Martin Compart


LEBEN AUF DER ÜBERHOLSPUR – Keith Richards´ Autobiographie by Martin Compart
18. November 2010, 9:56 am
Filed under: Keith Richards, Porträt, Rezensionen, Rolling Stones | Schlagwörter:

Keith war (fast) immer der letzte. Auch wenn er das manchmal anders sieht. Er war der letzte Rolling Stone, der eine Solo-Platte gemacht hatte. Als Mick Jagger 1985 sein erstes Solo-Album heraus brachte, meinte er trotzig: „Ich mache seit 20 Jahren Solo-Platten mit einer Begleitband namens Rolling Stones.“ Jagger hatte 1982 auf Grundlage eines Exposés seine Autobiographie an Weidenfeld für einen Millionenvertrag verkauft. Aber irgendwie wurde das nichts mit dem Buch und Jagger zahlte den Vorschuss zurück.
Und jetzt also die Autobiographie von Mr.Richards, die gleichzeitig eines der dicksten Bücher über die Stones ist (735 Seiten in der deutschen Ausgabe). Um es gleich vorweg zu sagen: Es ist das Buch, auf das wir Stones-Fans schon immer gewartet haben. Keith und sein Co-Autor sind so gut, dass es das literarische Äquivalent zu einem großartigen Rock-Album von Richards & Co. Ist. Es liest sich runter wie „Eileen“ und „Struggle“ hören, ist nie langweilig und so witzig, intelligent und anarchisch wie sein Autor. Es gibt komische Passagen, bei denen man sich lachend auf dem Boden wälzt, genauso wie bedrückende. Es gibt kluge Bestandsaufnahmen unserer Kultur im Wandel der letzten 60 Jahre und tiefe Liebeserklärungen an die Musik, die Keith letztlich alles überleben ließ.

Es geht sofort bombig los. Gleich im ersten Kapitel erzählt Keith von einer Fahrt 1973 durch den Bible Belt. Das Auto ist voll gestopft mit Drogen, dass sie eigentlich noch Hunter S.Tompson hätten mitnehmen können. In einer kleinen Stadt in Arkansas werden Keith und seine Kumpels von den Bullen hoch genommen und vor einen volltrunkenen Richter geführt. Wie und was da ablief, muss man selber lesen und lacht Tränen dabei. Keith und sein Co-Autor James Fox sind sicherlich keine Literaten vom Kaliber eines Hunter, aber die Stories über Keith und die Stones halten locker mit. Die anschließenden bittersüßen Beschreibungen von Keith Jugendjahren im zerbombten England sind beeindruckend. Keith gelingt es blendend, die Atmosphäre zwischen Armut, Leidenschaft und Trotz in einem Klassen geprägtem England, das seine Weltmachtansprüche nicht aufgeben aber auch nicht wahren kann, erfahrbar zu machen. Deutsche, die in derselben Zeit zwischen Bombenkratern, Trümmern und wilden Strauchwäldern am Stadtrand aufgewachsen sind, werden verblüffende Parallelen entdecken. Das empfindet Keith ähnlich. Im Interview mit der Frankfurter Rundschau sagte er. „Ich hatte nie feindselige Gefühle gegenüber Deutschland verspürt. In Berlin oder Frankfurt sah es ja nach dem Krieg nicht besser aus als in London, vielleicht sogar noch schlimmer… Ich habe mich den Menschen in Deutschland immer auf seltsame Weise verbunden gefühlt. Vor allem mit denjenigen, die damals so alt waren wie ich, mit Menschen, die aus dem Nichts, das sie umgab, etwas machen wollten. Das hat uns über die Ländergrenzen nach dem Krieg verbunden.“ Wir hatten den Marshall-Plan und das damit verbundene Wirtschaftswunder, England kam erst durch 007 und die „british invasion“ wieder auf die Beine.

Natürlich gibt es in dem Buch reichlich Skandale und Skandälchen. Keith hat sie bewusst reingepackt „weil sie dazu gehören und die Presse sowas haben will“. Geradezu peinlich, wie sich das Boulevard darauf stürzt und ihre hirnentkernten Medienkellner nicht mitbekommen, dass es sich bei dieser Autobiographie, die ehrlicher ist als die jedes verlogenen Politikers, um ein großartiges Stück Zeit- und Kulturgeschichte handelt.

