tradition von Cornell Woolrich: Ein (vermeintlich) Unschuldiger gerät in eine Verschwörung, die er nicht durchschaut, und wird gehetzt. Von einer Sekunde auf die andere brechen Ereignisse in das Leben des Protagonisten ein, dass es völlig aus den Fugen gerät. Chandler sagte über Woolrich: „Der Mann mit den besten Einfällen, aber man muss ihn schnell lesen und darf ihn nicht zu genau analysieren; er ist zu fieberig.“ Es wäre ungerecht, dieses Urteil 1:1 auf Kernick zu übertragen. Aber ähnlich wie Woolrich ordnet er den Twists und dem Tempo alles unter. Dieser klassische Thriller-Topos lässt sich mindestens bis zu John Buchan zurückverfolgen. Es geht letztlich um Kontrollverlust. Ein Lebensgefühl, das heute aktueller denn je ist. Manipulation und Kontrollverlust gipfeln in Verschwörungen. Seine düstere Weltsicht unterlegt Kernick auch in den Thrillern, wenn auch nicht so exzessiv wie in den Noir-Romanen. Als intelligenter Zeitzeuge spiegelt er den immer offeneren Moralverfall der westlichen Zivilisation seit dem Aufstieg der Neo-Cons.

Im Gegensatz zu Lee Child lassen sich Kernicks Plots nicht vorher sehen. Wenn man meint, man wisse wie der Hase läuft, schlägt er eine überraschende Volte. „Meiner Meinung nach ist eine der wichtigsten Regeln die Handlung unberechenbar zu halten. Das lässt den Leser die Seiten umblättern.“

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BRIT NOIR: SIMON KERNICK – SPEEDKING 1/ by Martin Compart

Simon Kernick gehört zu den britischen Autoren, die sich seit der Jahrtausendwende im Windschatten des Erfolges von Autoren wie Lee Child oder Andy McNab als eine Art New Breed des britischen Thrillers etablieren. Sie sind genauso von multimedialen Pop-Kulturtraditionen geprägt, wie von den literarischen Traditionen des Genres. Sie gehören zu einer Generation, die einen Bondfilm gesehen hat, bevor sie Romane von Ian Fleming oder Eric Ambler entdeckte. Und sie schreiben in einer Zeit, in der sie mit Fernsehserien wie 24, LUTHER oder SPOOKS um das Publikum konkurrieren. Denn diese und andere Serien, deren primäres Medium die DVD ist und denen die Erstausstrahlung im TV nur als Schaufenster dient, haben Einfluss auf Literatur und Rezeption.
Kernick ist das voll bewusst – und er hat es drauf. Ihm gelingt es, das Tempo der TV-Serien auf den Roman zu übertragen: Gleich auf der ersten Seite fängt er den Leser ein, schaltet den Motor seines Romans in Blitzgeschwindigkeit hoch in den fünften Gang und rast durch die Story bis das Getriebe kracht. Den Leser beim Schlafittchen packen und auf geht’s in die Turboachterbahn. Wie etwa bei „24“ kann er durch das hohe Tempo eventuelle Plotunstimmigkeiten oder Unwahrscheinlichkeiten überfahren, Widersprüche von der Fahrbahn kicken. Und wie „24“ kommt er damit durch weil er genügend Überraschungsmomente im Köcher hat. Wer das nicht mag, sollte die Finger von ihm lassen. Ich dagegen bin froh über Autoren, die nicht mit völlig psychopathischen Forensikstudien wie Patricia Cornwell oder Charakterquark wie die völlig durchgeknallte Mo Hayder daherkommen. Ich langweile mich zu Tode bei diesen Waltons-meet-Dr.Lecter-Geschichten von Karin Slaughter oder Kathy Reich und mir wird übel bei den Reissbrett-Slashern von Cody McFadyan oder der langweiligen Sozialdemokratie eines Hanning Mankells (der Traum aller verlebten Thalia-Kundinnen).

