Martin Compart


LEBEN UND STERBEN LASSEN… meint DR.HORROR by Martin Compart
14. Mai 2020, 10:25 am
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…war nicht nur der Titel eines Roger Moore-007, es ist auch das Schreckgespenst einer Wirklichkeit, die mit der unheimlichen Medien-Präsenz eines Zombie-Seuchen-Films über uns hereingebrochen ist.

Epidemien und Pandemien gehören zu den zyklisch auftretenden Damoklesschwertern der Menschheitsgeschichte: Pocken, Masern, Fleckfieber, der Schwarze Tod, Cholera und Spanische Grippe, Kollateralschaden eines globalisierten Krieges. O-Ton Boris Palmer: „Ich sage es Ihnen mal ganz brutal: Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären – aufgrund ihres Alters und ihrer Vorerkrankungen.“

Wenn das, möchte man mit dem mythologischen Nazarener ausrufen, wenn das schon mit dem grünen Holz geschieht, was wird dann erst mit dem dürren werden?

Was wird dann nach der zweiten oder dritten Welle von Covid-19 sein? Wird die Welt nachher wieder so sein wie vorher?

Werden die Jecken in Heinsberg wieder Kappenfeste feiern dürfen?

Wird Deutschland je wieder Fußball-Weltmeister werden?

Wird am Ende kommen, was Untergangspropheten schon lange versprechen: eine weltweite Rezession – Finanzcrash – Währungsschnitt – Massenarbeitslosigkeit – und Schlimmeres noch: nein, nicht die Klimakatastrophe, die sowieso, sondern ein Hauen & Stechen um Klopapier und ein Dammbruch der Fäkalien?

Stets war und ist man in solchen Situationen, die angeblich ebenso wenig vorhersehbar war wie Apokalypse und Jüngstes Gericht (O-Ton Jens Spahn, noch im Februar ein Apologet der „aufmerksamen Gelassenheit“: „Im Nachhinein ist man schlauer“) und deren Wahrscheinlichkeit doch jedem Virologen seit einem Jahrzehnt bewusst war, auf der Suche nach möglichen Verursachern: Juden, die die Brunnen von Christen vergiften; Hexen, die schuld waren an Missernten; augenblicklich die Fledermaus-fressenden Chinesen. Schnell waren und sind Antisemiten, Hexenjäger, Trump-Jünger und andere Verschwörungstheoretiker zur Stelle: gar ein Unfall im Wuhan-Labor chinesischer Vampire, die Fledermäuse untersuchten?

Das Coronovirus selbst – Lock Down hin, Lockerungen her – soll uns hier nicht beschäftigen, wohl aber die möglichen gesundheitlichen Langzeitfolgen, die es bei Infizierten auslösen mag, vom temporären Verlust des Geschmackssinns bis hin, man kennt es doch aus diesen Zombiefilmen, zum permanenten Verlust des sogenannten gesunden Menschenverstands.

Was aber kommt nach dem Verlust des gesunden Menschenverstands? Was kommt nach Spahn, Karliczek und Andi Scheuer, der das einzige, was er tun sollte, nicht getan hat: die politische Verantwortung für seine dämlichen Handlungen übernehmen?
Doch wohl nicht der Chef-Stratege des freien Marktes: Christian „Moomax“ Lindner, der schon als junger Mann einen Porsche fuhr, sehr bald Insolvenz anmelden musste, dabei zwei Millionen in den Sand setzte und stattdessen FDP-Chef wurde?

Oder Friedrich Merz: „Ich traue mir zu, die CDU in die Zukunft zu führen“?

Oder der seinem Naturell entsprechend schwammig formulierende Peter Altmaier, der „Ludwig Erhard des 21. Jahrhunderts“? Heile heile Mausespeck. In hunnerd Jahr is alles weg.

Wir können von Glück sagen, dass die extreme deutsche Rechte überwiegend aus größeren Hohlköpfen geschnitzt ist. Während das Virus sich schon zur Pandemie auswuchs, machte B. Höcke in Thüringen noch seine Mätzchen. (Oder wird gerade mangelnder Sachverstand gepaart mit populistischer Ignoranz unsere Zukunft besiegeln, so dass wir wieder zurück in die germanischen Wälder müssen, als Bewohner kränkelnder Bäume womöglich?)

Leider stehen zu viele Science-Fiction-Autoren noch in der Tradition der Raketenhefte (Liest du schon wieder Raketenhefte? fragte die um das Wohl des Sprösslings besorgte Mutter und warf sie in den Ofen: Kindheitstrauma jedes Sammlers).

Jetzt könnte man nach Herzens- und Pessimistenlust Orwellsche Dystopien entwerfen. Tatsächlich beschleunigt die Pandemie nämlich nur, was längst im Busch war: die Geburtswehen einer neuen Zeit.
Was Orwell im Stalinismus vermutete, ist längst Bestandteil der sich wie ein Krebsgeschwür ausbreitenden digitalen Globalisierung geworden: Neusprech – totale Überwachung – Gehirnwäsche. Freiwillig öffnen wir uns den großen Brüdern Google, Facebook & Co. Würde es eines Tages ein „ewiges Leben“ in der Virtualität von Mind Control geben, wer weiß, wie viele ihre Körperlichkeit aufgeben würden für ein Linsengericht oder ein Freibier. Na gut, wir wollen mal nicht kleinlich sein: zwei Freibier.

Nein, ein Zurück in die Sicherheit des Mutterschoßes zwischen Befreiung vom Hitler-Faschismus und Kubakrise wird es nicht geben.

Vielleicht wird es auch der Anfang vom Ende der medialen Blockbuster sein, die vor Marvelscher Kraft kaum laufen konnten. Besonders hart trifft es zurzeit den Disney-Konzern. Aber die Start-ups der Zukunft, die Disney und seinesgleichen ablösen werden, stehen schon in den Startlöchern. Sie setzen auf Cocooning und Home Entertainment.
Aber um richtig effizient zu wirken, brauchen sie etwas mehr als eine Mattscheibe mit Schreibmaschine davor, sprich: mehr als PCs, sie brauchen ein Ding, das den „Volksgenossen“ richtig in die verseuchte Birne geht und jede Menge virtuellen Shit dort ablädt. Die Labors in Wuhan und anderswo in China arbeiten bekanntlich schon daran, das menschliche Gehirn zu infiltrieren, wenn man den amerikanischen Geheimdiensten glauben will.

Wird es irgendwann in Zukunft, so absurd, perfide und ungeheuerlich das klingen mag, virtuelle „Gaskammern“ geben statt Suppenküchen: wo die Armen und bösen Buben nicht wie in Pinocchio in Esel verwandelt werden, sondern in geistlose Energie? Natürlich wird man nicht von „Gaskammern“ sprechen, sondern von Herausforderungen in der Unendlichkeit des digitalen Universums.

Rolf Giesen

PS: Sie können diesen Artikel auch ausdrucken und ihn in Notzeiten als Klopapier-Ersatz verwenden. Der Autor hat nichts dagegen einzuwenden.

Mach mal wieder Home Entertainment – echt gut!



QUENEAU IN DEN MEAN STREETS: JAMES SALLIS by Martin Compart

(Nachwort zu DEINE AUGEN HAT DER TOD; DuMont Noir Bd.7., 1999)

Für Verleger – und mehr noch Übersetzer – ist James Sallis die Herausforderung oder schlechthin ein Alptraum! Der Mann, der einen der faszinierendsten und schwierigsten Stile in der zeitgenössischen amerikanischen Literatur schreibt, kann einem Übersetzer das Leben zur Hölle machen. „Das weiß ich“, grinst der Autor, „schließlich habe ich mir selbst als Übersetzer aus dem Französischen an Raymond Queneau die Zähne ausgebissen. Er war der erste französische Autor, in den ich mich verliebte. Seine Bücher sind sehr seltsam und schwebend. Er treibt eine Menge Scherze auf Kosten der Leser, deren Erwartungshaltungen und sich selbst. Es gibt nichts ähnliches in der englischen Literatur. Er hat mich sehr beeindruckt.

Ein Teil von Sallis‘ Originalität begründet sich bestimmt in der tiefschürfenden Beschäftigung mit Queneau und dem nouveau roman. Der „New Orleans Time“ ist zuzustimmen, wenn sie schreibt: „Sallis trifft präzise jedes Detail und jede Nuance, jeden Schritt, jedes ölige Krabbensandwich und jede ausgebrannte Neonreklame… Sein Schreibstil ist elegant und sparsam – einfach atemberaubend.“ Sallis ist keine simple Lektüre, aber wenn man sich erst einmal auf ihn eingelassen hat, wird man auf einzigartige Weise dafür belohnt. Sallis ist mit Sicherheit einer der vielseitigsten Autoren, die man in der schier unerschöpflichen, vitalen angelsächsischen Literatur findet.

Geboren wurde er am 21.Dezember 1944 in Helena, Arkansas.
Als Kind schon war er ein begeisterter Science Fiction-Leser; seine erste Lektüre war THE PUPPET MASTERS von Robert A. Heinlein.
Er studierte in New Orleans und an der Universität von Texas in Arlington russische und französische Literatur. 1964 bis 1966 war er Lyrikredakteur der renommierten kanadischen Literaturzeitschrift „Riverside Quarterly“. 1964 heiratete er zum ersten Mal. Damals verkaufte er auch seine ersten Kurzgeschichten: Science Fiction-Stories.

Während eines Schriftsteller-Workshops traf er den britischen SF-Autor Michael Moorcock, der einige seiner Geschichten gekauft hatte und Herausgeber des avantgardistischen britischen Science Fiction-Magazins „New Worlds“ war.

Dieses Magazin hatte wesentlich die stilistische Weiterentwicklung des Genres zur sogenannten New Wave der sechziger Jahre vorangetrieben. Nicht mehr Edgar Rice Burroughs mit seiner Fantasy-SF oder Isaac Asimov und Robert Heinlein mit ihrer meist soziale Strömungen negierenden Hardcore-SF bestimmten die Richtung des Magazins, sondern Autoren, die sich eher auf William Burroughs und H.G.Wells beriefen. New Wave-Autoren wie James Ballard, Thomas Disch oder Norman Spinrad befreiten die erstarrte Science Fiction von technologischen Träumen und Pulp-Klischees und überschritten durch stilistische Experimente und neue Themen die verkrusteten Grenzen des damals vielgeschmähten Genres.

Moorcock stützte auch finanziell das Magazin, indem er als Lohnschreiber Fantasy-Zyklen für andere Verlage verfasste. Er wollte das Magazin nicht in Personalunion als Herausgeber und Redakteur führen und sich mehr auf seine schriftstellerischen Arbeiten konzentrieren. Also suchte er einen Seelenverwandten für die redaktionelle Tätigkeit. Nachdem er nächtelang mit Sallis über Science Fiction diskutiert hatte, bot er ihm den schlechtbezahlten Job als Redakteur von „New Worlds“ an. „Ich wusste nichts über die redaktionelle Arbeit an einem solchen Magazin. Außerdem hatte ich kein Geld. Also nahm ich an.“

Er zog nach London und betreute „New Worlds“ bis 1968. Damals kam er erstmals mit Kriminalliteratur in Berührung: „Mike Moorcock gab mir seine Raymond Chandler-Bücher. Ich las das komplette Werk in drei Tagen und Nächten. Danach war ich nicht mehr derselbe. Chandlers Werk ist für die Literatur von größerer Bedeutung als viele Autoren, die von Akademikern in den Pantheon gestellt werden. Chandler ist mindestens so wichtig wie Hemingway oder Fitzgerald. Ich begann mich für das Genre ernsthaft zu interessieren und versuchte alle wichtigen Autoren zu lesen. Vor allem Jim Thompson, David Goodis, Chester Himes und Horace McCoy beeindruckten mich neben Hammett und Chandler.“

Sallis lebte in einem kleinen Appartement in der Nähe der Portobello Road und teilte das pulsierende Leben der Swinging Sixties im damaligen Nabel der popkulturellen Welt. Die Freundschaft mit Mike Moorcock hält bis heute an.

Neben Crime-Autoren und Science Fiction verschlang Sallis vor allem französische Literatur. Eine Leidenschaft, die ihn die bis heute nicht loslässt und ihn 1993 SAINT GLINGLIN von Raymond Queneau ins Amerikanische übersetzen ließ.

Michael Moorcock

Als 1967 Auszüge aus Norman Spinrads Roman BUG JACK BARRON – eine bitterböse Geschichte über Medienmacht und Machtpolitik – in „New Worlds“ erschienen, befasste sich das Unterhaus mit dem Magazin, strich wegen Verbreitung angeblicher Obszönität die überlebenswichtige Kulturförderung und nannte Spinrad einen „Degenerierten“.
Als dann auch noch W.H.Smith, der größte Zeitschriftenverteiler „New Worlds“ aus dem Vertrieb nahm, stand dem Magazin, das eine so wichtige Rolle in der Entwicklung der modernen SF gespielt hatte, das Wasser bis zum Hals.

„Damals ging ich in die Staaten zurück, um meine Ehe zu retten. Es klappte nicht, und ich war zu arm, um wieder nach London zu gehen. Das bereue ich bis heute.“

Er schrieb weitere SF-Stories und gab zwei Anthologien heraus: THE WAR BOOK (1969) und THE SHORES BENEATH (1970). Daneben arbeitete er eine Weile als Kunst-, Literatur und Musikkritiker für „Boston After Dark“ und „Fusion“.

