Martin Compart


JOCHEN KÖNIG ÜBER EINEN WESTERN VON ELMORE LEONARD by Martin Compart
8. Mai 2024, 12:06 pm
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Elmore Leonard – Letztes Gefecht am Saber River

Als der ehemalige Südstaatenoffizier Paul Cable mitsamt seiner Familie zum Ende des Sezessionskrieges auf seine kleine Ranch zurückkehrt, findet er sie von den Männern des Nordstaatlers Vern Kidston okkupiert vor. Der undurchsichtige Händler und Waffentransporteur Edward Janroe versucht Cable zu überzeugen, Kidston und seinen Bruder Duane zu töten. Cable ist skeptisch und verweigert sich der Manipulation.

Doch als er die Hausbesetzer vertreibt, ist ein gewalthaltiger Konflikt vorprogrammiert, ein finaler Showdown zwischen Paul und Vern scheint unvermeidlich. Der Ränkeschmied Janroe scheint zu triumphieren. Dann endet allerdings der Bürgerkrieg. Mit der Niederlage des Südens und dem Friedensschluss ändern sich die Verhältnisse schlagartig, und es darf bezweifelt werden, ob alle Protagonisten eine Zukunft besitzen.

Herausgeber ‏ : ‎ Liebeskind; Deutsche Erstausgabe Edition (4. März 2024)
Sprache ‏ : ‎ Deutsch
Übersetzer: Florian Grimm
Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 256 Seiten
ISBN-10 ‏ : ‎ 3954381761
ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3954381760
Originaltitel ‏ : ‎ Last Stand at Saber River

Elmore Leonard reichen eine Ranch und ein Gemischtwarenladen samt angrenzendem Gebiet für eine dramatische Auseinandersetzung. Dass er den Umgang mit überschaubaren Schauplätzen exzellent beherrscht, zeigt auch sein 1961, zwei Jahre nach „Last Stand At Saber River“, entstandener Roman „Hombre“, den Martin Ritt 1967 zu seinem erfolgreichsten Film (mit Paul Newman in der Titelrolle) verarbeitete.

Doch während der „Hombre“ Russell aufgrund seiner indigenen Verbindungen ein geringgeschätzter Mann innerhalb eines rassistischen Umfelds ist, möchte der dekorierte Ex-Soldat Paul Cable sein Leben inmitten einer Gemeinschaft, die er kennt, wieder aufnehmen. Doch wie so oft kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt.

Wobei die Fronten gar nicht klar verteilt sind. Leonard ist ein zu geschickter und intelligenter Erzähler, um bloßes Schwarzweiß-Denken die Oberhand gewinnen zu lassen. Cable ahnt schnell, dass er und Vern Kidston sich nicht als Feinde gegenübertreten müssten. Doch Kidstons Männer verfolgen ihre von Rachsucht geprägten eigenen Pläne, während der etwas tumbe Duane Kidston von allen Seiten beeinflusst wird. So auch von seiner Tochter Lorraine, die die Rückkehr der Familie Cable auf ganz spezielle Art torpediert. Neben der Vermittlerin Luz und der wehrhaften Martha Cable, eine von drei starken Frauenfiguren des Romans. Bei Elmore Leonard alles andere als Staffage. Ungewöhnlich genug für das Jahr 1959 in einem Genre, das eigentlich als reine Männerdomäne gilt. Leonard weiß, dass eine Männerwelt ohne Frauen ein Nichts ist.

Der mysteriöse Edward Janroe möchte ein großer Manipulator sein, der alle Seiten um des eigenen Vorteils willen gegeneinander ausspielt. Das ins Negative gekehrte Pendant zu Toshiro Mifunes „Yoyimbo“ und Clint Eastwoods schweigsamem Fremden in „Eine Handvoll Dollar“. Janroe stilisiert sich zum patriotischen Südstaaten-Kämpfer, ist aber nur ein skrupelloser Kriegsgewinnler, der über Leichen geht, um seine Ziele zu erreichen. Zugleich – und damit ganz nahe an der modernen Politik – arbeitet er hinterhältig mit Fake News. So verschweigt er das Kriegsende, weil es ihm ungelegen kommt.
Doch er hat die Rechnung ohne seine Gegenspieler gemacht. Denn denen gelingt etwas, dass oft in vermeintlicher Spannungsliteratur vermieden wird: Sie reden miteinander (wenn auch spät).

Erzählerisch ist „Letztes Gefecht am Saber River“ ein Genuss. Bereits der Einstieg ist große Kunst. Ein Mann beobachtet einen anderen bei Alltagstätigkeiten, die Erzählung bleibt gelassen, beinahe sachlich, doch gelingt es Elmore Leonard, ein Gefühl der Bedrohung zu vermitteln, welches die Entwicklung des gesamten Romans bestimmen wird. Hier gibt es keine künstliche Aufgeregtheit, kein aufgebauschtes Drama. Die Handlungsträger sind sich ihres Selbst, ihrer Motivation und grundlegenden Wesenszüge bewusst, Cable und Kidston denken nach, bevor sie handeln, ziehen daraus ihre Kraft und in entscheidenden Momenten auch ihre Ruhe. Dass ist bei Edward Janroe ähnlich, doch fehlen ihm ethische Ankerpunkte und Verantwortlichkeiten übers eigene Ego hinaus.

Timing spielt eine wichtige Rolle in Elmore Leonards Werken, so auch hier. Aktionen und Reaktionen bestehen aus Planung und Überraschungsmomenten, Phasen des Nachdenkens und Resümierens werden unterbrochen durch kurze, aber intensive Gewaltausbrüche. Bei denen immer die Frage im Raum steht: Wer kämpft aus welchen Beweggründen? Und ist dabei in der Lage, trotz heftig wallender Gefühle, die Ratio nicht auszuschalten. Könnte sein, dass dies ausschlaggebend ist, die Kampfzone lebend zu verlassen.