Das Buch ist wie Keith: ehrlich, witzig, respektlos und voller unerwarteter Riffs. In meinem Buch über die Stones (2000 LIGHTYEARS FROM HOME, BoD 2010) habe ich versucht zu erklären, welche spezielle Bedeutung Keith im Vergleich zu Jagger gerade für frühe Stones-Fans hat. Hier ein Auszug aus dem Kapitel über die 1970er:

„Für die Stones, die von den Punkern erstmal eine vernichtende Abfuhr erhielten, war die neue Rebellion die Rettung. Sie mussten sich endlich wieder zusammenreißen und einer echten Herausforderung stellen, um nicht endgültig als Yesterday’s Paper abgeschrieben zu werden. Das Interesse der Hardcore-Fans (soweit noch vorhanden) hatte sich inzwischen auf Richards konzentriert. Während Jagger vor keiner Peinlichkeit mehr zurückschreckte, hielt Keef schwankend die Fackel des Außenseiters hoch. Deutschlands bester Gangsterromancier Ulf Miehe starb Ende der 80er. Er erzählte mir mal, wie er Keith in einer Münchener Disco zur Zeit von IT’S ONLY ROCK’N’ROLL vollgekotzt auf dem Fußboden vorgefunden hatte. „Aber es war noch immer der große Keith Richards, der da lag“, sagte der Mann, der neben Dylan nicht viel gelten ließ. Keith war Weltmeister der Junkies und sah furchtbar aus. Während er sich um Punk kümmerte, entdeckte Jagger ein für ihn wie gemachtes Spielzeug: Disco. Der Club 54 war ohne Mick und Bianca und ihren ganzen beschissenen Hofstaat gar nicht denkbar. Koks, Schampus und jede Menge Sex. Ein Schlaraffenland für Besserbetuchte…

Irgendwie repräsentierten die Glimmer Twins, wie sie sich jetzt höhnisch nannten, auch die eigene Veteranensituation: Auf der einen Seite Jagger, der seinen Frieden mit dem System gemacht hatte und nichts als ein gutes Leben wollte, und auf der anderen Seite Keith mit dem Ehrgeiz, schlimmster Mann Europas werden zu wollen. In Kanada haben sie ihn dann erwischt und endgültig festgenagelt. Er war so zu, dass er die Bullen, die sein Gepäck durchsuchten, für Roadies hielt. Stu über Keith: „Eine Tragödie auf zwei Beinen.“ Eine Spritze in Ehren, kann keiner verwehren.

Keith musste mal wieder vor Gericht, und diesmal sah es ernst aus. Tunte Jagger überlegte lautstark, wer Keith ersetzen könne – eine Tour stand bevor -, wenn Keith in den Kasten müsste. Das Überleben der Stones hing mal wieder an einem seidenen Faden. Zum Glück fand Keith einen humorvollen Richter; es muss ein wirklich netter Prozess gewesen sein. Ein blindes Mädchen hatte den Richter aufgesucht, um sich für Keith einzusetzen. Oder wie Jagger einem offenbar bekloppten Reporter auf die Frage antwortete, warum er dem Prozess beiwohne: „Ich lasse grundsätzlich keinen guten Prozess aus.“ Mit Benefizkonzerten für Blinde und Gehörgeschädigte wurde die Sache erledigt. Für uns Hardcore-Fans mit der Neigung immer etwas am Abgrund rumzutorkeln, war bis in die 90er Keith immer der GUTE Rolling Stone, während das Verhältnis zu Jagger bestenfalls ambivalent war/ist. Eben primitiv-binäre Betrachtung. Der Jagger-Kerl trieb sich einfach zuviel mit Leuten rum, die man gerne auf der Transferliste des Friedhofs gesehen hätte, kaufte sich Schlösser, holte sich Models statt sich was vom Groupiestrich zu fangen, und schielte auf den Adelstitel. Der hochgekommene Kleinbürger, für den Rock’n’Roll nur eine Gelddruckmaschine war. ER war schließlich für die explodierenden Konzertpreise verantwortlich, denn sein wahres Talent lag in der radikalen Beutelschneiderei. Statt uns zu helfen, den Ulk des Daseins zu ertragen, verspürte er keine Gewissensbisse, dem Pöbel das zu geben, wonach er verlangte. Jagger war in ein anderes Universum abgedüst, was Punkteabzug bedeutete. Er gehörte deprogrammiert und neu verkabelt. Dagegen der GÖTTLICHE Keith. Kaputter als man selbst (trotz Kohle, hähähä). Er war der natürliche Reiseleiter durch die finstersten Eingeweide der Innenstadt. Ein friedhofsreifer Nomade, der außerhalb des bürgerlichen Moralcodes existierte. Ein Barbar in Cowboystiefeln, der manchmal nicht wusste, auf welchem Kontinent er gerade war und sein Bestes tat, jede Droge aus der Welt zu schaffen. Er war unser Traum vom verlorenen (Rock’n’Roll-) Paradies, dem „mörderischsten und schlimmsten aller Träume“(Malcolm Lowry). Und dann kam 1977 ausgerechnet Charlie mit folgendem Statement: „Wir haben mit Mick wirklich Glück gehabt. Ihm macht es Spaß, die Band in der Öffentlichkeit zu vertreten. Er beherrscht dieses Spiel mit den Medien auch besser als jeder andere, den ich kenne. Keith ist froh, dass er es nicht selbst machen muss. Wenn Keith den Job von Mick übernehmen würde, wäre er nicht mehr lange der gute Stone – sie würden ihn genauso hart rannehmen, wie sie jetzt Mick rannehmen. Weil Mick diesen Job macht, behält Keith seine Glaubwürdigkeit und wird von allen geliebt.“
Und Keith kam vom Junk runter. Das war 1978, vor SOME GIRLS. Wolfgang Doebeling nannte ihn mal die „immerhin unzerstörbarste Lebensform dieses Planeten“.“