Eine seiner großen Leidenschaften ist die Jazzmusik, und seine legendären Besprechungen in „Texas Jazz“ führten zu den Büchern THE GUITAR PLAYERS (1982), JAZZ GUITARS (1984) und THE GUITAR IN JAZZ (1996). Er selbst spielt Waldhorn, Violine, Gitarre, Mandoline und Dobro und nennt seine musikkritischen und historischen Untersuchungen musicology. Einige Zeit spielte Sallis an Wochenenden in Clubs, um sein bescheidenes Gehalt als Lehrer aufzubessern. Er unterrichtete zeitgenössische Lyrik und Europäische Literatur am Clarion College in Pennsylvania und an den Universitäten in Washington, Tulane und Loyola, New Orleans, bevor er sich in Phoenix, Arizona niederließ, wo er heute mit seiner zweiten Frau Karyn lebt.

Die 70er Jahre waren sehr unstet, und Sallis ließ sich treiben, arbeitete in Krankenhäusern, kümmerte sich um Sterbende, schrieb Lyrik und soff die halben Alkoholvorräte des Südostens weg.

Ende der 80er Jahre beschäftigte er sich intensiver mit der Noir-Literatur und schrieb Essays über Jim Thompson, David Goodis und Chester Himes (sie wurden in dem Bändchen DIFFICULT LIVES, das 1993 im kleinen Brooklyner Verlag Gryphon erschien, gesammelt und werden auf Deutsch als Anhang der Griffin-Romane und in NOIR 2000 erscheinen).

Als er Anfang der 70er Jahre in New York lebte, entdeckte er Chester Himes, dessen absurd-realistische Romane ihn tief beeindruckten und zwei Jahrzehnte später Sallis Imagination für eine Noir-Serie aufladen sollten. „Meine Kenntnis von New Orleans und das Leben von Chester Himes inspirierten mich zu meinem Held Lew Griffin. Lews Passivität, die Art, wie er von Krise zu Krise getrieben wird und seine ausschließliche Liebe für weiße Frauen ist Chester Himes. Genauso sein Alkoholismus. Es gibt eine Menge Überschneidungen. Vieles ist von Himes‘ Roman THE PRIMITIVE (1955) inspiriert. Es ist das Buch von ihm, das ich am meisten bewundere. Ich kaufe jedes gebrauchte Exemplar in Secondhand-Shops, um sie zu verschenken. Ich wuchs im Süden auf und kenne die Welt der Schwarzen. Ich liebe schwarze Literatur und schwarze Musik. Als Kind spielte ich ausschließlich mit schwarzen Kindern. Bis ich zehn Jahre alt war und man mir sagte, dass das nicht mehr ginge.“

Natürlich bekommt Sallis heute öfters zu hören, dass es schon sehr merkwürdig sei, dass ein weißer Autor über einen schwarzen Protagonisten schreibe. Aber da ist Sallis nicht der erste: Zuvor taten die schon Ed Lacey, John Ball (die beide mehr oder weniger für dieses Unterfangen mit dem Edgar Allan Poe-Award ausgezeichnet wurden) und Shane Stevens.

Mit dem ersten Lew Griffin-Roman begann sein Durchbruch. Nun wurde er als Romancier und Erneuerer des Privatdetektivromans ernst genommen.

„Als ich begann, geschah in der Science Fiction ungeheuer viel neues. Michael Moorcock mit New Worlds und Damon Knight mit Orbit ermöglichten plötzlich tiefe, eigene Erfahrungen in phantastische Literatur umzusetzen, jenseits von Space Operas. Heute, denke ich jedenfalls, ermöglicht die Noir-Literatur diese innovativen Visionen bei einer eingeweihten Leserschaft. Die großen zeitgenössischen Kriminalliteraten sind großartige Schriftsteller, die auch außerhalb des Genres zu den besten zählen würden. Autoren wie Stephen Greenleaf, James Lee Burke oder George P.Pelecanos. Mit meinen Griffin-Romanen versuche ich die Energie und den klassischen Rahmen des Genres Private Eye-Novel mit intensiver Sprache und Charakteren zu verbinden. Damit das klar ist: Ich will das Genre nicht auflösen oder diskriminieren, ich nutze seine Kraft.“

Trotzdem sind diese Genre-Romane weniger Privatdetektivromane als Romane über einen Privatdetektiv. „Ich lese PI-novels Wegen der Atmosphäre und des Tons. Der Plot interessiert mich kaum.“ Die weiteren Charaktere, alles ausgereifte, dreidimensionale Persönlichkeiten, sind meistens Angehörige gesellschaftlicher Außenseitergruppierungen: Drogensüchtige, Homosexuelle, Prostituierte und Nachtarbeiter. „Ich selbst habe fast immer eine Randgruppenexistenz geführt und kenne diese Menschen am besten. Vielleicht mache ich es mir damit zu einfach, aber meine Werte – und die in meinen Büchern – sind mit Sicherheit nicht die der Mittelschicht. Eines meiner größten Vergnügen in diesen Romanen ist das Brechen von Klischees. Ich nehme ein Stereotyp wie etwa einen Privatdetektiv, um dann die gewohnten Vorstellungen zu brechen. Mit DEINE AUGEN HAT DER TOD habe ich dasselbe für den Agententhriller versucht.“

Neben den Romanen nehmen Literaturkritik und Essays weiterhin breiten Raum in seinem Schaffen ein. Er schreibt regelmäßig für die „Washington Post“, „New York Times Book Review“ und die „L.A.Times“. Als begeisterter Kriminalliterat hat er trotz seines Erfolges aber nie seine Verbundenheit mit dem Fandom verloren, und so schreibt er weiterhin unentgeltlich für „Mystery Scene“, „Crime Time“ und andere Magazine hochkarätige Besprechungen und Kritiken. Seine jüngsten Essays über George P.Pelecanos‘ DAS GROSSE UMLEGEN (DuMont Noir Band 6) und James Lee Burke (die in dem DuMont-Noir Reader NOIR 2000 auf Deutsch erscheinen), gehören zum Intelligentesten, das in jüngster Zeit über das Genre geschrieben wurde.

DEINE AUGEN HAT DER TOD war vielleicht ein einmaliger Ausflug von Sallis in die Welt der Geheimagenten. Aber der beklemmende, aufwühlende Roman ist – typisch Sallis – nur insofern ein Roman über Spionage und Agenten wie Graham Greenes BRIGHTON ROCK ein Roman über Jugendkriminalität in Südengland ist.

Es ist ein existentielles Katz-und-Maus-Spiel auf dem gigantischen Spielbrett der amerikanischen Landschaft und führt durch Diners und Motels, die das Schlachtfeld sprenkeln wie Plastikhäuschen ein Monopolybrett. Eine metaphysische Reise durch das Herz der Finsternis des amerikanischen Traumes.
Jonathan Lethem verglich das Buch mit Borges und Trevanians Klassiker SHIBUMI.

Sein Hauptwerk bleibt nach wie vor die Geschichte von Lew Griffin, die er, beginnend mit DIE LANGBEINIGE FLIEGE (DuMont Noir Band 11), in bisher fünf Romanen erzählt, die man als nouveau Privatdetektivroman bezeichnen kann.
Wie Queneau bricht Sallis die Erwartungen, die der PI-Genre-Leser den Büchern gegenüber hat. Als Queneau der Mean Streets ist sich Sallis der Künstlichkeit der Genrestruktur bewusst und lässt trotz aller Ernsthaftigkeit keinen Zweifel am fiktionalen. „Wenn Sie nicht wissen, daß Ihnen in diesen Seiten eine Geschichte erzählt wird, dann frage ich mich, wo zum Teufel Sie in den letzten vierzig Jahren gelebt haben? Schließlich geht es darum im Roman.“

Weiterhin überträgt er Rimbauds ästhetisches Konzept auf die Genre-Literatur: Pop-Literatur und populäre Kunst ist gemeinhin bestätigend. Sie sagt dem Rezipienten, dass alles, was er glaubt, richtig ist, bestätigt seine Sozialisation. „Man ist ein braver Junge, wenn man an die Normen glaubt. Wahre Kunst behauptet das Gegenteil: Woran du glaubst, ist nicht richtig. Nicht einmal annähernd. Also sollten wir mal ein bisschen nachdenken.“

THE LONG-LEGGED FLY wurde für den Shamus-Awar nominiert, ebenso MOTH; BLACK HORNET für den Golden Dagger Award der britischen Crime Writers Association und EYE OF THE CRICKET für den Anthony Award. Er erweitert das in Agonie dahinvegetierende Genre mit stilistischen Innovationen.
Dasselbe taten in den 60er Jahren die New Wave-Autoren James Ballard, Brian Aldiss, Mike Moorcock, Sam Delaney (über den Sallis einen Essay geschrieben hat) und andere in New Worlds für die Science Fiction.

Der Kreis schließt sich.

Bibliographie bis 1999:

A Few Last Words, 1972 (Kurzgeschichten)
The War Book, 1972 (Anthologie)
The Shores Beneath, 1973 (Anthologie)
The Guitar Players, 1973 (Musicology; Anthologie)
Jazz Guitars, 1982 (Musikkritik)
Difficult Lives, 1993 (Essays über Jim Thompson, Chester Himes und David Goodis)
The Guitar Players, 1994 (Erweiterte Neuauflage)
Limits of the Sensible World, 1994 (Mainstream-Kurzgeschichten)
Renderings, 1995 (Roman)
The Guitar of Jazz, 1996 (Musicology)
Ash of Stars, 1996 (Essays)
Death Will Have Your Eyes, 1997 (Thriller. Deine Augen hat der Tod, DuMont Noir Band 7)
Chester Himes: A Life, 1999 (Biographie)

Lew Griffin-Serie:
1. The Long-Legged Fly, 1992 (Die langbeinige Fliege, DuMont Noir Band 11)
2. Moth, 1993
3. Black Hornet, 1994
4. Eye of the Cricket, 1997
5. Bluebottle, 1999.



CHARLES DEWISME WIRD 100 UND BOB MORANE 65 JAHRE ALT 4/ by Martin Compart

In Frankreich und Belgien haben Heftromane oder Dime Novels seit dem Ende des 2.Weltkriegs keine Bedeutung mehr.
Mit dem Aufkommen des Taschenbuches als Massenphänomen wanderte auch das serielle Erzählen in billige Broschüren, die als „Roman-de-Gare“ bezeichnet werden (dieser Terminus wird allerdings auch auf erfolgreiche Einzeltitel bezogen, die der Unterhaltungsliteratur zugeordnet werden). Die Taschenbuch-Serien, den amerikanischen Paperback Original-Serien verwandt, konnten phänomenale Erfolge verbuchen. Angefangen bei Reaktionären wie OSS 117 über SAS MALKO bis hin zum Linksaußen LE POULPE (der von namenhaften Noir-Autoren geschrieben wurde).

Dieser Literatur begegnete die bourgeoise Literaturkritik in Frankreich ähnlich borniert wie die unbedarfte deutsche.

Der Ausstoß von 6 bis 12 Titeln im Jahr sorgt für Arbeitsbedingungen, die denen des deutschen Heftroman ähneln. Eine Arbeitsweise, die viel Selbstdisziplin und eine besondere Art von Professionalität der Autoren verlangt.

Diese Bedingungen galten auch für Henri Vernes, als er 1953 mit BOB MORANE begann. Fünf BM-Romane erschienen 1954, sechs im Jahr 1955, sieben 1956 und 1957. Das Standardformat dieser kurzen Romane waren vierzehn oder fünfzehn Kapitel mit einer Gesamtlänge von ca.150 Seiten.

Bis 1976 hielt Vernes die Produktion von durchschnittlich fünf BM pro Jahr.

„Ich hatte eine gute journalistische Schule, und das Schreiben ging mir leicht von der Hand. Mit Kunst hatte das nichts zu tun, das war ein Job, ein Beruf. Ich schrieb Bücher, wie ein Tischler Möbel herstellt. Mein Lieblingsbuch war immer das, was ich gerade fertig hatte. Wenn ich die letzte Seite beendet habe, lege ich es auf die Seite und vergesse es. Es ist vorbei.“

Von dickleibigen Bestsellern hält Vernes gar nichts: „Diese Art und Weise, in der die heutigen Romanautoren ihre Handlung zu einem Wirrwarr nutzloser Sätze und Wörter verdicken. Stephen King etwa… Ich konnte nie eines der Bücher über das erste Kapitel hinaus lesen.“

Bei BM ging Vernes von einem Titel und einer Ausgangssituation aus um dann zum großen Teil zu improvisieren. Die Einführung des Sidekicks Bill Ballantine hatte einfache dramaturgische Gründe: „Ich brauchte ihn, um Dialoge zu führen. Denn der Dialog zwischen Bill und Bob bringt Leben in die Geschichte.“

Auffällig in den ersten zwanzig Jahren sind die vielen Romane, deren Handlung sich um Revolutionen oder Behauptung gegen Staatsstreiche drehen. Das ist wohl dem „Wind of Change“ gedankt und den Unabhängigkeitsbestrebungen in belgischen und französischen Kolonien. In diesen Romanen steht Morane entweder auf Seiten der Verschwörer oder Revoluzzer (wenn es im westlichen Sinne gegen brutale Diktatoren geht) oder auf Seiten „gerechter Herren“, die von Verschwörern bedroht sind. Vernes verklärt den Westen als den Machtblock, der auf Seiten der Gerechtigkeit und Menschlichkeit eingreift, wie damals in fast allen Medien üblich. Die Schweinereien der Kolonialmächte bis hin zum Einsetzen von Gruselmarionetten wie Mobutu oder Bokassa, thematisiert er nicht.

Für mich war und ist Gerald Forton der beste BM-Zeichner (bei dem auch Milton Caniff „durchschimmert“).

Ich habe meine Reisen als Basis benutzt. Ich war nicht immer sehr ehrlich, aber wenn man über ein Land schreibt, wie es wirklich ist, funktioniert es nicht, es muss träumerisch beschrieben werden. Zu Beginn von Bob Morane war das eine gute Zeit, mit diesen noch unbekannten Gebieten auf den Karten, in die noch kein Europäer einen Fuß hingesetzt hatte.