„Letztes Gefecht am Saber River“ nimmt viel vorweg, was später im Italo-Western folgen sollte. Die Lakonik, die präzisen Wechselspiele in Taten und Worten, die Vermeidung von Stereotypen, gerade in der Konstellation der Guten, Bösen und Hässlichen, den konsequenten und wohlüberlegten Einsatz von Gewalt und die Leidensfähigkeit der Hauptfigur, im Wissen um ein hehres Ziel.

Was den Roman vom italienisch-spanischen Kino unterscheidet ist die Abwesenheit von Zynismus und Nihilismus. Ein wenig Sarkasmus sitzt allemal drin, aber am Saber River wissen sie, was sie tun. Und warum.



Jochen Königs Jahresrückblick 2023 by Martin Compart
7. Januar 2024, 1:19 pm
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Die frommen Wünsche für 2023 blieben das, was sie waren, nicht mehr. Denn 2023 entpuppte sich als bösartiges Geschwisterchen der Jahre zuvor. Noch mehr Krieg, noch mehr Einfalt und/oder Niedertracht, die sich lautstark breitmachten, vor allem in den Netzwerken, die unberechtigterweise den Beinamen „sozial“ tragen.

Lieber wieder die Zuwendung zum kulturellen Schaffen. Das doch viel Erfreuliches bereithielt. Ob die Krise des Blockbuster-Kinos dazugehört, mag jeder für sich selbst entscheiden. Gut, dass grottige CGI-Orgien, viel zu lange Filme mit den ewig gleichen Abläufen und Finalkämpfen kläglich abstürzen.

Zu den Highlights des Jahres gehörten dafür Dokumentationen von kreativen Köpfen. Giuseppe Tornatores „Ennio Morricone – Der Maestro“ (einzige 15 Punkte-Wertung auf Booknerds.de bislang von mir) und „All The Beauty And The Bloodshed“ spielen ganz vorne mit. Der Inhalt von „Ennio Morricone – Der Maestro“ erklärt sich von selbst“, „All The Beauty And The Bloodshed“ stellt faszinierend die Fotografin Nan Goldin in den Mittelpunkt, die, geprägt vom frühen Selbstmord ihrer älteren Schwester, über eigene Suchterfahrungen mit weiteren Mitstreitern zur engagierten Kämpferin gegen die Machenschaften des Sackler-Clans wird. Einerseits spendable Kunstförderer, andererseits sind die Sacklers Drahtzieher hinter dem riesigen Pharmakonzern Purdue (Herstellung und Vertrieb von Oxycodon), damit maßgeblich mitverantwortlich für die Opioid-Krise in den USA, bei der Oxycodon und seine Ableger für Abhängigkeit und Tod sorgen. Ein hochspannendes, engagiertes Werk, das als Künstler-, Zeitporträt und gesellschaftspolitische Analyse gleichermaßen erhellend funktioniert.
Ganz früh im Jahr gefiel Martin McDonaghs „The Banshees of Inisherin“, diese tieftraurige, ungemein witzige Studie über Aspekte von Freundschaft und Selbstbestimmung, getragen von wunderbar dunklen Bildern, einem sterbensschönen Soundtrack und hervorragenden Darstellern (Brendan Gleeson, Colin Farrell, Kerry Condon etc.).

Im Mainstreamkino machte der von mir wenig geschätzte Tom Cruise und seine Mission Impossible-Rasselbande viel Spaß. Ich mag den Scientology-Jünger Cruise zwar überhaupt nicht, erkenne aber neidlos an, dass M.I. seit Jahren dem James Bond-Franchise den Rang abgelaufen hat. „Mission: Impossible 7 – Dead Reckoning Teil Eins“ hat souveräne Action zu bieten, ein paar gar nicht dumme Gedanken und Bilder zu lückenloser Überwachung, K.I., Masken und Menschen fallen ebenfalls ab. Zwar ist der Film – wie nahezu jeder Blockbuster der letzten Jahre – um gut eine halbe Stunde zu lang und wird erst 2025 (wahrscheinlich) vom zweiten Teil vervollständigt. Unterhaltsam war es dennoch, aber an der Kinokasse kam es nicht gut an. „Mission Impossible“ entpuppte sich als veritabler Flop. Nicht so schlimm wie die diesjährigen MCU und DC-Gurken oder der gebrechliche Indiana Jones, dem übel mitgespielt wurde. Qualitativ zudem auf einem anderen Level.

„Auf dem Weg“ ist ein visuell und darstellerisch (Jean Dujardin!) bestechender Film, gerade für Menschen, die Bezug zum Wandern haben. Unaufgeregt, aufs Wesentliche konzentriert und glücklicherweise nicht zu messianisch im „Back to he roots“-Gestus unterwegs, gefällt „Auf dem Weg“ als filmische Meditation. Genau das Richtige zum Ausgang eines vor Aufgeregtheit berstenden Jahres.
Sehr gut gefallen haben auch David Finchers „The Killer“, das Vorort-ist-die-Hölle-Horrorflic „Barbarian“ Und ja, ich habe viel Spaß an der bonbonbunten „Barbie“ gehabt.