Ich habe in den letzten Jahren wenige Bücher gelesen, die mich ähnlich begeistert und beeindruckt haben. Als Quelle für kulturgeschichtliche Betrachtungen der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts wird man künftig nicht um LIFE herum kommen. Kauft euch zwei CDs (falls ihr noch kauft) weniger und legt 26,99 Euro für dieses Buch hin. Lasst euch von aasigen Bankern nichts erzählen: Besser kann man momentan seine Euros nicht anlegen.

Keith Richards mit James Fox: Life. Heyne, 2010.

2000LIGHTYEARS FROM HOME BEI AMAZON:
http://www.amazon.de/2000-Lightyears-Home-Stones-Verbrechen/dp/3839190576/ref=sr_1_3?s=books&ie=UTF8&qid=1298641565&sr=1-3
Mein Buch über die Rolling Stones als E-Book bei: http://www.amazon.de/2000-LIGHTYEARS-HOME-Zeitreise-ebook/dp/B006UJFVUO/ref=sr_1_4?ie=UTF8&qid=1325934716&sr=8-4



ALLES GUTE, ALAIN DELON! by Martin Compart
10. November 2010, 11:12 am
Filed under: Alain Delon, Film, Jean-Pierre Melville | Schlagwörter: , , ,

Nun ist er 75. Die Reise nähert sich ihrem Ende. Sein Engagement für Tiere hat mir immer gut gefallen: Einmal fand er auf der Strasse eine angefahrene Katze, in der kaum noch Leben war. Er ließ einen Hubschrauber kommen, flog mit ihr in ein Krankenhaus und ließ sie operieren. Seitdem lebt sie dreibeinig auf seinem Landsitz (den er inzwischen nur selten verlässt):

Was mir auch gut gefallen hat: Während der Affäre Markovich (Delons Leibwächter wurde ermordet aufgefunden) unterzog die Polizei Delon einem dreitägiges Verhör. Er sagte nichts.

Nachdem Hans Gerhold und ich Alain Delon zum 70.Geburtstag mit DARK ZONE (Strange Verlag, 2005; bei Amazon vergriffen, aber bei Fantasy Productions lieferbar)) gebührend gefeiert hatten, hier zu seinem 75.Geburtstag nur ein paar Gedanken zu Melvilles Delon-Trilogie:
In LE SAMOURAI zeigt Melville, dass für ein komplett gesellschaftliches Wesen (Jeff Costello) Liebe nicht mehr möglich ist, wenn es keine Konvention akzeptiert. In CERCLE ROUGE, dass Freundschaft eine der wenigen Möglichkeiten zur Integrität in der bürgerlichen Gesellschaft ist, aber die individuelle Vernichtung nicht aufhält. In UN FLIC ist Liebe und Freundschaft nur möglich, wenn die christlichen und bürgerlichen Moralvorstellungen missachtet werden.
Delon macht in diesen drei Filmen eine Sozialisation vom unvermittelbaren Außenseiter zum zynischen Bollwerk des Systems durch.