Ich mochte einige Gegenden besonders gerne, also ging ich regelmäßig dorthin. Heutzutage ist es extrem schwer, versteckte Städte oder Dinosaurier im Dschungel zu entdecken. Dies ist wahrscheinlich der Grund, warum Bob Morane mehr Abenteuer in der Zeit oder in parallelen Welten erlebt.“

Mitte der 1960er Jahre dürfte Henri Vernes auf dem Höhepunkt des Erfolges mit BM gewesen sein. Angeblich verkaufte er damals nur in Quebec von jedem Roman um die 100.000 Exemplare. Und zu seinen berühmten Fans gehörten Bernard Henri Lévy, Christophe Gans und Claude Allègre.

Vieles wirkt heute extrem antiquiert. „Nicht in der Aktion – da kommt er nicht aus der Mode, sondern in den Details. Meine ökologischen Ideen habe ich zum Beispiel auf Bob Morane übertragen. Die Idee von Gut und Böse ist relativiert, weil gut und böse nicht existieren. Das Gute von heute wird zum Bösen von morgen und umgekehrt.

In der Tat ist Bob Morane der am wenigsten wichtige Charakter in den Romanen. Ein sehr manichäischer Charakter, der die Qualität oder den Mangel aller Charaktere dieser Art darstellt.
Aus meiner Sicht überlebt kein fiktiver Charakter hundertzwanzig Jahre. Tintin zum Beispiel ist altmodisch, lebt nur von seinem Ruf. Im Gegensatz zu Hergé möchte ich, dass Bob Morane mich überlebt, um neue Abenteuer zu erleben, und Bob Morane ist nicht wie Tintin ein Nazi und Antisemit.“

Autoren, außer den Klassikern der Pop-Literatur, die er bewundert?

„Es gibt einen zeitgenössischen Autor, den ich am meisten bewundere: Blaise Cendrars. Er ist übrigens Schweizer: Blaise Cendrars. Was für ein erstaunlicher Geschichtenerzähler!“ Cendrars, bewundert von Henry Miller, war ebenfalls ein Weltenbummler wie Vernes, der inzwischen über fünfzig Jahre in Brüssel lebt. „Es ist eine angenehme Stadt, in der ich meinen Gewohnheiten nachgehen kann. Über die Märkte gehen und in Antiquariaten stöbern. Außerdem sind hier viele Freunde, die leider nach und nach wegsterben.“

„Ja, ich bin sehr pessimistisch. Viele Probleme in der Welt sind auf Überfluss zurückzuführen. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es nur zwei Milliarden, jetzt sind es bereits sieben Milliarden, wenn das so weitergeht, werden wir in eine unmögliche Situation geraten. Wir wollen alles beherrschen, die Welt, die anderen Arten. Und aus moralischen und religiösen Gründen wird diesem Unsinn nichts entgegengesetzt.“

Wahrscheinlich hängt es mit dem Alter zusammen, dass Vernes´ Einstellung zum Leben immer pessimistischer geworden ist.

„Ich glaube weder an Götter, noch an Gerechtigkeit, denn das Leben selbst ist ungerecht, eine ungeheure Lüge, eine Falle, ohne Gerechtigkeit und Hoffnung. „

Die Welt besteht aus Lügen?

„Ja, das glaube ich.“

Politik?

„Regierungen sind die schlimmsten Lügner. Und die schlechtesten. Alles auch noch schlecht gemacht.“

Für einen selbst gibt es in dieser Welt der Unterdrücker nur zwei Überlebensstrategien, meint Vernes: Unterwerfung oder Anarchismus.

„Sicher, es ist schrecklich, dass Bomben nichts mehr bewirken. Im 19. Jahrhundert revolutionierten Anarchisten die Gesellschaft, indem sie Bomben warfen, denn das trieb den Sozialismus voran. Ich würde manchmal gerne Bomben werfen, aber ich habe nicht den Mut.“

1970 waren von BM über 15 Millionen Exemplare verkauft worden.

Zum 20.Jubiläum fand in einem Einkaufszentrum am Stadtrand von Brüssel die erste Ausstellung über BM statt. Im Oktober 1985 wurde ihm in Durbuy, Belgien, eine zweite Ausstellung gewidmet. Im November 1986 folgte in Mons eine dritte mit dem Titel “ 33 Jahre Bob Morane“. Während dieser Ausstellung wurde auch der „Bob Morane Club“ gegründet. Zum 40-jährigen Jubiläum fand im Dezember 1993 in Paris eine vierte Ausstellung mit dem Titel „Bob Morane, 40 Jahre Abenteuer“ statt. 1997 wurde ein Dokumentarfilm produziert „Henri Vernes, un aventurier de l’imaginaire“ und 1999 wurde Henri Vernes von der französischen Kultusministerin Catherine Trautmann als „Officier dans l’Ordre des Arts et des Lettres“ ausgezeichnet.

1977 geriet Marabout in finanzielle Schwierigkeiten. Vernes verließ den Verlag, nachdem er 142 BM-Abenteuer dort veröffentlicht hatte. Von 1978 bis 1980 publizierte er zehn weitere BM-Titel bei „Librairie des Champs-Elysées“. Dann wechselte er für zwei Titel zu „Bibliothèque Verte“.

Von 1982 bis 88 erschien kein neuer Bob Morane-Titel.

Aber der Autor drehte nicht nur Daumen: Patrick Séry, der Verleger von „Fleuve Noir“, schlug Vernes vor: „Warum machst du nicht irgendwas wie SAS MALKO?“

Unter dem Pseudonym Jacques Colombo schuf Vernes die mit reichlich Sex gespickte Crime Serie DON. Der gleichnamige Charakter war das absolute Gegenteil von Bob Morane, trotz der Tatsache, dass beide Charaktere einige körperliche Merkmale teilen. Die von Bob Morane übermittelten Werte sind das Gegenteil von Don. Bob Morane hasst es zu töten, Don tut es ohne Skrupel. Aber der Hauptunterschied liegt im Sex: Während Henri Vernes in seinen früheren Romanen jeden Sex ausblendet, ist er bei DON allgegenwärtig. Deswegen auch das Pseudonym. „Ich wollte nicht, dass es irgendjemand weiß. Bob Morane ist für die Jugend und Dons Abenteuer sind für Erwachsene. Jetzt ist es ein offenes Geheimnis. Jeder weiß, dass ich die 11 DON-Romane geschrieben habe.“

Aber „Fleuve Noir“ bot ihm anschließend bis 1991 ein neues Heim für BM.

Dann wechselte er zum Verlag „Lefranq“. Der von Claude Lefranq 1989 gegründete Verlag hatte zuvor schon begonnen, die BM-Comic-Alben heraus zu bringen. Ab 1992 bezogen sich 90% der Verlagsaktivitäten auf BM.

Im Jahr 2000 gründete Lefranq mit Teilhabe von Vernes den Verlag „Ananké“ und 2010 die „Bob Morane Inc.“, der Vernes alle BM-Rechte verkaufte – mit Ausnahme der audiovisuellen Rechte. Die Idylle dauerte gerade mal zwei Jahre. Vernes war längst zu einem unberechenbaren alten Mann geworden, dessen Gemütsschwankungen gruselig sind: Mal ist er von derselben Sache begeistert, die er eine Woche später als unerträglich beschimpft. Mal will er seine Ruhe haben, dann regt er sich auf, weil er nicht gefragt wurde.

„Ich wurde nicht konsultiert, weil ich die Rechte von Bob Morane nach dem Tod meiner Frau verkauft hatte!“

Inzwischen trifft man sich sogar vor Gericht.

FORTSETZUNG FOLGT!




CHARLES DEWISME WIRD 100 und BOB MORANE 65 JAHRE ALT /3 by Martin Compart

 

PLÜNDERN ODER ZITIEREN -. SF UND WISSENSCHAFT IN BOB MORANE

Ich kenne – wie schon gesagt -keinen anderen Autor, der sich intertextuell so intensiv im Kanon der Genre-Literatur so intensiv bedient hat wie Henri Vernes. Verschiedene Journalisten und Autoren von Büchern über Vernes und BM berichteten, wie dünnhäutig Vernes reagiert, wenn er darauf angesprochen wird. Seine größte Angst ist es wohl, als großer Plagiator in die Literaturgeschichte einzugehen.

Eigentlich eine unbegründete Furcht, denn bekanntlich bauen alle Literaturen mehr oder weniger auf vorgefundene Topoi. Doch ist die Serie BOB MORANE durch ihre Langlebigkeit natürlich ein besonderer Fall, denn bei über 200 Romanen hat Vernes so oft wie kein anderer aus literarischen oder filmischen Vorbildern geschöpft.

BM entstand zu einem Zeitpunkt, als die romanische, speziell die französische, Populärkultur sich extrem mit der angelsächsischen zu vermischen begann: Nach Ende des 2.Weltkriegs überfluteten amerikanische Filme, Comics und Romane den französischen Markt (was dann zu einem von den Kommunisten eingebrachten Gesetz führte, dass den ausländische Anteil – besonders in Comic-Magazinen – begrenzte). Der Durst nach amerikanischer Pop-Kultur war fast so groß wie in Deutschland, stieß aber auf reichere Traditionen.

BM steht, wie sonst vielleicht noch MAIGRET oder FANTOMAS, für den Übergang von der französischen populären Literatur zur amerikanisierten Medienkultur.
Das geistige Universum des Autors strukturiert sich durch literarische und kinematografische Referenzen mehr, als dass es eine Darstellung der Realität ist, wie früher oft und gerne behauptet.

Man kann das aber auch positiv statt nur entschuldigend, erklärend werten: Vernes hat aus dem Recycling à la BOB MORANE eine wahre Kunstform gemacht, in der ein traditionsbewusster Leser als Sekundärvergnügen die Romane nach Vorbilder und Inspiration absuchen kann.
So erkennt ein Fan in KROUIC, 1972, eine Variation von UBIK, 1969, von Philip K. Dick.

Im ANANKÉ-Zyklus sehen manche eine Abwandlung der RIVER WORLD-Saga von Philip José Farmer (im 2. Band des Zyklus, LES PÉRILS D´ANANKÉ, 1975, treffen BM und seine Freunde gar auf Vlad Tepes, alias Dracula).

Vor allem verdankt die fantastische Atmosphäre, die so viele von Moranes Abenteuern durchdringt, Jean Ray, dem Autor von MALPERTIUS und HARRY DICKINSON, der wohl den nachhaltigsten Einfluss auf den jungen Charles Dewisme ausübte.

Die phantastische Literatur kennt Vernes mindestens so gut wie den kolonialen Abenteuerroman.

Besonders bei H.G.Wells bediente sich Vernes – wie viele SF-Autoren – häufig und gerne: Die Aliens in LES MONSTRES DE L´ESPACE, 1956, sind deutlich von WAR OF THE WORLDS „inspiriert“. In LES BULLES DE L´OMBRE JAUNE, 1970, findet man eindeutige Bezüge zu THE TIME MACHINE: Die schrecklichen Khops sind die Morlocks und die Kinder der Rose sind die Eloi.
In LE RÉVEIL DE KUKULKAN, 1994, bezieht er sich direkt auf THE ISLAND OF DR.MOREAU. THE INVISIBLE MAN übernahm Vernes für FORMULE X33, 1962.

Auch von Sir Arthur Conan Doyle übernahm Vernes vieles: Er gibt sogar zu, dass LE DRAGON DES FENSTONES, 1961, direkt vom HOUND OF BASKERVILLE „inspiriert“ wurde. Die unzugängliche Hochebene, auf der die letzten Maya leben (in LE SECRET DES MAYAS, 1955), geht direkt auf die Hochebene in THE LOST WORLD zurück (wie die vielen Saurier in verschiedenen BM-Romanen). Assoziationen zu Sherlock Holmes ergeben sich in LA MALLE À MALICE, 1976, und DES LOUPS SUR LA PISTE, 1980, und an Gaston Leroux´ Rouletabille in POISON BLANC , 1972.

Die versunkenen Welten, auf die BM immer wieder stößt, haben ihre Wurzeln bei Rider Haggard und Edgar Rice Burroughs.

Auch H.P. Lovecraft hat Spuren hinterlassen: Dagon in der gigantischen Kreatur, halb Mensch, halb Fisch, in LES SPECTRES D´ATLANTIS. Rudyard Kipling hinterlässt Spuren in LA MARQUE DE KALI. John Buchans Prophet aus GREENMANTLE findet sich wieder in MASQUE DE JADE, 1957.

Sogar Georges Arnauds Klassiker LA SALAIRE DE LA PEUR plünderte er für einige Szenen in LE CAMION INFERNAL, 1964.
Richard Mathesons THE SHRINKIN MAN, 1956, stand Pate bei L´ENNEMI INVISIBLE, 1959.

Dank der „Zeit-Patrouille“, die Vernes direkt von Poul Anderson übernommen hatte, muss Morane keine Lost Valleys mehr in Dschungeln entdecken. Er kann sich von da an direkt in vergangenen Epochen oder auf fremden Planeten austoben.

Vernes, der ja immer große Angst hat, als Plagiator bezeichnet zu werden (was er – zum Teufel – ja ist), behauptete dreist, Anderson in den USA und er selbst in Europa, hätten zur selben Zeit die jeweiligen Zeitpatrouillen entwickelt. Dies hätte nur geschehen können, wenn Vernes zwei Jahre in die Vergangenheit gereist wäre. Andersons erste Zeitpatrouille-Geschichte wurde in Frankreich im März 1956 veröffentlicht; LES CHASSEURS DE DINOSAURUS erst 1957. Eine Jagd auf Dinosaurier thematisierte zuvor schon Ray Bradbury in der Story A SOUND OF THUNDER, 1952, die in Frankreich ebenfalls 1956 veröffentlicht wurde.