Leider bislang noch nicht „Godzilla – Minus One“ gesehen, dessen Lob ihm vorauseilt. Ebenso warten noch Brandon Cronenbergs „Infinity Pool“ und Martin Scorseses „Killers Of The Flower Moon“ auf Begutachtung. Von allen dreien Filmen verspreche ich mir viel. „John Wick 4“ habe ich mir aufgespart, bis ich mal viele Mußestunden habe.
Im Fernsehen schloss Mike Flanagan mit seiner gelungenen und adäquat in die Gegenwart versetzten Edgar Allan Poe-Hommage „Der Untergang des Hauses Usher“ („The Fall Of The House Of Usher“) an die Höhen seiner beiden „Spuk in…“- Serien an. Mit dem öden moraltheologischen Grundkurs (für Menschen, die noch nie etwas von Vampiren gehört haben) „Midnight Mass“ konnte ich wenig anfangen.

„Sex Education“ schwächelte zwar in der finalen Staffel, blieb aber dennoch ansehnlich und verabschiedete sich mit zwei herzerwärmenden Finalfolgen.
Die volle Breitseite gab es bei Gareth Evans‘ nachtschwarzem Gangster-Moratorium „Gangs Of London“. Finster, derbe brutal und sehr, sehr gut, wobei die zweite Staffel gegenüber dem herausragenden Start etwas abfiel, aber weiterhin von brachialer Wucht war.

Gleich früh im Jahr war Nicoals Winding Refns „Copenhagen Cowboy“ ein extravaganter Noir-Trip, visuell berauschend, musikalisch wie gewohnt stimmungsvoll, gegenüber Refns Vorgängerserie „Too Old To Die Young geradezu fast & furious. Also immer noch sehr, sehr langsam. Not everybody‘s darling, meins schon.

„Daisy Jones And The Six“ lehnt sich lose an die Biographie Carole Kings an und mixt sie heftig mit der Geschichte Fleetwood Macs, um daraus eine eigene Storyline um Aufstieg und Fall einer Band zu machen. Viel 70er-Jahre-Mucke, die auch in der nachgemachten Variante überzeugt (Riley Keough und Sam Claflin singen selbst). Das ist ein bisschen kritisch, ein bisschen nostalgisch, ein bisschen ironisch und vor allem unheimlich unterhaltsam. Geschichten von unterwegs aus dem Rock’n’Roll-Zirkus, der sein Zelt mittlerweile abgebaut hat. Besonders lobende Erwähnung für Suki Waterhouse als Keyboarderin Karen Sirko und die gelegentlichen Auftritte des immer sehenswerten Timothy Olyphant, der zudem dieses Jahr ein ansprechendes „Justified“-Sequel abfeiern durfte. Raylan Givens rulez. Immer noch und wieder.

Die meistgeliebte Serie des Jahres stammt aus 2018 und 2021, die thailändische Wundertüte „The Girl From Nowhere“ (nicht verwechseln mit dem feinen B-Movie-Song „Nowhere Girl“). Faszinierende Bilder, klasse Soundtrack und eine konsequent finstere wie surreal-komische Abrechnung mit einer Gesellschaft im Zerfall. Hinterfragen (a)moralischer Systeme und Werte inklusive. Chicha Amatayakul als Nanno und Chanya McClory als Antagonistin Yuri sind fantastisch und als Schulmädchen in Uniform verdammt gefährlich. Das einzig Frustrierende: Wo bleibt Staffel drei?

Zum Jahresende durfte „Reacher“ dann die Fernsehlandschaft in Cowboy-Manier zum zweiten Mal aufmischen. Recht so. Alan Ritchson nimmt man Lee Childs lonesome Drifter anstandslos ab. Die reine Freude für jeden, der unter Tom Cruise in viel zu großen Militärstiefeln gelitten hat.

Während Lee Child das literarische Vorbild mittlerweile an seinen Bruder abgegeben hat, schickt James Lee Burke seinen Dave Robicheaux (vorerst) in den Ruhestand. „Verschwinden ist keine Lösung“ ist eine phantasmagorische Apokalypse, in der die Grenzen zwischen Realität und Traumphantastik fluide sind. Der große Humanist Robicheaux und sein moralisch integrer Kumpel Clete Purcell bringen die Ursuppe des Bösen zum Kochen. Nachwort von yours truly. Dave Robicheaux bleibt uns aber erhalten, taucht er doch demnächst in einem Roman aus Purcells Sicht als wichtige Nebenfigur auf. James Lee Burke ist ein arbeitsamer Fuchs.

Der Autor ist ob seiner kruden politischen Ansichten sehr umstritten, sein Buch ist es nicht. A.D.G.s „Die Nacht der kranken Hunde“ ist eine Wiederveröffentlichung, die jeden Cent wert ist. Der Roman hat 50 Jahre auf dem Buckel, ist aber stilistisch und inhaltlich kaum gealtert. A.D.G. ist ein Meister der Verknappung und „Die Nacht der kranken Hunde“ ist ein fabulöser, französischer Country-Noir mit ganz eigener Erzählweise.

Das Jahr startete furios mit Bret Easton Ellis‘ eigenwilligem Coming-Of-Age-Roman „The Shards“. Die Fake-Autobiographie zeigt den jungen Bret Easton Ellis, der sich mit einer Reihe von Todesfällen in seiner unmittelbaren Nähe konfrontiert sieht. „The Shards“ ist ein scharfzüngiges Psychogramm, eine Zeitreise in die 80er mit vielen musikalischen Verweisen (ICEHOUSE!) und ein Spiel mit der Kunst des (unzuverlässigen) Erzählens. Nichts ist es wie es scheint und Schein ist doch – gerade in den 80ern – alles.