1966 klappte es endlich mit Melvilles Zusammenarbeit mit Alain Delon. Delon hatte schon früher Angebote erhalten, diese aber immer wieder zurückgewiesen „weil er sich auf eine amerikanische Karriere vorbereiten wolle“. Jedenfalls wird Delon noch heute dem Himmel dafür danken, die Rolle des schizophrenen Killers Jeff Costello im SAMOURAI angenommen zu haben. Die Dreharbeiten fanden von Juni bis August 1967 statt und es war der letzte Film, der im Studio Jenner gedreht wurde. Mit LE SAMOURAI beginnt Melville seine Farbästhetik zu entwickeln. Die Farben werden – anders als etwa in LAINE DE FERCHAUX – von nun an immer kälter. Der SAMOURAI wirkt trotz seiner eiskalten Inszenierung noch vergleichsweise warm, wenn man ihn mit CIRCLE ROUGE oder dem stählernen FLIC vergleicht. Es ist soviel über diesen Film geschrieben worde, daß ich an dieser Stelle nur ein weiteres mal Hans Gerhold zitieren möchte:
„LE SAMOURAI ist die ästhetische Vollendung des französischen Unterweltfilms, ein Werk, das in seiner rigorosen Stilisierung fast etwas Abstraktes hat: Kino in Reinkultur, daß seine Vorbilder überwand und in der Perfektion seiner Inszenierung nur noch auf sich selbst verweist. Dieses elegische Requiem für einen Killer überzeugt nicht nur als Studie über Einsamkeit und Entfremdung; es ist zugleich, durch rauschhafte Schönheit und Transponierung musikalischer Bilder und Töne in erlesenen Einstellungen, Inkarnation dieser Isolation. In der Unvermeidbarkeit aller Situationen einer antiken Tragödie verwandt, bildet dieses Experiment mit Kunstfiguren den gelungenen Versuch, fortschrittlichste ästhetische Formen am Beispiel einer Gangstergeschichte in populäre Kino- und Erzählmuster umzusetzen.“
Melvilles Determinismus führt Costellos Ausbruchsversuch aus sich und seiner Welt durch die Emotion der Liebe direkt in den Tod.

Nach dem SAMOURAI folgte der Résistance-Epos L’ARMÉE DES OMBRES, abermals mit Ventura, mit dem er sich gleich zu Beginn der Dreharbeiten so zerstritten hatte, daß die beiden Männer drei Monate nicht miteinander redeten. Von Januar bis Abril 1970 drehte er LE CIRCLE ROUGE, der die Schraube der Hoffnungslosigkeit noch weiter anzieht. Im SAMOURAI war für Delon als Killer Jeff objektiv die Liebe möglich – ohne daß er dazu in der Lage war, sie anzunehmen. Im CIRCLE ROUGE gibt es keine Liebe mehr, stattdessen aber Freundschaft unter den Außenseitern, die der rote Kreis zusammenführt. Auch hinter der Kamera dieses Freundschafts-Epos hielt Melville an seinem Ethos fest. Howard Vernon: „Bei CERCLE ROUGE wollte er mich wieder als Sprach Coach für eine englische Fassung des Films Haben (wie zuvor in L’ARMÉE DES OMBRES). Meine Rolle bestand darin, den Schauspielern zu sagen: Mach‘ da im Englischen eine Pause, mach diese oder jene Mundbewegung… Natürlich ist diese englische Fassung nie herausgekommen. Ich war damals in einer finanziell schwierigen Lage. Ich sagte zu Melville: Du weißt genau, daß man diese Faßung nie verwenden wird, du willst mir nur etwas Geld zukommen lassen. Er stritt das natürlich ab, aber genauso verhielt es sich: er hatte ein Riesebudget und wollte mir helfen. Ich hatte in seinem erfolgreichen Erstlingsfilm mitgewirkt; er fühlte sich mir immer verpflichtet.“
Wie Delon auch aus unerfüllter Liebe im SAMOURAI den Tod wählt, so sterben er, Volonte und Montand im CIRCLE ROUGE auch aus Freundschaft zueinander.