Wenn Henri Vernes SF schreibt, dann ist es auf naive Weise die klassische SF mit ihren klassischen Topoi, wie Außerirdische, Weltraum- oder Zeitreisen, Genmanipulation, Atomkraft, verschwundene Zivilisationen und Große Alte. Die SF von Bob Morane kleidet sich in Konfektion; es sind Transformationen des Abenteuerromans in die SF. Vernes kreuzt sie in einer Patchwork-Welt mit dem kolonialen Abenteuerroman (der letztlich Pate der Space Opera war).

Vernes umgeht in seinen Zeitreise-Geschichten alle Probleme des Zeitparadoxons.
Was in der Zukunft passiert, findet gleichzeitig und in der Vergangenheit statt:
Wenn Morane zu einem Zeitpunkt A im Mittelalter in Schwierigkeiten ist, muss ihm die Zeitpatrouille im 23. Jahrhundert rechtzeitig ein Objekt schicken, das genau zum Zeitpunkt A ankommen muss, denn zum Zeitpunkt B könnte der Held bereits tot sein. Vernes Raum-Zeit-Verständnis suggeriert die immerwährende Gegenwart, in der alle drei Zeitinstanzen, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, gleichzeitig stattfinden.

Die Science Fiction ist mehr noch als der Abenteuerroman eine „kollektive Literatur“, in der allen Autoren alle Themen gehören und jeder an jeden anknüpfen kann um das Grundmaterial ständig zu überarbeiten. Peinlich nur, dass Vernes nur assimiliert, ohne einen neuen Aspekt bei zu bringen. Für ihn ist die SF eine reine Dekoration, die den Abenteuerroman  erneuern soll.

Aber Vernes beschäftigte sich auch ernsthaft mit der Wissenschaft (jedenfalls während der klassischen Marabout-Phase). Als Kind seiner Zeit sog er nach dem Krieg die Wissenschaftsgläubigkeit auf und sah sie auch als Möglichkeit, die BM-Serie zusätzlich zu bereichern und von anderen Jugendbuchserien abzugrenzen. Morane war schließlich ein moderner Held, voller Ingenieurswissen.

Durch seine stete Lektüre wissenschaftlicher Fachmagazine (der Chef von Marabout schickte ihm zahlreiche Artikel über die neuesten wissenschaftlichen Entdeckungen) konnte Vernes einiges antizipieren.

In der April-Ausgabe 2004 würdigte das kanadische „Quebec Science“-Magazine“ BM als die Serie, die eine ganze Generation Jugendlicher an die Naturwissenschaften herangeführt hat. Einige Beispiele dafür, wie Henri Vernes einige Entwicklungen extrapolierte und attraktiv aufbereiten konnte:

1958, in LES GÉANTS DE LA TAIGA, beschrieb er einen Wissenschaftler, der das Mammut wiederbelebte, indem er Fortpflanzungszellen von einem gefrorenen Kadaver nahm, so wie es ein japanischer Forscher 1999 tun wollte.

Die Duplikator-Maschine von Mr.Ming in LE RETOUR DE L’OMBRE JAUNE, 1960, mit der er biologische Kopien von sich selbst erstellt, hat viele Gemeinsamkeiten mit dem Klonen.

In PANIQUE DANS LE CIEL, 1954, beschrieb Vernes einen Senkrechtstarter vor dem ersten Flug der Convair XFY-1 (um Opium zu transportieren; das hätte sicherlich auch Pablo Escobar inspirieren können).

In MISSION POUR THULÉ hilft Morane den Amerikanern beim Start eines Satelliten, der der Förderung von Wissenschaft und Frieden gewidmet ist (in der Zeit mit und nach Reagen muss man das wohl unter Fantasy einordnen).

In LES MANGEURS D’ATOMES, 1961, „entwickelt“ ein Biologe einen prähistorischen Krebs, der atomare Abfallstrahlung absorbiert. Die Veränderung der Biosphäre behandelt Vernes bereits 1955 in LES FAISEURS DE DÉSERT.

Ab den 1990er Jahren beschäftigte sich Vernes zunehmend mit Ökologie. In LA TERREUR VERTE, 1969, hatte er bereits eine „Revolte der Natur“ beschrieben. In LES DÉSERT. D’AMAZONIE, 1993, thematisiert er die Abholzung des Regenwaldes. Natürlich gab es auch (dem jeweiligen Wissensstand entsprechend) einigen Unsinn zu lesen: In LES MONSTRES DE L’ESPACE beschreibt Vernes die Existenz einer Mondvegetation.

In der klassischen Phase spiegelt die Serie die Fortschrittsgläubigkeit der 1950er- und 60er Jahre in all ihrer Naivität wider. Nach 1969 – nach der Mondlandung – steigert Vernes die phantastischen Momente und verlässt die wissenschaftlichen Grundlagen zu Gunsten der Fantasy-Elemente. Mit der zunehmenden Hinwendung zu simplen Zeitreise-Geschichten, konzentrierte sich Vernes auf das am wenigsten wissenschaftliche Thema der Science Fiction.

FORTSETZUNG FOLGT



NEW KIDS AT THE BLOG: DER LUZIFER VERLAG by Martin Compart

Voller Scham gestehe ich, dass ich den Luzifer-Verlag erst vor wenigen Monaten entdeckt habe. Das lag vielleicht daran, dass sich der Verlag zuvor vor allem in phantastischen Genres profilierte.

Ich entdeckte Luzifer erst durch die deutsche Ausgabe von Douglas Winters RUN, an die ich schon lange nicht mehr geglaubt hatte. Jedenfalls war der Verlag damit explosionsartig auf meiner Karte als junger Wilder. Tatsächlich scheinen Verlage wie zuvor Festa und jetzt Luzifer, andere Wege zu gehen als die etablierten Kleinverlage und Genres orientierte Großverlage.

Das wird schon an der für deutsche Verhältnisse revolutionären Cover-Art deutlich, die viel direkter und knalliger ist; eine Modernisierung der Paperback Original-Cover-Art der 1950er und -60er mit Einflüssen aus der Game-Kultur. Und natürlich erinnert es in den Motiven an die Ästhetik der amerikanischen Men-Adventure-Paperback-Serien der 1970er (deren „postmoderner“ – Höhepunkt vielleicht die INQUISTOR-Serie über den Killer des Vatikans von Martin Cruz Smith war). Diese brutal-direkten Cover haben den angenehmen Effekt, Leserinnen dröger Provinzkrimis schon im Ansatz zu vergraulen und Leser anzulocken, die zuvor gar nicht wussten, dass Literatur genauso spannend wie Games sein kann.

Luzifer ist für mich ein richtungsweisendes Modell, wie man künftig mit Genre-Literatur umgehen kann. Ich glaube, da wird von diesem Verlag nicht nur ästhetisch noch einiges zu erwarten sein.

Inhaltlich mag manches nicht gefallen (bei welchem Verlag ist das anders?); mir missfallen in der Regel ideologisch fragwürdige Texte, die autoritäre und neo-liberale Strukturen popularisieren. Aber vielleicht ist gerade das subversiv… Hier finden die Pop-Genres zurück zu ihren extremistischen Wurzeln – zwischen E.E.Smith, W.H.Hodgson und Dashiell Hammett. Pop-Literatur, die keine bourgeoise credibility fürs Feuilleton sucht.

Aber das Konzept von Luzifer ist avantgardistisch, weil es Genres oder Subgenres für ein jüngeres Lesepublikum erschließt. Da ist nichts von der betulichen Haltung mittelschichtiger Damenstifts-Krimis oder diese komatösen Noir-Präsentationen, die wie überholte religiöse Mythologien auftreten.

Genug der Spekulationen. Verleger Steffen Janssen gibt hier erstmal Einblick in seinen Verlag:

https://luzifer.press/

Wer ist Steffen Janssen? Wo kommt er her? Was hat er bisher gemacht?

Nun, bis vor wenigen Jahren war mein einziger Berührungspunkt mit dem Medium Buch, der des Lesers. Nach Abitur und Lehre als Hotelkaufmann (ich war des Lernens müde und verzichtete auf ein Studium), arbeitete ich einige Jahre als sog. Leitende Führungskraft im Einzelhandel (Aldi, Großbäckerei). Aus heutiger Sicht bezeichne ich diese armen Angestellten, die zwischen allen Stühlen stehen, lieber als lei(d)ende 24h-Sklaven.

Welche Bücher haben Sie geprägt?

Ich erinnere mich noch heute gern, bereits als 8-jähriger mit einem dicken Marmeladenbrot in der Hand die Indianer-Bücher (Die Söhne der großen Bärin) von Liselotte Welskopf-Henrich verschlungen zu haben. Später versuchte ich mich an Karl May, zu dessen Erzählweise ich aber keinen wirklichen Zugang fand. Die frühen Werke Stephen Kings (Bachmann) haben mich als Jugendlichen schwer begeistert und beeindruckt, sowie Barker, Koontz – und noch etwas genre-breiter Gordon, le Carré oder Bromfield.

Wie kam es zum Aufbau des Luzifer Verlages?

In 2011 wurde aus einer Laune heraus (auf die ich nicht näher eingehen möchte, sie lag im höheren Promillebereich), der Luzifer Verlag gegründet, mit der ursprünglichen Absicht, Horror-Anthologien zu veröffentlichen. Fandom-mäßig sozusagen. Sehr schnell wurde mir bewusst, dass die Devise nur heißen konnte: Ganz oder gar nicht.
Wofür ich mich entschieden habe ist heutzutage ja offensichtlich …

Der Verlag hat in den ersten Jahren ausschließlich Formen der Phantastik veröffentlicht. Wie kam es dazu, auch Thriller ins Programm aufzunehmen?

Persönliches Interesse und – ganz klar – wirtschaftliche Hoffnungen. Das Horror-Genre ist ja im deutschen Buchmarkt nicht als herausstechender Absatzgarant bekannt. Somit tastete ich mich ab 2013 ins Thriller-Genre hinein. Eine letztendlich sehr gute Entscheidung.

Unter den Autoren befinden sich inzwischen auch Angelsachsen. Lizenz und Vorschuss sind bekanntlich die geringsten Probleme. Aber die Übersetzung ist ein Posten, der häufig eine Kalkulation verhindert. Gerade bei einem kleineren Verlag wundert es mich, dass er das stemmen kann. Haben Sie da ein besonderes Rezept?

Vielleicht hatten wir einfach nur Glück, von Anfang an mit sehr engagierten und zuverlässigen Personen arbeiten zu dürfen. Ein Rezept habe ich nicht. Manchmal muss man einfach auch unmöglich erscheinendes wagen.

Mit S.Craig Zahlers zweiten Roman, Schatten über Totem Land, haben Sie auch einen neueren Noir-Thriller im Programm. Zuvor war Zahlers vierter Roman bei Suhrkamp veröffentlicht worden. Wie kam es dazu? Wusste Suhrkamp nicht, dass Zahler zuvor bereits drei Romane veröffentlicht hatte? Und erwägen Sie, auch die beiden früheren Werke ins Programm aufzunehmen?

Zahlers Roman war/ist ein doppeltes Wagnis für uns. Das Werk ist recht anspruchsvoll in der Übersetzung und in einem sehr schwierigen Genre beheimatet (Western-Setting). Die Lizenz „schnappten“ wir uns erst, als geklärt war, dass Madeleine Seither die Übersetzung übernehmen würde, die bereits unsere sehr erfolgreichen Sarah-Weston-Romane von Daphne Niko ins Deutsche übertragen hatte. An dieser Stelle nochmals ein ganz großes Dankeschön an Madeleine!
Zu weiteren Übersetzungen von Zahler kann ich derzeit noch nichts sagen. Wir müssen erst einmal schauen, wie dieses Werk funktionieren wird.

Sind weitere Noir-Romane geplant?

Es sind 2-3 Titel respektive Autoren auf unserer Wunschliste.

Wie haben Sie Winters RUN entdeckt?

RUN war eine interne Empfehlung unseres Grafikers Michael Schubert, der mich einige Zeit mit diesem Vorschlag „nervte“, bis ich schließlich einknickte, den Einkauf absegnete und meiner Frau erklärte, dass es in jenem Jahr keine Weihnachtsgeschenke geben würde …

Seit Chris Ryan und Andy McNab gibt es international einen kleinen Trend zum Commando-Thriller. Sie haben (u.a, Ryan) da auch einiges im Programm. Wird das vom deutschen Markt angenommen?

Erstaunlicherweise ernten diese Titel bisher mehr Schmach als Ruhm, verkaufen sich dennoch hervorragend. Das Ganze erinnert mich ein wenig an die Porno-Schmuddelhefte der Achtzigerjahre, die man an den Toilettenanlagen und Duschen der Autobahnraststätten unter der Theke hervor erstehen konnte.

Können oder wollen Sie einen Ausblick geben, was Sie im Thriller-Bereich planen und vorhaben?

Wir werden in der nächsten Zeit vorrangig unsere begonnenen Serien fortführen und hier und da für uns neue Richtungen antesten (FBI-Thriller, Umwelt-Thriller). Das Genre Thriller im Allgemeinen wird definitiv den „harten Kern“ zukünftiger Luzifer-Publikationen bilden.

Deutschsprachige Rezensionen zu RUN:

https://www.derbund.ch/kultur/buecher/ein-actionthriller-wird-zum-lehrstueck-ueber-gewalt/story/22808654

https://martincompart.wordpress.com/category/douglas-e-winter/



MiCs TAGEBUCH: BLÖD-Runner by Martin Compart
16. Oktober 2017, 5:45 pm
Filed under: Film, MiCs Tagebuch | Schlagwörter: , , ,

Dr. Horrors Lückenbüßer. Blödrunner für Zeitknappe

Nachdem Dr. Horror mir richtig Lust auf den Film gemacht hat, bin ich anstatt zu meiner Selbsthilfegruppe “Anonyme Choleriker”, ins Kino gegangen.