Weitere Highlights waren Yves Raveys „Taormina“, das nicht nur eine absurd komische und spannende Geschichte von dunklen Stunden am helllichten Tag, sondern auch ein sarkastischer Kommentar zum herrschenden Zeitgeist ist. A. F. Baxters „Die Höfe“ stellt zwei starke Frauenfiguren in den Fokus. Ein cooler Kriminalroman, aber auch eine Zustandsbeschreibung vom Verfall der Arbeitswelt und -beziehungen, angesiedelt im Rust Belt und doch weit darüber hinaus.


Schön auch, dass James Graham Ballards Dystopien „Dürre“ und „Flut“ 2023 im Diaphanes-Verlag wiederveröffentlicht wurden. Wegweisende Bücher, aktuell wie selten zuvor. James Graham Ballard ist ein großer Autor, den ich Euch mit all seinen Werken nur wärmstens ans Herz legen kann. Die verdienstvolle Diaphanes-Reihe, die 2016 mit „High-Rise“ startete, bietet sich zum Komplettkauf an.

Im Dezember nach Jahren der Abstinenz mit „Holly“ wieder einen Stephen King-Roman begonnen. Der erste Eindruck: Auf den integren Mann ist Verlass. Leider kam mir Eric Pfeil mit „Azzurro“ dazwischen, und der launige, informative Abriss über die Essenz der italienischen Popmusik musste vorgezogen werden. So habe ich erfahren, dass Fabrizio de André gemeinsam mit Premata Forneria Marconi oder kurz PFM diverse Alben aufgenommen hat. Besonders die Live-Mitschnitte sind große Kunst. Haben zwar schon ein paar Jahre auf dem Buckel, sind aber definitiv empfehlenswert. PFM alleine sind weiterhin aktiv und haben mit „The Event – Live in Lugano“ aktuell ein exzellentes Album am Start.

Musikalisch hatte 2023 einiges zu bieten. Die Konzerte von Achim Reichel, Heaven 17, Peter Gabriel und Madrugada waren allesamt, auf ganz unterschiedliche Art, begeisternd. Besonderes Highlight war, dass Heaven 17 im selben Hotel wie wir in Oldenburg abgestiegen waren und sich als sehr angenehme und begeisterungsfähige Zeitgenossen entpuppten. Ein Frühstück mir Martyn Ware und Glenn Gregory kann ich nur jedem empfehlen.

Steven Wilson hat mit „The Harmony Codex“ einen hörenswerten Grenzgang zwischen Progressive Rock, Jazz und Pop veröffentlicht. Hartnäckige Prog-Aficionados, die sich die x-te Wiederbelebung von „Hand. Cannot. Erase.“ (das meinereiner gar nicht so sehr schätzt) wünschen sind unglücklich. Wer sich zwischen Abba und Art Rock wohlfühlt, darf sich freuen. Wer klassisch orientierten Prog genießen möchte, findet mit Marek Arnolds Art Rock Project seine Wohlfühloase. Mit oder ohne Einhörner.
Bleiben wir beim Genre und dem Überschreiten seiner Grenzen. Peter Gabriel hat mit i/o nach 21 Jahren ein neues Studioalbum herausgebracht. Keine musikalische Revolution, eher die Erfüllung des eigenen hohen Standards. Die neuen Songs funktionierten im Konzert bereits tadellos.

Die Rolling Stones hingegen brauchten nur 18 Jahre für ein Nachfolgewerk zu „A Bigger Bang“. „Hackney Diamonds“ ist ein erstaunlich rotziges Werk geworden, das sich gut in der Stones-Diskografie macht. Funktioniert nach der altbekannten Devise: „It’s only Rock’n’Roll but we like it“. Wer etwas anderes erwartet ist selbst schuld. Alle anderen bekommen so zeitlose wie aus der Zeit gefallene Satisfaction.

Neu und toll war Anohni & The Johnsons vielsagendes Opus „My Back Was A Bridge For You To Cross“. Ebenso grandios die im August 2022 unerwartet verstorbene Trompeterin und Sängerin Jaimie Branch mit dem hypnotischen Jazz von „Fly Or Die Fly Or Die Fly Or Die ((world war))“.

John Cale kehrte mit dem produktionstechnisch etwas überladenen, dennoch faszinierenden „Mercy“ zurück. Van Der Graaf Generator wiederum belegten mit dem intensiven Querschnitt „The Bath Forum Concert“, dass sie Live im 21. Jahrhundert immer noch eine Macht sind, auch wenn Peter Hammill kurz nach Veröffentlichung der Gesundheit wegen eine Konzertpause einlegen musste.

Lana Del Rey zeigte mit „Did You Know That There’s A Tunnel Under Ocean Blvd“, dass sie sich gut als David Lynchs Ziehtochter machen würde, das Søren Bebe Trio spieltet mit „Here Now“ wieder wunderbar smoothen Jazz ohne Weichspüler-Ästhetik ein, während Timber Timbre mit „Lovage“, leider bei nur rund 35 Minuten Lauflänge, für perfekte Mitternachtsmusik sorgen, stellenweise burlesk mit Beatles- und Leonard Cohen-Bezügen.

Unglaublich viel Spaß machte „Reizüberflutung“ von SAFE, das Projekt des deutschen Gitarristen Julian Scarcella. Dem Titel entsprechend wurde gekonnt und ansatzlos zwischen Jazz, Rock, Metal (inklusive Growls!), Klassik, Funk, Flamenco, Chanson und Kaffeehausständchen hin und her switcht ohne je auseinanderzufallen.