Dieser Film ist noch pessimistischer und im Gegensatz zu Jeff Costello, der von der Liebe zur Sängerin überrascht wird, scheint die Zeit für die Gangster im Roten Kreis von Anfang an abgelaufen zu sein. Melvilles Determinismus drückt sich in den Worten des Polizeipräsidenten aus: „Es gibt keine Unschuldigen. Die Menschen sind Verbrecher. Sie kommen unschuldig auf die Welt, aber sie bleiben es nicht.“ Ein Satz, der aus der hoffnungslosen Literatur Célines stammen könnte. Melville beklagte sich nach den Dreharbeiten über das stupide Verhalten von Volonte und die Unfähigkeit seiner technischen Crew, die dazu führte, daß er an diesem Film länger als erwartet arbeiten mußte. Er wurde müde, aber zwei Jahre später nahm er doch wieder alles auf sich, um sein ästhetisches Konzept noch weiter zu treiben und mit UN FLIC seinen pessimistischsten Film zu drehen.

Noch einmal trafen sich die Gangster in einem heruntergekommenen Haus, hinter dem aber bereits die neuen, häßlichen Betonsilos hochgezogen wurden. Melville war auch ein Chronist des Niedergangs von Paris. UN FLIC entstand, als am Montparnasse die Baugrube für Europas größten Wolkenkratzer ausgehoben wurde. Das Ende einer Epoche. Auch das Ende für Melvilles Gangster, diesmal von Richard Crenna gespielt. Nicht von Ungefähr spielte Delon in diesem Film einen roboterhaften Polizisten, der durch Folter und Technologie dem Gangster Crenna überlegen ist. Nicht von ungefähr beraubt Crenna in einem der genialsten Coups der Filmgeschichte einen Angehörigen des Organisierten Verbrechens, das sich in der bürgerlichen Gesellschaft integriert hat.
(dies ist ein Auszug des Melville-Textes in 2000 LIGHTYEARS FROM HOME-Essays zur populären Kultur (BoD, 2010)



Die Crux mit dem Hauptwerk Grundsätzliches über Michael Moorcock 3/ von Alexander Martin Pfleger by Martin Compart
4. November 2010, 4:00 pm
Filed under: Bücher, Michael Moorcock, Politik & Geschichte, Porträt, Science Fiction | Schlagwörter: ,

Grundsätzliches über Michael Moorcock – anlässlich einer Neuübersetzung seiner „Imitatio Christi“