Das Ergebnis war zum LOSBRÜLLEN!

164 Minuten schamlosestes Produktplacing, 3-D Spektakel und eine Story, die locker in 89 Minuten hätte erzählt werden können. Schauspielerisch glänzten vor allem die Tränendrüsen der Darsteller. In diesem erschreckend emotionslosen Film, dessen charmanteste Momente Werbeclips für Geburtstagstorten oder Abgesänge auf den Regenwald waren, wurden große Gefühle richtiggehend physisch aus dem Körper gepresst. Jede Träne eine Zangengeburt. Denn nichts, absolut nichts in diesem Film ist echt. Er ähnelte darin den Videospielen, die im Werbeblock vorab getrailert wurden.

Die dystopische Welt, die man im  realen Leben auf einer Müllkippe in Nairobi, Lagos, Rio, Kalkutta, usw. findet, ist lediglich pittoreske Staffage für eine Geschichte, deren einziger Zweck es scheint, das verblödete Publikum vollends zu sentimentalisieren und auf die schöne nahe Roboterzukunft vorzubereiten. (Stichwort Industrie 4.0)

Da bekommen Replikanten – wohlgemerkt Maschinen, ohne Uterus und Eierstöcke usw. – nach Geschlechtsverkehr mit einem ganzen Kerl, Rick Dekkard (Harrison Ford), ein Kind. Das ist die erschreckend befleckte unbefleckte Empfängnis. Dieses Kind muss natürlich gefunden und getötet werden (30 Jahre nach seiner Geburt), Herodes und Co. lassen grüßen, denn es wird in Bälde die Roboter aus der Sklaverei in die Freiheit führen (Terminator). Das Kind ist leider nicht der neue Held Joe K. (Ryan Gossling, mit Gruß an Kafka), der beerbt hier den greisen Dekkard als männliches Actionlead, sondern dessen vermeintliche Zwillingsschwester – Rick Dekkard hat seinerzeit alle Spuren verwischt und zur Verwirrung der Auserwählten einen Zwilling beiseite gestellt. Joe K ist folglich ein Replikant, dessen Gefühlsspektrum und Ausdruckskraft dem seiner Kinozuschauer entspricht.

Der Plot wird runtergespult und die Wendepunkt geschehen en passant, aber sie geschehen, ungeachtet ihrer inneren Logik. Jeder weiß was kommt und es kommt und zieht sich, falsch entfaltet sich, kunstvoll.

Am Ende menschelt es, als der verlorene Vater, der um seine Tochter zu retten, diese nie sehen durfte, und die verlorene Tochter wieder vereint sind. Der Film ist auf Sequel erzählt, darum hat auch ein Serienautor am Skript mitgestrickt.

Besonders beachtlich: 164 Minuten völlige Humorfreiheit. Die Dialoge sind dümmlich platt, klischeebeladen, dafür aber erklärerisch. Damit der doofe Zuschauer noch weiß, worum es geht, wird vor dem letzten Drittel eine kleine Refresher-Sequenz eingeschoben, in der zusammengefasst ist “was bisher geschah”. Brachialmusiker Hans Zimmer und die Sounddesigner füllen das Void mit Klängen, nicht ganz so schlimm wie sonst üblich, aber auch die Geräusche können nicht über die Leere und Banalität dieses 150 Millionen Spektakels hinwegbügeln.

Ein weiteres Machwerk in einer Reihe sinnloser Dystopia-Filme, die immer mehr Bibelstunden gleichen – ohne dass der Name des “Herrn” jemals fällt. Einzige Wohltat, Regiefuzzi Villeneuve (der noch nicht einen gelungenen Film gemacht hat, egal wie viel Budget man ihm gibt) schneidet am Ende schnell genug weg, damit es nicht völlig unerträglich und peinlich wird.

Den Stuss braucht – außer Disney für den Bonus des CEO –  ganz bestimmt niemand. Prädikat: Bloß nicht reingehen.

MiC, 16.10.17



Der Mann zwischen den Welten: Algis Budrys von Werner Fuchs by Martin Compart
20. Januar 2016, 2:11 pm
Filed under: ALGIS BUDRYS, Porträt, Science Fiction, WERNER FUCHS | Schlagwörter: , , ,

Algis Budrys (1931-2008)

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2008 verlor die SF-Szene mit Algis Budrys einen ihrer wegweisenden Autoren der fünfziger und frühen sechziger Jahre. Wie seine literarischen Zeitgenossen Walter M. Miller, Philip José Farmer, Robert Sheckley, Richard Matheson und Philip K. Dick wurde er in der Genre-SF groß, gab dieser aber entscheidende Impulse und vermochte sie zusammen mit seinen Kollegen nachhaltig zu verändern.

Algirdas Jonas Budrys wurde am 9. Januar 1931 in Königsberg geboren. Sein Vater war Diplomat und  Angehöriger der litauischen Exilregierung, und der Name Budrys (das litauische Synonym für „Wachtposten“) war ursprünglich nur ein Deckname, den die Familie aber 1936 nach Übersiedlung in die USA offiziell annahm.58dc213f-0ebe-4e92-924d-5d0cb2fde4aa[1]

AJ, wie er von seinen Freunden genannt wurde, arbeitete zunächst für seinen Vater und studierte dann an der Universität von Miami (1947-49) und der Columbia Universität, New York, 1950-51, heiratete 1954 Edna Duna, mit der er vier Söhne hatte. Er arbeitete für die American Express Company, bevor er als Herausgeber für diverse Buch- und Magazinverlage tätig wurde. Gnome Press, einer der frühen SF-Hardcoververlage war seine erste Station, Jobs für die Magazine Galaxy, Venture, The Magazine of Fantasy and Science Fiction, Ellery Queens Mystery Magazine folgten in den fünfziger Jahren, Tätigkeiten für Regency Books und Playboy Press  in den sechzigern. Daneben trat er auch immer wieder als Rezensent in Erscheinung und machte sich als Kritiker und Kolumnist einen Namen, zuletzt für die Chicago Sun-Times ab 1986.

TomorrowSF1[1]Von 1984-1992 betreute er als Koordinator und Juror den „L. Ron Hubbard Presents Writers of the Future”-Wettbewerb zur Förderung von SF-Nachwuchsautoren und gab zwischen 1985 und 2003 eine Reihe Anthologien mit den besten daraus resultierenden Stories heraus. Da dieser Wettbewerb in gefährlicher Nähe zur Scientology-Sekte stand, war Budrys, der seinerseits stets die Wichtigkeit einer solchen Einrichtung für junge Autoren hervorhob, erheblicher Kritik aus der SF-Szene ausgesetzt.

Von 1993-2000 gab er das Magazin Tomorrow Speculative Fiction heraus, das es auf 24 gedruckte Ausgaben brachte, bevor es online weitergeführt wurde.

Seine schriftstellerische Karriere begann mit der Erzählung „The High Purpose“ in der Novemberausgabe 1952 von Astounding und in der Folgezeit er­schienen eine ganze Reihe von Stories in ver­schiedenen Magazinen, die ihn als ideenreichen Autor und begabten Stilisten auswiesen. Durch Geschichten wie „The Real People“(1953), „End of Summer“(1954), „The Executioner“(1956) oder „The Edge of the Sea“ (1958) wurde AJ rasch be­kannt und zu einem der führenden Nachwuchs­autoren der fünfziger Jahre. Seine Stories waren komplex, tiefgründig, häufig mit Mainsteam-Einflüssen durchsetzt und dadurch für unbedarfte Leser der damaligen Magazin-SF manchmal etwas schwer verständlich. Als ich ihn Mitte der sechziger Jahre entdeckte, klang sein Name „strange“ und seine Geschichten waren es auch. Sie kamen „frostig“ rüber, hielten einen auf Abstand. Der Mann war für mich auf der Stelle Kult.

AJs Autorenlaufbahn verlief aber nicht geradelinig, sondern in mehreren Schüben. Immer wieder gab es Zeiten, in denen sehr wenig oder gar nichts von ihm erschien, dann war er wieder außerordentlich produktiv. Insgesamt hat er etwa 200 Stories verfasst, von denen die meisten in den fünziger Jahren publiziert wurden. Dazu benutze er auch mindestens ein Dutzend Pseudonyme, von denen John A. Sentry (Sentry = Wachtposten) die meisten Rückschlüsse zulässt. Drei seiner Geschichten wurden für Preise nominiert: „The Edge of the Sea“ 1959 für den Hugo, „The Silent Eyes of Time“ 1976 ebenfalls für den Hugo und „A Scraping of the Bones“ 1976 für den Nebula.

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Die Stories waren AJs eigentliche Stärke, und seine drei besseren Romane aus dieser Zeit, Who? (1958), Rogue Moon (1960) und Some Will Not Die (1961, dt. Einige werden überleben, 1981)), bauen alle auf vorher erschienenen Kurztexten auf. Man of Earth (1956, Auf Pluto gestrandet, 1960) und The Falling Torch (1959, dt. Exil auf Centaurus, 1965)) sind konventionelle SF-Abenteuer, Some Will Not Die, die erweiterte Fassung von False Night hat schon mehr Ttiefgang. Mit Who? und Rogue Moon wurde AJ aber international bekannt. Beide Titel wurden für den Hugo nominiert und Rogue Moon verfehlte den begehrten Preis nur knapp; Who? wurde 1973 von Jack Gold sehr textnah verfilmt.

Who? (dt. Zwischen zwei Welten, 1958, 1983) ist ein „Near Future“-Roman zur Zeit des kalten Krieges zwischen Ost und West. Der amerikanische Atomphysi­ker Lucas Martino wird bei einem Geheimprojekt nahe des Eisernen Vorhangs Opfer eines Unfalls, von einem Ein­satztrupp des Ostens gerettet und vier Monate spä­ter wieder in den Westen entlassen. Er hat nur noch einen Arm, der andere wurde durch eine kunstvolle Metallprothese ersetzt, und an­stelle seines Kopfes besitzt er nun eine Metall­kugel, aus der künstliche Augen starren. Da man Martino nicht sofort identifizieren kann, wird der Sicherheitsmann Shawn Rogers auf den Kyborg angesetzt. Er überwacht dessen Genesung und versucht herauszufinden, ob er wirklich Martino vor sich hat, oder einen Agenten der Gegensei­te.

Auf den ersten Blick ist WHO? Ein Spionageroman, der sich bei genauerem Studium als philosophisch-psychologische Charakterstudie erweist Der Titel ist zweideutig. Er wirft die unpersönliche Frage auf: „Wer ist der Kyborg?“ Sie bestimmt die Handlung, wird aber von der persönlichen Frage Martinos: „Wer bin ich?“ verdrängt. Martino, der mit Menschen Kontakt aufnehmen konnte, als er noch menschlich aus­sah, sich damals aber ganz auf die Wissenschaft konzentrierte, sieht sich jetzt, da er Kontakt aufnehmen will, aufgrund seines Aussehens völ­lig isoliert. Um zu sich selbst zu finden, negiert er sein früheres Ich.

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Identität und Exil sind zwei Leitmotive in Ajs Werk; sie treten hier wie auch in seinem nächsten Roman Rogue Moon

(1960; dt. Projekt Luna, 1965) deutlich zutage.

Auf dem Mond befindet sich ein geheimnisvol­les, unerklärbares Labyrinth, offenbar ein Arte­fakt außerirdischer Intelligenzen. Zur Erfor­schung dieser Struktur wird ein kurz zuvor ent­wickelter Materietransmitter herangezogen, mit dem Forscher auf den Mond transportiert wer­den. Das menschliche „Original“ kommt dabei um, aber eine „Kopie“ unterscheidet sich in nichts von der ursprünglichen Person. Das La­byrinth erweist sich als Todesfalle, jedes Quan­tum Wissen wird mit dem Tod eines Forschers bezahlt. Augenscheinlich herrschen bestimmte Gesetze innerhalb der Struktur: Manche Gänge dürfen nicht betreten, bestimmte Bewegungen nicht ausgeführt und gewisse Geräte nicht mit­gebracht werden. Aus diesem Grund muß jeder Forscher zweimal durch den Transmitter, ein Körper bleibt dann auf der Erde, der andere untersucht das Labyrinth. Beide stehen mitein­ander in telepathischem Kontakt. Allerdings kann jeder Forscher nur einmal eingesetzt wer­den, das Pendant auf der Erde wird beim schrecklichen Tod seines Doppelgängers auf dem Mond meist wahnsinnig. Um Menschenleben zu schonen, wird Barker eingesetzt, der geistig intakt erleben kann, wie sein „eigenes Ich“ stirbt. Barker geht viele Male durch den Transmitter und stirbt viele Tode im Labyrinth.

Wie schon in Who? benützt Budrys in Rogue Moon archetypische Personen. In eine rasante Handlung eingebettet sind mannigfaltige sym­bolische Probleme, von denen der Tod eines der am leichtesten ersichtlichen ist. Das Labyrinth hat mehrere Symbolfunktionen und steht als Metapher für das Streben der Menschen nach Erkenntnis, vielleicht sogar symbolisch für den Roman selbst, durch den sich der Leser eben­falls wie durch ein Labyrinth zu kämpfen hat, ohne dass er weiß, was letztendlich dabei her­auskommt – das Ende bleibt offen.