Ein kleines Wunderwerk ist Steven Mercurios und The Czech National Symphonys Einspielung von Antonín Dvoráks Symphony No. 9 „New World Symphony“ („Aus der neuen Welt“). Klanglich State Of The Art entlockt die Aufnahme dem oft gespielten Werk feine, wie neu wirkende Nuancen, lässt es atmosphärisch und spieltechnisch frisch schimmern.

Wie üblich nur ein kleiner Ausschnitt von dem, was mir im Jahr 2023 sehr gut gefallen hat.
Was man vom öffentlichen Leben nicht so sagen kann. Zu viel Dumpfheit, Nationalismus, religiöser Fundamentalismus, Fanatismus insgesamt dort draußen. „Hold Your Head Up“ kann man nur mit Argent wünschen, denen ich im vergangenen Jahr ebenfalls eine Renaissance gegönnt habe. Vorher die einzigen Zombies, mit denen man gerne die Apokalypse verbringen würde.



Von Grenzerfahrungen zu -überschreitungen von Jochen König by Martin Compart

Zwischen Globalisierung und stetig fortschreitender Migration, zwischen Verknüpfung von Beziehungen, Schmuggel und Drogenhandel sind Grenzen und die sie umgebenden Landschaften die relevantesten Marker. Zwischen Fakt und Faszinosum spielt das Thema (gerade in den letzten Jahren) in der Populärkultur eine wichtige Rolle. Inklusive der möglichen Übertragbarkeit auf ethisch-moralische, gesellschaftsstrukturelle und individuell konnotierte Konditionen. Nein, „Fifty Shades Of Grey“ ist kein grenzüberschreitender Text, sondern bloß ein kleingeistiges Spiel mit eigenen Beschränkungen. Eine Grenzerfahrung der anderen Art.

Die Grenze als trennendes wie verbindendes Medium hat die schwedische Serie „Die Brücke – Transit in den Tod“ (OT. „Broen“) wesenhaft in Szene gesetzt. Eine Leiche, die auf der titelgebenden Öresund-Brücke genau auf der Grenzlinie zwischen Dänemark und Schweden deponiert wurde, zwingt die Polizeibehörden beider Länder zur (vom Täter beabsichtigten) Zusammenarbeit. Gelungene Charakterzeichnungen, geschickter Spannungsaufbau und das Spiel mit Doppelbödigem machen die Serie zu einem Genuss. Gilt auch, mit leichten Abstrichen, für die Folgestaffeln.

Im Verlauf der zweiten Staffel wurden die Serienschöpfer von der Realität eingeholt. Zu einen kündigte der dänische Hauptdarsteller Kim Bodina wegen des wachsenden Antisemitismus in der Öresund Grenzregion (sowie inhaltlicher Differenzen) seinen Ausstieg an, zum andern wurde die ehemals völkerverbindende freie Überfahrt 2016 durch reinstallierte Grenzkontrollen wesentlich erschwert. Als ein Grund dafür wurden die steigenden Migrationszahlen von Dänemark Richtung Schweden genannt.

Der amerikanische Ableger „The Bridge – America“, der zwischen dem texanischen El Paso und dem mexikanischen Ciudad Juárez spielte, agierte auf ähnlich hohem Niveau wie das Original.

Weitere Ableger gab es in Frankreich (mit dem Eurotunnel statt einer Brücke), Russland, Asien (angesiedelt zwischen Malaysia und Singapur) sowie mit der mäßigen, verschwurbelten deutsch-österreichischen Koproduktion „Der Pass“. Ein wahrhaft weltumspannendes Serienuniversum.

Was „The Bridge – America“ eher am Rande inszenierte, rückte in Denis Villeneuves „Sicario“ (und dem schwächeren zweiten Teil) in den Mittelpunkt: Drogenhandel sowie die schwierige Zusammenarbeit der unterschiedlichen Behörden, bei der Kompetenzen, Vertrauen, Verrat und Eigeninteressen einen komplexen und stellenweise unberechenbaren Verbund eingehen. „Sicario“ gehört zur „American-Frontier“-Trilogie des Autoren Taylor Sheridan, dessen vorzüglicher Wüsten-Noir „Hell or High Water“ eine familiäre Grenzlandodyssee darstellt, während „Wind River“ Ausgrenzung und Verbrechen an der indigenen Bevölkerung der USA darstellt.
In der Serie „Yellowstone“ rücken Grundstücks- und Weidegrenzen in den Mittelpunkt. Spätestens hiermit hat sich, der auch als Schauspieler („Sons Of Anarchy“) tätige Sheridan als einer der wichtigsten aktuellen Kulturschaffenden etabliert.

Den hoffnungslosen „War On Drugs“ hat Don Winslow mit seinem Magnum Opus „Tage der Toten“ zum Thema, in dem Grenzüberschreitungen von mexikanischer und US-amerikanischer Seite an der Tagesordnung sind. Trotzdem ist der voluminöse kein Pamphlet, das Donald Trumps „Let‘s build a wall“-Ideologie unterstützt. Ebenso wenig wie Robert Crais‘ „Straße des Todes“ der seinen Detektiv Elvis Cole gemeinsam mit dem schlagkräftigen Joe Pike an seiner Seite in einen Kampf gegen brutale Schleuserbanden schickt. Bereits 1982 waren Jack Nicholson, angenehm zurückhaltend und intensiv, in Tony Richardsons „Der Grenzwolf“ sowie Charles Bronson zwei Jahre früher, und qualitativ blasser, in Jerold Freedmans „Grenzpatrouille“ unterwegs. Eine spannende Ergänzung, die den Überlebenskampf der Flüchtlinge stärker visualisiert, stellt Jonás Jonás Cuaróns (Sohn von Alfonso Jonás Cuarón) „Desierto – Tödliche Hezjagd“ dar, der mit Gael García Bernal und Jeffrey Dean Morgan zwei vorzüglich aufspielende Antagonisten aufzubieten hat.