Der 1966 in Slough geborene Kernick wuchs in Henley-on-Thames auf, eine Kleinstadt fünfzig Kilometer von London entfernt. „Ich schreibe, seitdem ich einen Stift halten kann. Es hat Jahre gedauert und einige hundert Ablehnungen, bis ich mit 35 Jahren meinen ersten Vertrag bekam. Ich glaube, ich musste einfach so lange üben und lernen, bis ich was Druckbares hin bekam.“
Mit 19 ging er vom College ab und schlug sich mit einem Job als Transportmanager durch. Nach einem Jahr ging er nach Toronto, wo er wieder aufs College ging und sich verlobte. „Es hielt kein Jahr. Danach ging ich über Australien zurück nach England. Ich hatte Heimweh. Ich ging in Brighton aufs Polytechnikum und machte anschließend die unterschiedlichsten Jobs: Im Straßenbau, als Barkeeper oder als Holzfäller für Weihnachtsbäume. Schließlich etablierte ich mich als Handelsvertreter in der Computerbranche und blieb zehn Jahre dabei.“ In seiner wilden Zeit machte er auch eine böse Erfahrung, die sich wohl in der Intensität bestimmter Szenen in seinen Büchern niedergeschlagen hat: Beim trampen mit Freunden wurde er einmal ausgeraubt. Sie mussten sich ausziehen, wurden geschlagen und kamen gerade noch mit dem Leben davon.
Inzwischen ist er verheiratet, hat zwei Töchter und lebt als erfolgreicher Schriftsteller in Oxfordshire.

„In meiner Jugend war ich ein großer Science Fiction und Fantasy-Fan. Wahrscheinlich hat mich Tolkien am stärksten beeindruckt. Gefolgt von Michael Moorcock – insbesondere die Corum- und Runestaff-Zyklen. Großartig und völlig unterbewertet wie vieles in dem Genre. Auf dem College entdeckte ich Raymond Chandler. Ich las THE BIG SLEEP in einem Rutsch. Es hat mich umgehauen und mir einiges beigebracht. Zum Beispiel, dass man nicht zuviel beschreiben muss. Weniger ist oft mehr, wenn es um Thriller geht. 95% von allem, was ich gelesen habe, war Kriminalliteratur inklusive einer ordentlichen Portion true crime.“ Er sieht sich vor allem von amerikanischen Autoren beeinflusst und bewundert Leute wie Dennis Lehane oder Harlan Coben, den er – wen wundert es – für seine überraschenden Wendungen schätzt. „Mein größter Einfluss war Lawrence Block. Ich habe alles von ihm gelesen – und er hat eine Menge geschrieben. Ich bewundere seine Vielseitigkeit. Er kann alles.“ 2004 hielt Kernick bei der Verleihung der Diamond Dagger Awards für Blocks Lebenswerk eine bewegende Laudatio auf sein Idol. Wie Block schreibt er in einem scheinbar kunstlosen Stil, der sich ganz der Geschichte unterordnet.

Begonnen hat er mit Noir-Romanen in der britischen Tradition. Sein Debut, „Tage des Zorns“/“Vergebt mir!“ (The Business of Dying, 2002), war ein rabenschwarzer Cop-Roman über einen Bullen, der nebenher Leute umbringt, die es nach seinem Wertesystem verdient haben und ihm zusätzlich ein bißchen Geld einbringen. Er wird von seinem Auftraggeber reingelegt und tötete bei einem Hit unschuldige Zollbeamte. Von da an geht es bergab und schließlich muß er aus England fliehen. Im zweiten Roman über Dennis Milne, „Fürchtet mich“ (A Good Day To Die, 2005), lebt er als Gelegenheitskiller auf den Philippinen. Als er vom Mord an seinen besten Freund und Ex-Partner erfährt, kehrt er nach London zurück, um diese Angelegenheit auf seine Weise zu regeln. Laut Aussage des Autors ist dies sein Lieblingsbuch.
Bei der Recherche zu „Tage des Zorns“ lernte Kernick Beamte von der Metropolitan Police kennen. „Ich war überrascht, wie angefressen die waren. Sie fühlten sich von Politikern und ihren Chefs unter Druck gesetzt und empfanden sich als dämonisiert, nur weil sie ihre Arbeit taten. Sie hatten nicht genügend Instrumente, um die Kriminalität einzudämmen, und wurden von der Öffentlichkeit und denjenigen kritisiert, die ihnen diese Instrumente verweigerten. Sie blieben nur wegen der Pension dabei. Ich schickte das Manuskript an einen Agenten, der es ablehnte, nachdem er zuerst Interesse gezeigt hatte. Das traf mich ziemlich hart. Ich dachte daran, was Neues zu schreiben. Aber meine Frau Sally glaubte an den Roman. Ich schrieb ein paar Szenen um und fand eine Agentin, die das Buch anbot. Als mir Transworld einen Vertrag dafür und ein weiteres Buch anbot, nahm ich sofort an, ohne noch Reaktionen anderer Verlage abzuwarten. Das war eine gute Entscheidung. Die Copper waren ebenfalls zufrieden mit dem Buch, da ich keine Verfahrensfehler gemacht hatte.“

Auch die drei anderen frühen Romane behandeln die düstere Welt des organisierten Verbrechens in Nord-London. „Mich hat die organisierte Kriminalität immer interessiert – in der Gegenwart und in der Vergangenheit. Ich finde es bemerkenswert, daß man Kriminalität genauso wie ein normales Geschäft führen kann, direkt unter den Augen der Autoritäten, die kaum Interesse haben, etwas dagegen zu unternehmen.“

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LEE CHILD – Hard-boiled Brite by Martin Compart

Nach den grausamen Adaptionen mit Tom Cruise, gibt es nun eine serielle Umsetzung der REACHER-Romane, die uns Fans wohl eher befriedigt. In der ersten Staffel, gerade auf Amazon Prime angelaufen, setzte man in acht Folgen den ersten Roman, KILLING FLOOR (1997), nahe am Buch um. Die 2. Season ist beauftragt.
Ein Grund, meinen alten TIP-Artikel nochmal auszugraben.