Ein vielschichtiger Roman, der ein Zentralthema der SF, den Durchbruch auf eine andere Erkenntnis- und Daseinsstufe, beein­druckend behandelt. Ein moderner Klassiker des Genres, der 2001 noch einmal neu veröffentlicht wurde, diesmal unter dem vom Autor bevorzugten Titel The Death Machine.9552119[1]

Nach The Amsirs and the Iron Thorn (1967; Das verlorene Raumschiff, 1972), einem klassischen Abenteuer-SF-Roman, dessen deutscher Titel schon viel von der Handlung verrät, machte der Autor erst 1977 durch Michaelmas (dt. 1980) wieder auf sich aufmerksam. Dieser Roman greift die Proble­me auf, die sich aus einem futuristischen Me­diendschungel ergeben, der noch undurchsichti­ger als unser heutiger ist. Allerdings wird die Kritik an aktuellen Zuständen dadurch etwas verwäs­sert, dass es Außerirdische sind, die unerkannt alles manipulieren und gegen die der Held Laurent Michaelmas anzukämpfen hat.

Ein überzeugendes Spätwerk ist Hard Landing (1993, dt. Harte Landung, 1998), wiederum ein Roman bei dem das Thema Exil im Mittelpunkt steht. Diesmal sind es von Menschen kaum zu unterscheidende Außerirdische, die auf der Erde notlanden mussten und nun überleben müssen. In unnachahmlicher Manier zeigt AJ, wer hier die wirklichen Aliens sind. In diesem dicht geschriebenen, lediglich 200 Seiten umfassenden Roman beschämt Budrys eine Vielzahl heutiger Zeilenschinder, die in ihren aufgeschäumten Sechshundertseitenschinken weniger zu sagen haben als ein kompetenter Autor in einer Kurzgeschichte.

Algirdas Jonas Budrys, ein Mann zwischen den Welten, der jahrzehntelang selbst Staatenloser gewesen war, starb am 9.Juni 2008 in Evanston, Illinois.

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Der Weltendenker baut uns ein Traumschloss – Zum Gedenken an Jack Vance by Martin Compart
9. Dezember 2015, 10:04 pm
Filed under: JACK VANCE, Porträt, Science Fiction, WERNER FUCHS | Schlagwörter: , , , ,

Werner Fuchs gedenkt eines Science Fiction- und Fantasy-Autors, dessen Imagination in den Genres unvergleichbar ist. Nach dieser Lektüre gibt es keine Entschuldigung, Vance nicht zu lesen oder neu zu entdecken.

 

Einleitung

Name the five Demon Princes!“

“Attel Malagate, Kokor Hekkus, hmm… Viole Falushe, Lens Larque and… and… just a second, yeah, got it… Howard Alan Treesong, the best of them all, how could I almost forget the Dreamer?”.

 

Oktober 2000. Wir sind auf Sightseeing-Tour durch die Republik. George R. R. Martin und ich. Die ersten „Eis-und-Feuer“-Bände sind schon erschienen, aber noch ist George ein paar Jährchen vom Weltruhm entfernt. Berlin – Nürnberg – Rothenburg ob der Tauber – Nördlingen – Aalen – Friedrichshafen – Lindau – Neuschwanstein – München – Stuttgart/Bad Canstatt – Heidelberg – Düsseldorf. Museen, mittelalterliche Städtchen und immer wieder Burgen und Ruinen, von denen George nicht genug bekommen kann. Dazwischen lange Fahrten auf der Autobahn, eine Woche lang lange Fahrten. Wenn wir keinen Bock mehr auf Musik haben, kommt es zum Vokabelabfragen: Jack-Vance-Quiz ist angesagt!

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Schnell hatten wir herausgefunden, dass wir beide extreme Jack- Vance-Fans sind, schon seit Teenagerzeiten (wir sind altersmäßig nur 11 Monate auseinander) der Magie seiner Welten und seiner Sprache verfallen. Beide kennen wir das Werk unseres Lieblingsautors ziemlich gut. Einer nennt den Namen eines Protagonisten, der andere antwortet mit der dazugehörigen Geschichte, oder man führt einen Roman an und muss mit einer Figur daraus kontern. Claude Glystra – „Big Planet“, „The Dragon Masters“ – Joaz Banbeck, Edwer Thissell – „The Moon Moth“. Szenen zuordnen ist meist noch relativ einfach – George ist fasziniert von „Hussade“ eine Art 3-D Football über Wassertanks aus „Trullion Alastor 2262“, bei dem es keine Homeruns gibt, dafür aber eine junge Dame, die möglicherweise ihre Kleidung verliert – alter Voyeur! Bei Zitaten, aus der Erinnerung dahergesagt, wird es dann herb.

„Kill this man, here and now“, he cried. “No longer shall he breathe the air of my planet.“ Wer war das noch mal? Wo war das noch mal? Wir sind im sechsstelligen Bereich von „Wer wird Millionär“ angelangt. Vielleicht doch lieber wieder Grateful Dead.

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Werner und Corinna Fuchs mit George R.R.Martin

(c) by Corinna Fuchs

Ein Quiz wie dieses funktioniert nur mit Jack Vance – für uns jedenfalls. Klar, bei den wichtigen Werken anderer SF-Größen könnten wir auch den einen oder anderen Hauptdarsteller nennen –

Hari Seldon, Gilbert Gosseyn, Michael Valentine Smith -, wir sind schließlich mit der SF sozialisiert worden, aber was die zweite Liga bei Asimov, van Vogt oder Heinlein angeht – Fehlanzeige.

Und bei vielen anderen Autoren, die ich durchaus mit Begeisterung gelesen habe, fallen mir überhaupt keine Charaktere mehr ein.

Bei Vance ist das anders. Seine Namen sind komponiert, sind Musik. Purer Swing: Ghyl Tarvoke, Hildemar Dasce, Sam Salazar, Hein Huss, Sklar Hast, Ayudor Bustamonte, Finisterle, der Erzveult Xexamedes, Liane the Wayfarer, Apollon Zamp, Rudel Neirmann, Gastel Etzwane, Lodermulch…  Und sie haben etwas Universelles, egal, ob man sie englisch oder deutsch ausspricht, sie klingen immer unheimlich gut. Mit seinen Planetennamen, Ortsbezeichnungen, ja, seinem Instrumentarium insgesamt verhält es sich ebenso. Vances Beschreibungen graben sich in das Gedächtnis des Lesers ein und lassen seine Phantasie abheben. Bei Vance ist die Sprache Landschaft und Architektur, bei ihm ist die Sprache der eigentliche Held. Ihr ist das „Jack Vance Lexicon – From Anulph to Zipagothe“ (1992) gewidmet, ein Band der über 1700 Wortneuschöpfungen auflistet, die Vances Werk entnommen sind. Manche seiner Kollegen – ich will keine Namen nennen – kommen in ihrem Gesamtwerk mit einem geringeren Wortschatz aus…

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Leben

John Holbrook Vance wurde am 28.08.1916 als mittleres von fünf Kindern in San Francisco geboren. Er wuchs auf der Ranch seiner Großeltern im San Joaquin Valley auf, da der Vater die Familie früh verließ. Vance galt in der Schule als Bücherwurm und las am liebsten das Magazin Weird Tales, mit Autoren wie H.P. Lovecraft, Clark Ashton Smith und Robert E. Howard. Am liebsten aber war ihm C. L. Moore. Ansonsten wurde er vor allem von Lord Dunsany und P. G. Woodhouse beeinflusst. Ab 1937 studierte er an der University of California in Berkeley Bergbau und Physik, später Englisch, Geschichte und Journalismus und fuhr während des Zweiten Weltkriegs als Matrose im Dienste der amerikanischen Handelsmarine kreuz und quer über den Pazifik.

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Kurz nach dem Krieg heiratete er die 11 Jahre jüngere Norma Ingold, die ihm – Jack hatte schon damals schlechte Augen und sich mit einer auswendig gelernten „Eye Chart“ in die Handelsmarine gepfuscht – beim Schreiben zur Hand ging. Auf ihren ausgedehnten Reisen war Jack immer mit Klemmbrett und Füller im Einsatz, während Norma später alles auf der Reiseschreibmaschine abtippte und korrigierte. Die beiden bereisten bis in die neunziger Jahre fast die ganze Welt, und ein großer Teil von Vances Romanen und Stories entstand unterwegs in fremden Ländern und unter anderen Kulturen. Das hat sicherlich die Exotik seiner Werke befeuert, in denen die sonderbaren Sitten und Gebräuche planetarer Gesellschaften oft eine wichtige Rolle spielen.

Andere wichtige Einflüsse waren seine Liebe zum traditionellen Jazz – schon vor dem Krieg hatte Vance als Jazz-Kolumnist für The Daily Californian gearbeitet – und sein Beruf als Zimmermann, den er bis Mitte der sechziger Jahre ausübte.

Vance war Handwerker mit einer gesunden Verachtung für den Kunstbetrieb. Er baute sein Haus in Oakland und seine Segelboote selbst und konstruierte mit den Freunden und SF-Kollegen Frank Herbert und Poul Anderson ein Hausboot, mit dem die drei an den Ufern der San Francisco Bay entlang schipperten, bis es auf Grund lief.

1961 wurde John Holbrook II geboren, das einzige Kind von Jack und Norma. In dieser Zeit begann sich langsam der Erfolg einzustellen. Vance gewann den Edgar Allan Poe Award, kurz darauf Hugo und Nebula Award, was ihn veranlasste, freier Schriftsteller zu werden.

War sein Werk bis dahin von Kurzgeschichten und Einzelromanen geprägt gewesen, standen ab jetzt Romanzyklen im Mittelpunkt. Allerdings war er bei seiner Produktion stark gehandicapt. Seine Sehkraft nahm immer mehr ab, und nach einer missglückten Augenoperation war Jack Vance praktisch blind. Ab den achtziger Jahren musste er am Computer mit Großbildschirm schreiben – und einer Textverarbeitung mit Riesenlettern.

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Werk

Vance debutierte 1945 in Thrilling Wonder Stories mit der Geschichte „The World Thinker“. Die nächste hieß „I’ll built your Dream Castle“. Beide Titel wurden zum Programm. Der Weltenschöpfer baute seinen Lesern ein literarisches Traumschloss. Sein erstes Buch war 1950 „The Dying Earth“, eine Sammlung erstaunlicher (20 Jahre später hätte man sie als „far out“ bezeichnet) Fantasygeschichten, die er 1944 auf See geschrieben hatte. Sie markierten den Beginn einer Serie, deren Gestaltung die Leser verzauberte und begeisterte. Schauplatz ist die Erde in allerfernster Zukunft. Diese Welt, kurz vor ihrem Untergang, wenn die aufgeblähte, rote Sonne instabil flackert und bald für immer verlöschen wird, ist besiedelt mit einer mondänen Gesellschaft, die sich in Intrigen, Magie und hedonistischen Vergnüglichkeiten ergötzt. Später fanden sie ihre Fortsetzung in den Collections „The Eyes of the Overworld“ (1966), „Cugel’s Saga” (1983) und „Rhialto, the Marvellous” (1984)

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Wie bei vielen Genre-Autoren seiner Zeit waren es zunächst Kurzgeschichten und kürzere Romane in Magazinen, die sein Schaffen ausmachten. Thrilling Wonder Stories und Startling Stories waren zunächst seine Hauptmärkte, später kamen die Spitzenpublikationen des Genres hinzu: Astounding, Galaxy, The Magazine of Fantasy and Science Fiction. Anfang der fünfziger Jahre schrieb er sechs Drehbücher für die Fernsehserie „Captain Video“.

„The Potters of Firsk“ (ASF 5/50) und „Gift of Gab“ (ASF 9/55)sind reine SF-Stories mit exotischem Background, während „The Miracle Workers“ (ASF 7/58) auf typisch vancesche Weise Fantasy mit SF verbindet. In eine Zukunftswelt, in der Magie ganz alltäglich und die Naturwissenschaften vergessen sind, hält plötzlich die Chemie als „magische“ Komponente in Form von Sprengstoff Einzug.

In „The Men Return“ (Infinity 7/57) zeigt sich Vance avantgardistisch, indem er das Kausalitätsprinzip aufhebt.5125533784_0772eea4ff[1]

Seine wohl berühmtesten Kurztexte sind „The Moon Moth“ (Gal 8/61) – Edwer Thissell ist frisch auf Sirene eingetroffen, um den Serienmörder Haxo Angmark aufzuspüren, aber im Land der Masken, wo alle Menschen eine Gesichtsbedeckung tragen und man nur über Instrumente kommuniziert, ist das gar nicht so einfach -, „The Dragon Masters“ (Gal 8/62) und „The Last Castle“ (Gal 4/66). Beide wurden mit dem Hugo-Award, letztere auch noch mit dem Nebula-Award ausgezeichnet. Hier schreibt Vance SF wie Fantasy und Fantasy wie SF – für Geschichten wie diese wurde der Begriff Science Fantasy erfunden.

In seinen frühen Romanen geht es um abenteuerliche Reisen auf einem Extremplanet („Big Planet“, 1952), Unsterblichkeit („To Live Forever“, 1956) und die Macht der Sprache („The Languages of Pao“, 1958). In „The Blue World“ (1966) und „Emphyrio“ (1969) rebelliert der jugendliche Held und überwindet die starren Konventionen seiner Gesellschaft letztendlich zu ihrem Wohl.

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In den sechziger bis achtziger Jahren produzierte JV vornehmlich SF-Zyklen die zum Teil ein Gaeanisches Reich der fernen Zukunft als gemeinsamen Hintergrund aufweisen und ähnlich farbenprächtig ausgestaltet sind wie seine Fantasy. Der fünfbändige „Dämonenprinzen“-Zyklus (1964-1981) ist ein interstellarer Rachefeldzug Kirth Gersens, der die Killer seiner Familie jagt, die „Planet of Adventure“-Tetralogie (1968-1970), schildert die Odyssee eines notgelandeten Terraners auf der exotischen Welt Tschai mit ihren mannigfaltigen Kulturen, die „Durdane“-Trilogie (1973-74) und die „Alastor“–Trilogie (1973-1975) umfassen farbige Planetenromane, bei denen die Beschreibung fremdartige Kulturen gleichrangig neben der Romanhandlung steht, bei den „Cadwall-Chroniken“(1987-1992) schließlich handelt es sich um eine umfangreiche Trilogie, bei der Held Glawen Clattuc einen geheimnisvollen Mord aufklären, einen Aufstand niederschlagen, sich diverser Intrigen erwehren und der Cadwall Charta auf die Spur kommen muss, die den Planet in ihrem Würgegriff hält.