In Deutschland prägte das Thema Grenze und ihre Überwindung die Geschichte seit dem Ende des zweiten Weltkriegs. Gelegenheit, auf John Le Carrés Klassiker „Der Spion, der aus der Kälte kam“, inklusive der gelungenen Verfilmung zu verweisen. Doch auch im Westen spielten Grenzübertretungen eine Rolle. In Mechtild Borrmanns „Grenzgänger“ wird der Kaffeeschmuggel für die junge Henni und ihre Freunde zum Verhängnis. Denn auch hier gibt es einen Schießbefehl, der von Ordnungskräften mal widerstrebend, mal mit Begeisterung umgesetzt wird. Die befehlsgebende Gewalt hat sich geändert, die Verhaltensweise der Subalternen bleiben gleich. Henni kommt mit dem Leben davon, landet jedoch nach dem Tod der Mutter in einem kirchlich geführten Kinderheim. Dort sind Nächstenliebe, das Achten der menschlichen Würde Fremdwörter. Es gibt keine Grenze zwischen Himmel und Hölle. Borrmanns Roman ist ein aufwühlender Streifzug durch eine Zeit, die bei Weitem noch nicht aufgearbeitet ist.


Noch näher am Genre und doch ganz ähnlich ist Seamus Smyths Revenge-Thriller „Spielarten der Rache“, der die Perfidie eines menschenverachtenden Systems, geschützt und bewahrt von kirchlichen Trägern und Handlangern, in bitterer Konsequenz schildert. Die Grenzen der Menschlichkeit werden bewusst und mit ausufernder Brutalität überschritten, der spät folgende Rachefeldzug erscheint geradezu zwangsläufig. Ein so kraftvoller wie schmerzlicher Roman.

An der realen Grenze Nordirlands zur irischen Republik, im Gebiet zwischen Armagh im Norden und dem County Monaghan in der Republik Irland siedelt Anthony J. Quinn seine Reihe um den nachdenklichen und obsessiven Polizisten Celsius Daly an. Hier stellt die Zusammenarbeit der nordirischen Beamten mit der Guardia Civil eine Herausforderung mit manch böser Überraschung dar. Es gibt viel zu tun, haben sich doch im Grenzbereich ehemalige IRA-Mitglieder, Kriminelle unterschiedlicher Couleur und Nationalität sowie Immobilienspekulanten angesiedelt, die gerade angesichts der vorhandenen Armut für eine Atmosphäre der Angst, Gewalt und Verzweiflung sorgen.

In „Frau ohne Ausweg“ trifft Daly auf die kroatisch-stämmige Lena Nowak, die an einem ausgefeilten Plan arbeitet, ihrem kriminellen Chef und der Zwangsprostitution zu entkommen. Nowak ist nur eine von vielen Frauen, die über Grenzen verschleppt wurden, ihrer Pässe und damit der Identität beraubt zu werden. Aber sie ist klug und zäh genug, um Mitstreiterinnen zu motivieren und der Polizei sowie verbrecherischen Zuhältern ein Schnippchen zu schlagen. Ein Hauch von Hoffnung am Ende von schwarzen Tagen.

„Frau ohne Ausweg“ zeigt – wie alle gelungenen Werke zum Thema Grenze – wie brüchig die menschliche Gemeinschaft gebaut ist, in einer Welt in der Recht und Gerechtigkeit oft wenig miteinander zu tun haben. Menschen werden zu Waren, die über Grenzen geschafft werden, Waren werden zu Schmuggelgut und der sogenannte Krieg gegen Drogen scheint schon seit langem verloren.

Grenzüberschreitungen können zu Erkenntnissen führen, halten aber auch den Abstieg in die Hölle bereit. Dazwischen gibt es, gerade kulturell, viel zu entdecken.



Jochen König schreibt… by Martin Compart
21. September 2023, 7:56 pm
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…jetzt auch regelmäßig für die „Gazette“ des Polar-Verlages.

Das e-Magazin kann man kostenfrei bestellen unter kontakt@polar-verlag.de .

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JOCHEN KONIG ÜBER Yves Raveys „Taormina“ by Martin Compart
12. Juli 2023, 6:58 pm
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Wenn es in der Ehe kriselt, mach Urlaub auf Sizilien, besuche Taormina und es wird sich richten, haben sie gesagt. Fahr nicht sofort ins Hotel, sondern begib dich erst einmal an den Strand, genieße Sonne und Meer, haben sie gesagt. Entspann dich und setz dein freundlichstes Gesicht auf, haben sie gesagt. Alles wird gut, haben sie gesagt.

Wird es nicht. Denn auf dem Rückweg vom unwirtlichen Strand, touchiert Melvil Hammetts Mietwagen im Halbdunkel ein Hindernis. Ein Baumstrunk, ein Hund oder vielleicht ein Bewohner des maroden Zeltlagers nahebei?
Zu erkennen ist nichts. Wie auch, wenn das Gefährt nicht gestoppt wird und weder Melvil noch seine Gattin Luisa aussteigen, um herauszufinden, was geschehen ist.
Stattdessen müßige Spekulationen, gepaart mit der Sorge, nicht zeitig im gebuchten Hotel in Taormina anzukommen. Melvil beschwichtigt und predigt Zuversicht. Was nicht sein darf, ist auch nicht.
Der Check-In klappt nach einigen Mühen, so langsam könnte Urlaubsstimmung einsetzen. Doch das Auto hat eine Delle und die Zeitungen vor Ort berichten am nächsten Morgen von einem überfahrenen Kind.