Trivia zur TV-Serie: https://www.imdb.com/title/tt9288030/trivia/?ref_=tt_trv_trv

Unterschiede zwischen Buch und TV sind hier analysiert: https://crimereads.com/how-lee-childs-killing-floor-was-transformed-into-reacher/

Er kennt alle Kniffe und weiß genau, was er tut: „Der Roman ist die reinste Form der Unterhaltung. Näher kommt kein anderes Medium an sein Publikum. Stundenlang ist der Leser mit dem Autor ganz allein – und hört ihm zu.

Lee Child genießt seinen Erfolg: „Mit das Schärfste für einen Autor ist, zu sehen, wie Leute dein Buch im Flugzeug oder am Strand lesen, daß Hollywood dich im Zug anruft – und deinen Namen auf den Bestsellerlisten zu sehen.

Alles bereits erlebt. Child ist innerhalb von wenigen Jahren zum Bestseller-Garanten aufgestiegen. Jedes Jahr verkauft er eine Million Romane in 20 Sprachen. Da spielen die Lebenshaltungskosten in New York keine Rolle mehr. Vor ein paar Jahren ist er aus dem teuren London in die noch teurere US-Metropole umgezogen. Amerika war und ist aus mehreren Gründen wichtig für ihn: Er ist mit einer Amerikanerin verheiratet, und seine Karriereplanung als Bestseller-Autor war von Anfang an auf die Staaten ausgerichtet.

Deshalb hat er auch seine Serie über den Ex-Militärpolizisten Jack Reacher gezielt in den USA angesiedelt.

„Es ist der größte Buchmarkt der Welt. Wer ihn erobert hat, dem stehen alle anderen Märkte offen. Durch meine Frau habe ich die USA regelmäßig besucht. Außerdem habe ich in all den Jahren beim Fernsehen eines gelernt: Du mußt dahin gehen, wo du das meiste Publikum erreichst. Die USA sind der größte Thriller-Markt. Ich nenne das meine Basketball-Theorie. Wenn du Basketballspieler werden willst, wirst du in Europa immer nur für die Zweitbesten spielen. Man muß in die Staaten zur NBA gehen, um rauszukriegen, ob man wirklich das Zeug zum Spitzenspieler hat. Dasselbe gilt für Schriftsteller.“

Child ist freundlich und ein Gentleman. Die guten Manieren hat er jedoch nicht aus der Kinderstube: Er stammt aus Birmingham und wuchs mitten in den miesesten Industrieregionen auf, wo man schon ins Krankenhaus mußte, wenn man auch nur mit dem Flußwasser in Berührung kam. Kleine Konflikte wurden mit Fahradketten ausgetragen; alte Narben erinnern an die schönste Zeit des Lebens.

Der 1954 geborene Autor blieb nicht auf der Strecke und studierte Jura, ohne Anwalt werden zu wollen. Von Anfang an war sein Ziel das Showbiz. Nach dem Studium ging er zu Granada TV in Manchester, bekanntlich ebenfalls ein urbanes Juwel in der Krone Britanniens.
Die Glotze brachte wichtige Erfahrungen: „Ich habe 17 Jahre lang Fernsehen gemacht. Ich weiß, wie das Spiel funktioniert. Als ich rausflog, war ich für 40.000 Stunden Qualitätsfernsehen mitverantwortlich gewesen, darunter Serien wie „Prime Suspect“ und „Für alle Fälle Fitz“. Das hat meine DNS auf spannende Unterhaltung programmiert.“

Mit 41 war sein Leben auf Null gestellt: Granada TV feuerte ihn 1995. „Es war diese typische 90er-Jahre-Nummer“, sagt Child. „Wenn Sie Ihren Job behalten wollen, müssen wir Ihr Gehalt halbieren.“ Da er Gewerkschaftsaktivist war, stand er nicht auf der Wunschliste anderer TV-Gesellschaften und wurde freudig gefeuert.