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Parallel dazu baute JV aber auch seine Fantasywelten aus. 1966 erschien mit „The Eyes of the Overworld“ eine lose Fortsetzung zu „The Dying Earth“. In diesem Subzyklus lässt er den schlitzohrigen Cugel, einen pikaresken Springinsfeld, verrückte Abenteuer erleben. Cugel ist der coolste aller Fantasyhelden, der Archetyp für alle Diebe und Streuner des Fantasy-Rollenspiels. Langbeinig, mit langer Nase und albernem Hut, stakst er durch die Landschaft und versucht alle und jeden übers Ohr zu hauen, zieht aber meist selbst den kürzeren. Dabei schlagen sich er und seine Gegenspieler die unglaublichsten Dialoge um die Ohren. Cugel, einer der wenigen Antihelden der Fantasy, ist so cool, dass andere Autoren seine Abenteuer fortsetzten (Michael Shea) oder sich extrem von ihm beeinflusst zeigten (etwa David Alexander).

Später folgten weitere Bände: „Cugel’s Saga“ (1983) und „Rhialto the Marvellous“(1984) setzten in punkto bizarrer Vorkommnisse noch einen drauf.6950865010_305b386df1[1]

JVs zweiter großer Beitrag zur Fantasy ist die „Lyonesse“-Trilogie. Sie spielt in arthurischer Zeit auf einer mythischen Inselgruppe im Golf von Biskaya, um deren Herrschaft ein erbitterter Kampf ausgetragen wird. Beginnend mit „Suldrun’s Garden“ (1983) bieten die voluminösen Bände viel Platz für Subplots mit Kämpfen, Diplomatie und Magie. Alles ist in Vances maniriert ironischem Stil gehalten, mit gestelzten Dialogen, altertümlichen Redewendungen und einer ornamental barocken Handlung, die den Leser in eine exotische Traumwelt versetzen. Diese Trilogie hebt sich wohltuend von der Massenware typischer Mehrbänder ab und kann mit Recht als Highlight moderner Fantasy bezeichnet werden.

Ab 1957 erschienen von JV eine Reihe von Kriminalromanen, die durchaus erfolgreich waren. Diese wurden unter seinem richtigen Namen John Holbrook Vance wie auch unter den Pseudonymen Ellery Queen, Peter Held oder Alan Wade veröffentlicht.10857[1] 1960 gewann „The Man in the Cage“ den Edgar-Award und wurde verfilmt. Ebenfalls verfilmt wurde „Bad Ronald“ (1973). Neben diesen Titeln ragen die beiden Romane um Sheriff Joe Bain, „The Fox Valley Murders“ (1966) und “The Pleasant Grove Murders (1967) aus seinen 11 Krimis heraus.

Dass JV den Mysteries zugetan war, beweisen auch die vielen Kriminalfälle innerhalb seiner SF-Zyklen. Mit Magnus Ridolph und Miro Hetzel hat er auch zwei Detektive am Start, die in zwei Storybänden interstellare Finstermänner jagen.

Ab den neunziger Jahren wandte sich JV wieder verstärkt der SF zu. Seine letzten Romane „Night Lamp“ (1995), „Ports of Call“ (1997) und „Lurulu“ (2004) handeln wieder von jugendlichen Protagonisten auf Identitätssuche in einem Kosmos voller Fremdartigkeiten.

 

Stil

Stilistisch ist JV einmalig. Schon nach ein paar Sätzen kann ihn der geübte Leser erkennen. Sein Wortreichtum ist unübertroffen, die Lektüre seiner Texte ein sinnliches Erlebnis. Er brennt ein Feuerwerk an detaillierten Beschreibungen ab, die alle Sinne des Lesers in Alarmbereitschaft versetzen.

Die typischen SF-Szenarien – Zukunftsmodelle, Zeitreisen, Raumschlachten, Roboter, Invasion der Erde o. ä. interessierten ihn nicht. Raumschiffe dienen nur zum Transport von A nach B, und wenn, dann bevorzugt im Raumsegler – oder planetar – auf dem Luftfloß.

JV war ein „Bio-Autor“, mindestens drei oder vier seiner Protagonisten stehen mit den Füßen in der Erde im Wald und imitieren Bäume. Seine Stärke ist die Schilderung fremder Kulturen, derer bizarren Sitten und Gebräuche, ein galakto-ethnischer Kosmos voll ungezügeltem Wildwuchs. Chromblitzende Technik hat hier nichts verloren.

Die Faszination seiner Texte liegt in seinem Weltenbau, der Architektur seiner Landschaften, der internen Struktur von Fauna und Flora begründet. Häufig bedient er sich der Fußnote als Stilmittel – so erscheint ein Text natürlich viel glaubhafter (wissenschaftlicher) als durch zehn Seiten Erklärungen.

Bei diesen Techniken schimmert immer wieder der Handwerker durch und bei seinen Namen und Dialogen der Musiker. Vance, der mehrere Instrumente spielte, darunter Kornett, Ukulele und Kazoo, war Mitglied einer Jazzband und der festen Überzeugung, Prosa müsse swingen.

41hWNragepL._SX301_BO1,204,203,200_[1]Sein überaus sarkastischer, mitunter bösartiger Humor hallte jedenfalls nach. Kostprobe:

„Dort sitzt der Missetäter. Ich sah, wie er wölfisch grinsend mir den Bart abschnitt!“

Empört rief Cugel: „Er redet irr! Achtet nicht auf ihn. Ich saß hier unbeweglich wie ein Fels, während sein Bart gestutzt wurde. Das Bier hat wohl seine Sinne benebelt!“

„Unverschämtheit! Ich habe Euch mit beiden Augen gesehen!“

Im Tonfall des schuldlos Verdächtigten sagte Cugel: „Weshalb sollte ich Euch den Bart nehmen? Hat er überhaupt einen Wert?“

– „Cugel,der Schlaue“

oder:

„Bodwyn Wook? Pah! Bodwyn Wook ist ein Schanker an den Weichteilen des Fortschritts!“

– „Station Araminta“ –

oder Tanith Lees Lieblingssatz:

„I would offer congratulations were it not for this tentacle gripping my leg.”

– „Cugel’s Saga“ –

 

Rezeption

In Frankreich, Belgien und den Niederlanden ist JV ein Superstar. Schwer zu sagen, warum nicht in den USA und bei uns. Das Werk mit dem er am ehesten identifiziert wird besteht aus Kurzgeschichten – das ist abträglich. Er arbeitete seine Plots vielleicht nicht konsequent genug aus und schien bei Zyklen nach und nach die Lust zu verlieren – das kommt dem Massengeschmack gar nicht entgegen. Er verlor sich in psychedelisch gekräuselter Oberfläche anstatt ein Hauptwerk mit echtem Tiefgang zu schreiben, das die Kritiker aufmerksam gemacht hätte – da bleibt man leider Genre-Autor. Aber ist das so schlimm? „Die Popkultur hat eh gewonnen“, wie Denis Scheck einmal völlig richtig anmerkte.

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Als Kultautor hat JV einen festen Kreis von Bewunderern, die sich um sein Werk verdient gemacht haben. Er ist der unangefochtene Lieblingsautor seiner Kollegen. Bibliophile Liebhaberausgaben seiner Bücher erschienen oder erscheinen in Kleinverlagen wie Underwood/Miller (USA) und Edition Irle (Deutschland), und wohl einmalig dürfte das Projekt „Vance Integral“ sein, bei dem mehrere hundert „Fans“  als Internetgemeinschaft eine Neuausgabe seines Gesamtwerks (44 Hardcoverbände) betreuten. Unterstützt wurde das Projekt vom Milliardär und Microsoft-Mitgründer Paul Allen, der in Seattle das „Experience Hendrix“ Museeum gründete. Für Allen sind Jimi Hendrix und Jack Vance Amerikas größte Künstler der Populärkultur. Gary Gygax, der Erfinder der Rollenspiels „Dungeons & Dragons“, war ein glühender Verehrer und strickte das Magiesystem in D&D nach den vanceschen Zaubersprüchen. Sein Weltenbau diente ihm darüber hinaus als Vorbild.

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Michael Chabon, Dan Simmons, Neil Gaiman, Tad Williams, Robert Silverberg und 17 andere Autorinnen/Autoren wurden als Jugendliche von Vance verzaubert. Alle sind mit Beiträgen in der von George R. R. Martin und Gardner Dozois herausgegebenen Anthologie „Songs of the Dying Earth“(2009) vertreten. Das erste „Tribute Album“ der Pop-Literatur! Jeder von ihnen schrieb eine „Dying Earth“-Geschichte und versuchte, dem Meister so nahe wie möglich zu kommen. Und jeder erzählt dazu die Geschichte, wie er/sie zum ersten Mal mit einem Text von Jack Vance in Berührung kam. Alle können sich noch daran erinnern.

Und für alle ist Jack Vance sträflich unterbewertet. Chabon meint, hätte Italo Calvino über den „Dragon Masters“ gestanden, wäre der Text über die Grenzen des Genres bekannt geworden, während Simmons noch weiter geht: Wäre Vance in Südamerika geboren worden, hätte er als Vertreter des Magischen Realismus’ den Nobelpreis erhalten…

Wie dem auch sei, Jack Vance hat jedenfalls als einziger Autor alle Hauptpreise der Science Fiction, Fantasy und Kriminalliteratur gewonnen: Hugo Award, Nebula Award, World Fantasy Award und den Edgar Allan Poe Award.

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Jack Vance starb am 26. Mai 2013 im Alter von 96 Jahren.

Er lässt Sohn und Enkel zurück, nachdem seine Frau Norma bereits 2008 verstarb.

Jetzt ist die Welt weniger bunt.

 

Für weitere Informationen:

http://www.editionandreasirle.de

über Vance, Dick und Ballard ab ca. 1:15:00



Erinnerungen an Wolfgang Jeschke von Werner Fuchs by Martin Compart
13. Oktober 2015, 7:00 am
Filed under: Porträt, Science Fiction, WOLFGANG JESCHKE | Schlagwörter: , ,

Naturgemäß ist hat das neue Jahrbuch DAS SCIENCE FICTION JAHR (Heyne) als ein Schwerpunktthema den verstorbenen Schriftsteller und Herausgeber Wolfgang Jescke. Niemand hat die SF in Deutschland in den letzten Jahrzehnten stärker geprägt; niemand hat der deutschen SF-Szene im Ausland ein markanteres Gesicht verliehen.

Aber lesen Sie lieber, was sein langjähriger Freund Werner Fuchs über Wolfgang zu sagen hat…

 

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Zum ersten Mal getroffen habe ich Wolfgang Jeschke im August

1975 in Laichingen/Baden-Württemberg. Anlass war der jährliche Con des Science Fiction Club Deutschland e.V., den der neue Mitherausgeber der SF-Reihe bei Heyne auch besuchte. Vom Telefon her kannten wir uns schon – schließlich hatten meine Kollegen Hans Joachim Alpers und Ronald M. Hahn – beide ebenfalls in Laichingen anwesend – mit mir ein Jahr zuvor die literarische Agentur Utoprop gegründet – und da wir uns auf SF und Fantasy spezialisiert hatten, waren der Heyne Verlag und Wolfgang Jeschke natürlich begehrte Ansprechpartner für uns.

Zu unserer großen Freude hatte er 1974 zwei Texte eines völlig unbekannten Newcomer-Autors angekauft, den wir vertraten: George R. R. Martin. Die Geschichten hießen „With Morning comes Mistfall“ und “A Song for Lya”. Eine Woche nach dem Con in Laichigen gewann „Lya“ den Hugo als beste Novella in Melbourne, Australien und die Geschichte erschien noch im selben Jahr im Story Reader 5. Für Martin bedeutete sie in den USA den Durchbruch, für uns war sie ein wichtiger Schritt nach vorne – für die Agentur, aber auch für uns persönlich. Ein freundschaftliches Verhältnis zwischen uns und Wolfgang entstand, das nicht zuletzt auf gegenseitigem Respekt in Bezug auf unser „SF-Fachwissen“ und unseren Background als Fans fußte.

In den nächsten Jahren arbeiteten wir oft zusammen – als Übersetzer für seine SF-Reihe bei Heyne, als Textlieferanten und schließlich als Verfasser des Lexikon der Science Fiction Literatur, bis heute das Standard-Nachschlagewerk für SF im deutschen Sprachraum.

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Wolfgang und Ehefrau Rosi waren auch häufig Gäste auf SF-Conventions, so trafen wir uns 1978 in Dublin auf der 1. World SF Convention oder 1979 in Brighton zum „SeaCon“, dem 37. SF-WorldCon. Unvergessen hier Robert Asprins (Herausgeber der Anthologienserie Thieves World) erstaunte Frage auf einer Room-Party, wer denn dieser deutsche U-Boot-Kommandant sei.

Sicheres Auftreten, durchdringender Blick, graumelierte Haare und Bart – nun ja, für Amerikaner erinnerte sein Aussehen wohl an einen Hollywood-Deutschen.

Dann, 1990 in Den Haag, beim 48. WorldCon „ConFiction“, war Wolfgang Jeschke nicht mehr nur Besucher, sondern Ehrengast.

Er hatte sich diese Einladung nicht nur aufgrund seiner Romane verdient (die inzwischen auch in den USA erschienen waren), die von Ihm herausgegebene Reihe im Heyne Verlag war mittlerweile die umfangreichste und auch erfolgreichste SF/Fantasy-Reihe in ganz Europa.