Melvil räsoniert weiter, wägt alle Möglichkeiten ab, legt seine Rolle als vehementer Befürworter des Ungefähren nicht ab, während sich bei Gattin Luisa zaghaft das Gewissen regt. Der bescheidene moralische Aufruhr reicht indes nicht aus, um sich den möglichen Unfallfolgen und der Fahrerflucht zu stellen. Schon gar nicht vor der Polizei. Melvil kann nicht viel, aber im Abwiegeln ist er meisterlich. So widmet man sich dem Sightseeing, wird aber immer wieder auf den Vorfall gestoßen und muss entscheiden, was mit dem demolierten Wagen passieren soll.

Der freundliche Kellner Roberto weiß Bescheid, kennt er doch eine vertrauenswürdige Werkstatt, die sich diskret dem Schaden widmen würde. Die Hammetts nehmen das Angebot erleichtert an, nur um feststellen zu müssen, dass hinter freundlichen Fassade von besorgten Komplizen die pure Geldgier wohnt. Der Chef der Werkstatt lässt das Paar finanziell bluten und spielt ihre Position auf verlorenem Posten genüsslich gegen die Beiden aus. Am Ende sind die Hammetts keine Touristen mehr, sondern Flüchtlinge. Und somit den Bewohnern des Zeltlagers nicht unähnlich, dem sie vermutlich einen jungen Bewohner entrissen haben.

Yves Ravey – Taormina

Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller
Liebeskind Verlag; 112 Seiten, € 20,00
Gebunden, mit Schutzumschlag
Erscheinungstermin19. Juni 2023
ISBN978-95438-168-5

Yves Raveys „Taormina“ ist ein hinterlistiger, kleiner Noir von gerade einmal hundertzwölf Seiten, der aber weit über sein kompaktes Format hinaushallt.

Erzähler Melvil Hammett, der weder die coole Eleganz Jean Pierre Melvilles noch die abgeklärte Härte Dashiell Hammetts besitzt, geriert sich als tumber Tor, dessen „Carpe Diem“ darin besteht, alles auszuschalten, was ihm nicht in den Kram passt. Aber natürlich schlägt diese Haltung mit Macht zurück und lässt alle Pläne und Hoffnungen zerbröseln.

Melvil ist ein armer Wicht, der sich in einem Leben bar jeder Verantwortung eingerichtet hat. Finanziell ist er von seiner Frau Luisa, respektive seinem Schwiegervater abhängig, weswegen er in der Ehe Kompromisse eingeht, die Luisas Seitensprünge und die Verachtung ihres Vaters beinhalten.

Die Reise nach Taormina, die eine Zeit des Kulturgenusses, der Muße und der Aussöhnung werden sollte, wird nach dem Unfall mit unklarem Ausgang zu einem Höllentrip. Der nicht in körperliche Folter, Mord und Totschlag ausartet, sondern aus Zagen, Zaudern und Ungewissheit besteht.

Was wirklich passiert ist, bleibt nebulös, doch Melvil spielt den Mann ohne Eigenschaften, der angestrengt den Anschein zu wahren sucht, ein gewöhnlicher Tourist auf Urlaubsmission zu sein.

„Taormina“ erzählt keine bedrohliche Geschichte von Verbrechen und Strafe, sondern Protagonist Melvil gestaltet seine Schilderung als bildungsbürgerlichen Reiseroman. Versucht es zumindest verzweifelt, was die verstörenden Momente und das herrschende Unbehagen umso intensiver erscheinen lässt. Der gnadenloseste Satz des Textes lautet: „Draußen strahlte die Sonne.“

„Taormina“ ist ein kurzer, präziser und überzeugender Roman über Entfremdung, im Fokus Menschen, die keine Bezugspunkte mehr haben, keinen Kompass, der ihnen den Weg zu ihren schäbigen Egos zeigt und dann wieder hinaus in die Welt weist. Stattdessen bleiben nur Jammern und das Festhalten an einem imaginierten Status Quo. Der in Windeseile von einem schmierigen Werkstattbesitzer ausgehebelt werden kann.

„Taormina“ ist nicht nur eine absurd komische und spannende Geschichte von dunklen Stunden am helllichten Tag, sondern funktioniert auch hervorragend als sarkastischer Kommentar zum herrschenden Zeitgeist. Nicht nur T.S. Eliot weiß: Zu viele hohle Menschen, Ausgestopfte – hier, dort, überall.



DER LETZTE ROBICHEAUX by Martin Compart


Übersetzung: Jürgen Bürger
Originaltitel: A PRIVATE CATHEDREAL
ISBN: 978-3-86532-755-0
Preis: € 24,00
Einband: Klappenbroschur
Seiten: 472

Jochen König hat ein fulminantes Nachwort zum Roman geschrieben. Ein guter Grund, genauer nachzufragen:

Du hast das Nachwort geschrieben und bist seit langem im Thema: Ist das wirklich der letzte Robicheaux-Roman?

Das ist eine Frage, die ich mir und Günther Butkus, dem deutschen Verleger Burkes, auch sofort gestellt habe. Ein passender Abschluss ist „Verschwinden ist keine Lösung“ (mit dem noch deutlicheren Originaltitel „A Private Cathedral“) allemal. Aber Burke hat sich sehr ambivalent ausgedrückt, ganz im Sinne Sean Connerys bezüglich einer möglichen Rückkehr als James Bond: „Sag niemals nie.“ Oder in Burkes eigenen Worten, in einem Interview mit „Distinctly Montana“ Ende November 2021 („A Private
Cathedral“ wurde davor, im August 2020, in den USA veröffentlicht): „Oh, I just don’t know. I went back to the Hollands, and I’ve got a couple of books coming out about them. We’ll see what happens. I just don’t think about the future in a work. I never have. I see two scenes ahead, but never more.