Die Episoden in der Vergangenheit sind durch eine funktional begründete Blässe charakterisiert. Moorcock versucht nicht, seinen Lesern in der Manier des populären Historienbestsellers eine fremde Epoche in möglichst satten Technicolorfarben auszumalen – sein Palästina der 30er Jahre (der tatsächlichen, ersten unserer Zeitrechnung!) ist hingegen lediglich verzeichnet, wenn auch keineswegs, wie man im Kindler über das Zeitalter der Inquisition in Victor Hugos „Torquemada“ bemerkte, „in geradezu quälendem und beängstigendem Ausmaß“, sondern eher in einer über weite Strecken im positiven Sinne comicstriphaft unbekümmert anmutenden Art, die stellenweise – etwa, wenn Glogauer bei der Auswahl der Apostel nicht allein das Alte Testament, sondern auch die Zeichen des Tierkreises und Positionen neuzeitlicher Esoterik zur Richtschnur seiner Entscheidungen wählt oder Pilatus angesichts der aufgebrachten Menge „Oh, diese morbiden Fanatiker!“ ausruft – in humoristische Kabinettstückchen mündet, die weniger „Das Leben des Brian“ antizipieren als vielmehr dem Josephsroman ironisch Reverenz erweisen.
Überdies stehen dem Autor so keine kleinlichen historischen Details bei der Übermittlung seiner Botschaft im Wege. Gewiss entspricht das Übermitteln einer solchen nur bedingt den Zielsetzungen moderner Literaturtheoreme, aber wenn man schon so etwas macht, sollte man ruhig die Frage nach derselben und ihrem Gewicht stellen dürfen. Was Moorcock uns mitteilen möchte, ist die Erkenntnis, dass man Jesus, wie im Prinzip jede religiöse Erlösergestalt, als Projektion des modernen Menschen anzusehen vermag, der das Bewusstsein der eigenen Unzulänglichkeit in der Vision eines imaginären Grössen-Ichs zu kompensieren trachtet. Das ist schlüssig, aber nicht neu. Innerhalb der Science Fiction war es gewiss neu und originell, in der Literatur des 20. Jahrhunderts in ihrer Gesamtheit hingegen, auch wenn man sich nur auf dessen zweite Hälfte beschränkte, vermag diese Erkenntnis kaum eine Fussnote zu füllen.
„Als großer Anführer und großer Prophet galt er ihnen, doch während sie glaubten, er führe sie, trieben sie ihn in Wirklichkeit vor sich her.“ – ein Satz aus „Behold the man“, der in jedem von Moorcocks Fantasyzyklen stehen könnte und komprimiert die Dialektik allen Heldentums zusammenfasst, das für Moorcock letzten Endes stets in Selbstbetrug begründet liegt und auf Betrug hinausläuft. In solchen Überlegungen offenbart sich das auch im trivialsten Stück Moorcock´scher Prosa manifeste Reflexionsniveau, das bisweilen Anlass zu grotesken Überschätzungen zu geben vermag. Im Rahmen eines Fantasyzyklus´ mit allen seinen Redundanzen kann eine solche Stelle als Kulminationspunkt fungieren, in einem qualvoll um Anspruch bemühten Elaborat wie der Romanversion von „Behold the man“ geht sie indes neben viel Belanglosem unter und entfaltet keinerlei Strahlkraft.
Der Piperverlag hat mit dieser Neuübersetzung eines vermeintlichen Hauptwerks die erneute Reanimation einer literarhistorisch zwar bedeutsamen und handwerklich geschickten, aber stilistisch anspruchslosen – ist es ein Fortschritt, wenn die Gedichte von Karls Vater nun nicht mehr überladen wirken, sondern hochtrabend klingen? – und gedanklich im Diffusen verebbenden literarischen Durchschnittsware bewerkstelligt. Zu unterhalten vermag diese Taschenbuchausgabe aber rundum – insbesondere aufgrund des Nachworts und des Klappentextes. Während in der alten Ausgabe des Heyne – Verlags in der „Bibliothek der Science Fiction Literatur“ Florian Marzin, der später als „Henker von Rastatt“ Karriere machte und mittlerweile auch als „Henker von Bergisch Gladbach“ für Furore sorgte, in seinem Nachwort die religionskritischen Implikationen des Romans systematisch herausarbeitete, beschränkt sich Carsten Polzin in dem seinen auf das Nachbeten wirkungsvoller Phrasen und munteres Schwadronieren. Man sieht sich hier einem Dokument der Ratlosigkeit gegenüber.