Der einzige deutsche Ehrengast zuvor war Herbert W. Franke 1970 in Heidelberg gewesen, das aber im eigenen Land. Wolfgang hielt jedenfalls eine tolle Ehrengast-Rede, die auch das gerade wiedervereinigte Deutschland thematisierte und aufgrund seiner kritischen Aussagen in Holland besonders gut ankam.

Mit Wolfgang als Autor kam ich schon 1970 in Berührung. Der Zeiter hieß die Storysammlung aus dem Lichtenberg Verlag, und die lange Novelle „Der König und der Puppenmacher“ zählte für mich zum Besten, was die deutsche SF bis dahin hervorgebracht hatte. Aber schon als Fan hatte er zehn, fünfzehn Jahre zuvor durch seine Storys von sich reden gemacht, etwa durch „Supernova“ in Utopia Magazin 23, einen leicht experimentellen Text, der es jederzeit mit den Hervorbringungen angloamerikanischer Autoren aufnehmen konnte.

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Sein liebstes Motiv war die Zeitreise. Sein erster Roman, Der letzte Tag der Schöpfung (1981), schildert den Versuch amerikanischer Spezialisten, fünf Millionen Jahre vor unserer Zeit die Erdölvorkommen der späteren arabischen Staaten abzupumpen.

Seine anderen Romane waren Midas (1989), Meamones Auge (1997), Osiris Land (1982, 1997) Das Cusanus-Spiel (2005) und Dschiheads (2013). Fast alle wurden in andere Sprachen übersetzt und gewannen den Kurd-Lasswitz-Preis oder den Deutschen Science Fiction Preis.

Anfang der achtziger Jahre gründete ich zusammen mit Hans Joachim Alpers den Verlag Fantasy Productions. Der erste Vertriebstitel war Osiris Land, den Wolfgang privat hatte drucken lassen. Später verlegte sich Fantasy Productions mehr und mehr auf Rollenspiele und deren Universen. Ab 1989 kam es zu einer langen und erfolgreichen Zusammenarbeit zwischen FanPro und Heyne. Wolfgang hatte sich von den neuen Welten begeistern lassen, und fortan publizierte Heyne die Romane zu unseren Rollenspielen – BattleTech, Shadowrun, Das Schwarze Auge, Earthdawn, Renegade Legion, MechWarrior Dark Age – insgesamt weit mehr als 200 Titel, die über einen Zeitraum von zwanzig Jahren erschienen. Wolfgangs Verdienst dabei war, das Potential dieser Serien früh erkannt zu haben. Erst als Heyne BattleTech herausbrachte, zogen andere ausländische Verlage wie ROC/Penguin nach und sicherten den internationalen Erfolg.

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Wolfgang Jeschkes Status als Spitzenautor deutscher SF ist unbestritten, aber überstrahlt wird er noch durch seine Arbeit als Herausgeber und Lektor für die Heyne SF und Fantasy Reihe. Seit 1973 zusammen mit Herbert W. Franke, ab 1977 allein, formte er bis 2002 die Reihe und machte sie zum Aushängeschild des Heyne Verlags. Neben der Pflege ausländischer Spitzenautoren gab er auch dem deutschen Nachwuchs eine Chance, etablierte Unterreihen wie die Bibliothek der Science Fiction Literatur, die die besten Werke der SF präsentierte, gab Hunderte von Anthologien heraus und schuf mit dem Science Fiction Jahr eine voluminöse sekundärliterarische Bestandsaufnahme des Genres. Und neben all dem fand er noch Zeit, die Welt bis ihre entlegenen Winkel zu bereisen.

 

Wolfgang Jeschke starb am 10, Juni 2015 in München nach langer, heimtückischer Krankheit. Die deutsche Science-Fiction-Szene verliert mit ihm ihre wichtigste Persönlichkeit und ich einen Freund und Förderer.

Wolfgang hinterlässt seine Frau Rosemarie und seinen Sohn Julian. Unsere Gedanken sind bei ihnen.

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SF, DIE MAN GELESEN HABEN MUSS: BLUMEN FÜR ALGERNON von DANIEL KEYES by Martin Compart
30. November 2013, 10:58 am
Filed under: Alexander Martin Pfleger, DANIEL KEYES, Porträt, Science Fiction | Schlagwörter: ,

Ich habe wieder mal das Vergnügen, in diesem Blog einen Text der großen weißen Hoffnung der Germanistik zu präsentieren. Weitere sollen folgen!

Mann und Maus
Daniel Keyes´ „Blumen für Algernon“
von Alexander Martin Pfleger

Daniel Keyes´ „Blumen für Algernon“ zählt zu den wenigen Werken der US-amerikanischen Science Fiction, die bereits kurz nach ihrem Erscheinen auch außerhalb der engen Grenzen des Genres literarische Anerkennung fanden. Die 1959 erschienene Kurzgeschichtenfassung wurde mit dem Hugo Gernsback Award ausgezeichnet, die 1966 publizierte Romanversion brachte dem Autor einen Nebula Award ein – die beiden höchsten Ehrungen innerhalb des Science Fiction Genres. Im deutschen Sprachraum wurde der in mehrere Sprachen übersetzte erfolgreichste Roman des Literaturwissenschaftlers und Psychologen Keyes bereits in den 60er Jahren positiv in Kindlers Literatur Lexikon besprochen. Die Verfilmung von Robert Nelson unter dem Titel „Charly“ aus dem Jahr 1968 brachte dem Hauptdarsteller Cliff Robertson einen Oscar ein.

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Erzählt wird die Geschichte des geistig zurückgebliebenen zweiundreißigjährigen Charlie Gordon, der als Hilfsarbeiter in einer Bäckerei arbeitet und aufgrund seines unbeugsamen Ehrgeizes zu lernen und intelligenter zu werden dazu ausersehen wird, an einem einzigartigen wissenschaftlichen Experiment teilnehmen zu dürfen. Durch eine Gehirnoperation wird seine Intelligenz sukzessive gesteigert – parallel zu ihm wird der gleiche Eingriff bei der Maus Algernon vorgenommen. Sowohl beim Mann als auch bei der Maus scheint der Versuch geglückt. Während Algernon immer komplexere Labortests spielend zu meistern weiß, erlernt Charlie binnen weniger Wochen mehrere Sprachen, entwickelt sich zu einem auf wissenschaftlichem wie künstlerischem Gebiet überdurchschnittlich gebildeten Menschen, verfaßt linguistische Untersuchungen, komponiert Klavierkonzerte und übernimmt schließlich selbst die Überwachung des Experiments. Seine Beobachtungen führen ihn allerdings zu dem Schluß, daß es letzten Endes scheitern werde – auf eine kurze intellektuelle Hochphase bei ihm und der Maus folgt unwillkürlich der Rückfall in Primitivität. Tatsächlich wird Algernon auf einmal aggressiver, findet sich nicht mehr in den Labyrinthen zurecht, durch die man ihn laufen läßt, um seine Intelligenz zu messen, und stirbt schließlich an Hirnerweichung. Auch Charlies Sturz ist unausweichlich – er verlernt alles, was er sich noch vor ein paar Monaten selbst beigebracht hatte, kann mit moderner Musik, die ihn besonders faszinierte, nichts mehr anfangen, und führt schließlich sein Zurücksinken auf das Niveau eines Schwachsinnigen darauf zurück, daß er sein Hufeisen und seine Hasenpfote verloren oder jemand den bösen Blick auf ihn geworfen habe. Am Ende bleibt ihm nichts weiter übrig, als sich in ein staatliches Pflegeheim zu begeben und eine Notiz zu hinterlassen, Blumen auf das Grab Algernons zu legen, den er in seinem Garten beerdigt hatte.

FlowersForAlgernon500[1]Der in Tagebuchform geschriebene Roman umfaßt einen Zeitraum von knapp 10 Monaten, von Anfang März bis Ende November eines nicht näher bestimmten Jahres. Er präsentiert sich dem Leser als chronologische Sammlung der fast täglich abgefaßten Fortschrittsberichte Charlies für seine behandelnden Ärzte. Auf diese Weise gelingt es dem Autor, den Leser das Geschehen quasi unmittelbar aus der Perspektive des Betroffenen miterleben zu lassen. Zu Beginn beherrscht Charlie nicht einmal die einfachsten Regeln der Orthographie, im Verlauf der Behandlung erlernt er jedoch sehr schnell die Gesetze der Interpunktion, sein Satzbau wird komplexer, sein Wortschatz reichhaltiger, seine Darstellungsweise differenzierter und selbstreflexiver. Mit dem Schwinden seiner geistigen Fähigkeiten gleichen sich seine späteren Eintragungen wieder dem Anfang an.
Besonders Keyes´ originelle stilistische Vorgehensweise trug zur Eindringlichkeit bei, mit der sich die dargestellten Ereignisse dem Leser präsentieren. Obgleich das psychologische Einfühlungsvermögen des Autors zurecht gerühmt wurde, offenbart der Roman dennoch einige Klischees in der Figurenzeichnung. Charlies in ausführlichen Rückblenden erzähltes Vorleben wird allzu schematisch auf Schlüsselerlebnisse reduziert, die seinen Ehrgeiz zu lernen oder seine anfängliche Scheu vor Frauen erklären sollen. Auch sind die Differenzen der ihn untersuchenden Wissenschaftler etwas überzeichnet, und die weiblichen Charaktere des Romans entsprechen zu sehr bestimmten Stereotypen – die vom Kindler als „mütterlich“ bezeichnete Sonderschullehrerin Alice Kinnian oder die ausgeflippte, weltoffene, aber auch oberflächliche und letztlich unzuverlässige Künstlerin Fay – , als daß sie tatsächlich zu überzeugen vermöchten. Überhaupt merkt man der besonderen Betonung der sexuellen Verschlossenheit Charlies, die sich zudem in Angstträumen und Wachhalluzinationen niederschlägt, doch sehr stark die Verhaftetheit des Romans in Grabenkämpfen der 50er und 60er Jahre an. Die vielfach lobend hervorgehobene Vertiefung der sozialen Aspekte in der Romanversion mutet in dieser Hinsicht durchaus unvorteilhaft gegenüber der Kurzgeschichtenfassung an.DanielKeyes[1]

Dennoch tangieren diese Einwände die Substabz des Werks nur peripher. Ein zentrales Motiv des Romans ist die Ungeduld, mit der insbesondere Erwachsene dem jungen Charlie in einer Phase begegnen, da etwas mehr Zeit, Anteilnahme und Zuwendung eine und wenn auch noch so geringe geistige Weiterentwicklung hätten ermöglichen können. Insbesondere hinsichtlich dieses konsequent entwickelten Motivs ist dem Autor ein Meisterstück subtil andeutender Charakterisierungskunst geglückt. Diesbezüglich läßt sich auch die Grundhaltung des Buchs gegenüber dem wissenschaftlichen Fortschritt sehr präzise erfassen – kein billiger Zukunftsoptimismus, auch keine unreflektierte Fortschrittsfeindlichkeit, wohl aber ein besonnener Hinweis darauf, nicht blind auf die Segnungen der Wissenschaft zu vertrauen, wo sich wahrhaftiges Menschentum und wahrhaftige Mitmenschlichkeit hätten behaupten müssen, aber kläglich versagten.
Die besondere Anziehungskraft von „Blumen für Algernon“ – in welcher Form auch immer – beruht aber letztlich auf der Vergegenwärtigung der Ohnmacht des Ich-Erzählers gegenüber Geschehnissen, die er zwar rational erfassen, nicht aber verhindern kann, und auf der geradezu alptraumhaft wirkenden Wiederkehr längst überwunden geglaubter Entwicklungsstufen. Charlie durchschaut auf seinem geistigen Höhepunkt die Unzulänglichkeit der an ihm und Algernon vorgenommenen Maßnahmen, erkennt, daß zu einem späteren Zeitpunkt eine tatsächliche Intelligenzsteigerung auf medizinischem Weg möglich sein könnte, weiß aber auch, daß er diese Entwicklung nicht mehr erleben wird. Dem Rückfall in die geistige Unterentwickeltheit seines früheren Lebens sieht er zunächst mit der Gefaßtheit eines tragischen Helden entgegen, der das Unabänderliche akzeptiert; im Laufe seines Herabsinkens bemüht er sich vergeblich darum, zumindest Teile seiner einmal errungenen Intelligenz zu bewahren, um schließlich am Endpunkt der Entwicklung die Geschehnisse überhaupt nicht mehr zu verstehen und auf Erklärungsmodelle aus dem Bereich des Aberglaubens zurückzugreifen.
Der Vorwurf, daß letztlich jede Science Fiction Erzählung zum Thema „Übermenschen“ daran scheitere, die Geschichte aus der Perspektive eines weit über dem Durchschnitt stehenden Protagonisten zu schildern, wurde auch Keyes vereinzelt gemacht, erweist sich aber bei genauerer Lektüre als unzutreffend. Keyes beschränkt seine stilistischen Experimente auf Charlies Schwachsinnsphasen; seine geistigen Höhenflüge werden hingegen lediglich angedeutet und sprachliche Exaltationen vermieden. Keyes´ Roman erscheint nicht allein deshalb geradezu zeitlos; eine Geschichte wie die Charlies ist gerade heutzutage, angesichts des rasanten Erstarkens längst überwunden geglaubter deterministischer und biologistischer Ansätze in erziehungs- und sozialpolitischen Fragen, wieder von beängstigender Aktualität.

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Daniel Keyes:
Blumen für Algernon. Roman
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Eva-Maria Burger
Klett-Cotta, Stuttgart 2006
298 Seiten, 19.50 EUR
ISBN: 978-3-608-93782-4
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