Also setzte er sich hin und schrieb innerhalb weniger Wochen seinen ersten Thriller „Größenwahn“, dessen Protagonist Reacher ganz anders war als die aktuell üblichen: „Ich wollte einen großen, starken Mann, ohne Bindungen und ohne die üblichen Freunde und Liebschaften – vor allem keinen blinden oder tauben Hobbykoch mit Alkohol- und Beziehungsproblemen. Reacher bleibt mysteriös. Zuviel über ihn zu wissen, wäre das Ende der Serienfigur. Nach dem ersten Buch dachte ich, der Kerl ist viel zu barbarisch für weibliche Leser. Ich hatte mich total geirrt. Frauen sind die größten Fans.

In jedem seiner Bücher findet man allerdings auch starke Frauen, die jedem Ballermann-Macho den Angstschweiß auf die Stirn treiben. Reacher verbindet Schwarzeneggers körperliche Kraft mit der analytischen Brillanz eines Sherlock Holmes und der militärischen Ausbildung eines Special-Forces-Soldaten: „Braungebrannt und in bester Form, wie ein mit Walnüssen vollgestopftes Kondom.“
Trotzdem ist Reacher eher eine Hard-boiled-Version von Neal Cassady als ein Marvel-Held – denn im Grunde ist er auf der Flucht vor Enge, Uniformität und Erstarrung.

Der Noir-Held als Beat.

Nirgends Verwandte, er schuldet niemanden Geld, hat nie jemanden betrogen oder irgendwelche Kinder gezeugt. Sein Name steht auf so wenigen Dokumenten, wie es einem Menschen überhaupt möglich ist. Der ruhelose Rumtreiber, der fast sein ganzes Leben außerhalb der USA verbracht hat, bewegt sich wie ein Außerirdischer durch God´s Own Country. Eine Inspiration für Reacher war John D. MacDonalds großartige Travis-McGee-Serie.

Mit seinem distanzierten Blick gelingen dem Autor treffende Schilderungen der amerikanischen Landschaft, der diese Spannung aus Realität und Mythos innewohnt. Nebenbei erklärt er, wie mies die Mythologen des freien Unternehmertums heute Geschäfte machen und dabei begeistert über Leichen trampeln.

Der verwahrloste Kontinent liefert die Weite, die er braucht. Die Unabhängigkeit und Bindungslosigkeit von Reacher ermöglicht es Child, mit jedem Roman eine andere Art von Thriller zu schreiben.

Als alter Fernsehprofi weiß ich natürlich genau, auf welche starken Strukturen ich verzichte, indem ich meinem Helden keine Soap-opera-Elemente mitgebe, die Leser oft an Serienfiguren binden. Andererseits kann ich einen Roman als psychologisches Kammerspiel machen und den nächsten als Polit-Thriller auf höchster Ebene. So halte ich die Serie frisch, ohne dass sie in ihren eigenen Klischees erstickt.

Seine Mischung aus Hard-boiled-Krimi und faktengespicktem Polit-Thriller gehört im Genre zum heißesten, sein Thriller-Konzept (eine zeitgemäße Mischung aus Ian Fleming, Peter O´Donnell und John D. MacDonald) schafft es, aus längst dahingestorbenen Plots noch Vitalität zu holen. Obwohl – auch das muss gesagt werden -: Abgewichste Krimi-Fans durchschauen die Handlung auf halber Strecke. Trotzdem bleibt man dran, was für Childs Erzählkunst spricht.

Sein Stil hat nichts mit dem expressionistischen Minimalismus der Hammett-Ästhetik zu tun, sondern ist eine gelungene Synthese aus britischem Suspense-Thriller und amerikanischer Hard-boiled-Literatur. Die Reacher-Romane sind süchtig machende Page-Turner, und die Fans bitten flehentlich darum, ihnen jährlich statt einem Roman doch bitte zwei in den Rachen zu rammen.

Seit 1998 lebt Lee Child in Westchester, New York – mit seiner Frau Jane, der erwachsenen Tochter Ruth und der kleinen Hündin Jenny.
„Deshalb komme ich so gerne nach Europa: um andere Raucher zu treffen“, sagt Lee Child und steckt sich eine weitere Zigarette an. Und was hätte er gern auf seinem Grabstein stehen? „Hier liegt ein Kerl, der niemanden bösartig behandelt hat und seinen Unterhalt bestritt, ohne den Planeten auszuplündern.“

Unseren Segen hat er!

P.S.: Lee Child war der erste (Kriminal)literat, der zumindesr dezent die Nerd-Kultur berücksichtete/nutzte. Die TV-Serie trägt dem dezent Rechnung, in den Auseinandersetzungen zwischen Reacher(Blues) und Finlay(weißer Pop) bei ihren musikalischen Vorlieben.