Dass Moorcock Besseres geschrieben habe, ist Polzins tiefste Erkenntnis, von welcher noch Generationen von Nachwortschreibern zu zehren vermögen. Trotz mancher nicht näher benannter Schwächen könne das Werk niemanden kalt lassen und wirke noch immer verstörend, kontrovers und provokant. Worin sich diese Wirkung in der Zeit seines Erscheinens gezeigt habe, verschweigt uns Polzin leider – die ältere Sekundärliteratur schweigt sich hierzu zwar auch aus, hat aber im Gegenzug niemals derartiges behauptet. Polzin ergeht sich des weiteren in grundsätzlichen Überlegungen zur Problematik der Zeitreisegeschichte, nur um dann zu dem Schluss zu gelangen, dass es Moorcock gar nicht darum gegangen sei, logische Vexierspiele in der Tradition von Robert A. Heinleins „Door into summer“, „By his bootstraps“ und „All you zombies“ zu konstruieren. Gekrönt werden seine Ausführungen durch Reflexionen zur Frage, wie es sein könne, dass Glogauer im vorliegenden Band gekreuzigt werde, in dem Episodenroman „Breakfast in the Ruins“ aber wieder als Hauptfigur agieren könne, und ob die ganze Geschichte nur auf einer Einbildung beruhe. Über die anderen, „besseren“ Bücher Moorcocks erfährt man lediglich, dass viele von ihnen den „Status zeitloser Meisterwerke“ inne hätten – zumindest bezüglich der Elricromane präzisieren sich die Angaben dahingehend, dass es sich hierbei um moderne Fantasy-Klassiker handle, deren „schöpferische Kraft bis heute unerreicht“ sei.
Das Sahnehäubchen hält indes zweifelsohne der Klappentext bereit. Hier erfährt man nämlich, neben den bereits zitierten Geistesblitzen, welche Art von Lesern sich durch dieses Buch besonders angesprochen fühlen sollte: „Ein Muss für alle Fans von „Das Jesus-Video“. Angesichts der Tatsache, dass es im deutschen Sprachraum ausserhalb von Spezialperiodika kaum eine fundierte feuilletonistische Auseinandersetzung mit der Science Fiction gab und man diese Fehlentwicklung ab den 1990er Jahren bedauerlicherweise statt mit Besonnenheit lieber mit viel Hurra zu korrigieren bestrebt war, ist die ahistorische Verquickung zweier in ihren Intentionen höchst unterschiedlicher Romane nicht weiter verwunderlich, aber nicht weniger grotesk. Man stelle sich eine Neuausgabe der „Buddenbrooks“ mit dem Vermerk „Für alle Freunde von Tellkamps ´Turm´“ oder eine Neuausgabe der „Strahlungen“ mit dem Appetizer „Das Geschenk für alle Fans von Littells ´Wohlmeinenden´“ vor. Womit man wohl in 40 Jahren einer zukünftigen Leserschaft Eschbach schmackhaft machen wird?
Seit den 1960er Jahren liegt ein Grossteil des Moorcock´schen Schaffens auf Deutsch vor, und bis Mitte der 1980er Jahre konnte man seine literarische Entwicklung praktisch in ihrer vollen Bandbreite auch hierzulande studieren. Wie bei so vielen Fantasy- und SF-Autoren brach jedoch auch seine deutschsprachige Rezeption irgendwann ab oder verengte sich auf einige wenige kommerziell ertragreiche Dauerbrenner. Die von Dietmar Dath gerühmten Colonel Pyat-Romane kamen über eine halbwegs erfolgreiche Übersetzung des ersten Bandes nicht hinaus, die Cornelius-Chroniken und die Legenden vom Ende der Zeit konnten sich nicht halten, Dorian, Corum und Elric behaupteten sich hingegen problemlos, andere Inkarnationen des „Ewigen Helden“ wie der Marskrieger Michael Kane, Captain Oswald Bastables oder John Daker alias Erekose irrlichterten hin und wieder auf. Das literarische Werk Moorcocks ab den 1990er Jahren kennt man in Deutschland fast nur in Form neuerer Elric-Fortsetzungen oder Ergänzungen von Handlungslücken der bereits bekannten Abenteuer. Der Moorcock von „Mother London“, in dem manche Kritiker gar einen zweiten Joyce zu sehen vermeinten, blieb uns bislang Fama.
Gänzlich untergegangen sind bei uns seine Einzelromane und Erzählungen – wer die künstlerisch radikalen und vielleicht auch weitgehend geglückten, zumindest geglückteren Werke als „Behold the man“ kennen lernen möchte, ist auf das moderne Antiquariat angewiesen. Erinnert sei an „Der Schwarze Korridor“, eine psychedelische Space Opera, die womöglich Moorcocks gewagtestes „New Wave“ – Experiment repräsentiert und Anfang der 1970er Jahre in der wegen ihrer qualitativen Achterbahnfahrten berüchtigten Reihe „Fischer Orbit“ erschienen ist, an „Die Goldene Barke“ (Goldmann), Moorcocks ersten Fantasy-Roman überhaupt, eine wilde Mischung aus Burroughs (sowohl Edgar Rice, als auch William Seward), Mervyn Peake, Kafka und Brecht, an die Erzählungsbände „Der Zeitbewohner“ (Luchterhand) und „Der Eroberer“ (Ullstein; darin u. a. auch die Novellenfassung von „Behold the man“). Solche Sachen „gehen“ heutzutage nicht mehr, sie „ziehen“ nicht. „Gehen“ und „Ziehen“ tut „Behold the man“, ein letztlich banaler Roman mit berührenden Momenten, der dank seiner Thematik vom Nimbus des Provokanten und Progressiven umwabert ist und dem somit stets ein gewisses Grundinteresse garantiert sein dürfte, der sich jedoch auf lange Sicht vor allem als hemmend auf eine umfassende und unvoreingenommene neue deutschsprachige Moorcockrezeption auswirken dürfte.

Michael Moorcock:
I.N.R.I. oder die Reise mit der Zeitmaschine
Aus dem Englischen übertragen von Jürgen Langowski
Mit einem Nachwort von Carsten Polzin
Piper Verlag, München / Zürich 2007
190 Seiten, 7,95 EUR
ISBN: 978-3-492-28618-3