Angekündigt ist für 2024 zudem ein Roman mit dem Titel „Clete Purcell“. „The title says it all“ kommentiert James Lee Burke. Und wenn Robicheaux-Intimus Cletus Purcell seinen eigenen Titel bekommt, dürften sein Kumpel Dave und Tochter Gretchen auch mit dabei sein. Davon gehe ich jedenfalls aus. Und über derartige Spin Offs kann man eine Reihe ja fein am Leben halten, ohne dass man das Ende antastet. Das ja eher eine Art zusammenfassender Rückblickist.
Reine Spekulation, aber trotzdem eine spannende Frage ist, ob Alafair Burke, James Lee Burkes Tochter, die selbst erfolgreich Kriminalromane schreibt, wohl irgendwann die Figuren ihres Vaters aufnehmen wird.

Warum beendet Burke seine erfolgreichste Serie?

Nun, dreiundzwanzig voluminöse Bände enthalten enorm viel Stoff. Und ganz vor Wiederholungen gefeit war die Robicheaux-Serie nie. Zudem wird Robicheaux älter. Wie sein Schöpfer. James Lee Burke wird im Dezember 2023 87 Jahre alt und hat derzeit noch mindestens drei Romane in der Pipeline „Flags of our Fasthers“ erscheint im Juli, danach sind mindestens zwei weitere Holland-Novels angekündigt sowie der bereits erwähnte „Clete Purcell“).

Da schafft ein passendes Ende bei seiner langlebigsten Reihe Luft für anderes. Und wie in der ersten Frage schon erzählt, kann es ja weitere Bücher über Cletus Purcell und/oder Billy Bob Holland geben, in denen Robicheaux auftaucht.
Freuen wir uns auf jeden Fall noch auf ein paar kreative Jahre James Lee Burkes.

Wie und wann hast Du sie entdeckt und was gefällt Dir an ihr?

Ich habe Burke 1991 gleich mit dem ersten auf Deutsch erschienenen Robicheaux-Roman „Neonregen“ kennen- und schätzen gelernt. Ich habe damals auch versucht, an Burkes frühe Werke aus den Sechzigern und frühen Siebzigern zu kommen, was aber gar nicht so einfach war und in deutscher Übersetzung unmöglich.
Ich bin Robicheaux dann durch die Verlagswechsel (von Ullstein zu Goldmann) und die unvollständige Veröffentlichungspolitik gefolgt und war sehr froh, dass Pendragon die Serie neu herausbringt und endlich die Lücken schließt.

Natürlich habe ich mir die Billy Bob Holland-Bücher auch bei Erscheinen (ab 1999) besorgt.
Burke ist ein sprachlich gewandter Autor, der in seinen besten Momenten die Ausleuchtung der Conditio humana in spannende Geschichten zu verpacken versteht (bei Robicheauxs Hadern mit dem Katholizismus neigt Burke mitunter arg Richtung moraltheologisches Seminar. Aber das hält sich glücklicherweise in Grenzen); der Hardboiled, Noir, Gangster- und Polit-Thriller gekonnt und eigenwillig mischt, und das Ganze mit einer Portion Geschichte und Gesellschaftspolitik unterfüttert. Ohne aufgesetzt und belehrend zu wirken.

Es gibt zudem wenige andere Autoren (in Ansätzen gehören James W. Hall und David L. Lindsey dazu), die poetische Naturbeschreibungen als relevanten unGesellschaft wie Protagonisten widerspiegelnden Teil der Handlung einsetzen.

Außerdem gefallen mir die Grenzgänge Richtung Phantastik, die Burke im Finale geradezu halluzinatorisch auf die Spitze treibt. Das wird nicht jedem Lesenden zusagen. John Connolly wahrscheinlich schon, dessen lesenswerte Charlie „Bird“ Parker-Reihe in ähnlichen Gefilden unterwegs ist. Grüße aus Twin Peaks gibt’s gratis dazu.



Megan Abbott „Aus der Balance“ (The Turnout“) von Jochen König by Martin Compart

„Aus der Balance“ ist der erste Roman einer Autorin im verdienstvollen Pulp Master-Verlag. Frank Nowatzki geht gleich aufs Ganze: Mitten hinein in die Abgründe einer Ballettschule. Spätestens seit Dario Argentos „Suspiria“ (und der exzellenten Neuinterpretation Luca Guadagninos) wissen wir, welche höllischen Gefahren dort lauern können.

Bei Megan Abbott gibt es keine blutigen Morde, kein Hexen- oder Teufelswerk, ihre Hölle beginnt auf kleiner Flamme, befeuert durch dunkle Ahnungen, Obsessionen, Täuschungen, Verrat und Schuldgefühle. Der Herd des Ganzen ist die Keimzelle der Gesellschaft, die Familie. Megan Abbott ist sehr gut
aufgehoben in der dunklen, verschachtelten, höchst faszinierenden literarischen Welt von Pulp Master.

Oder wie Thekla Danneberg in ihrem lesenswerten Nachwort schreibt: „Es ergibt eine hübsche Punchline, dass der Verlag ausgerechnet mit dem Roman Aus der Balance beginnt, einem Roman über das Ballett, die Welt von Tüll und Tutu, Satin und Spitzenschuhen, in der alles zart und rosa erscheint. Wenn schon, denn schon, könnte man denken,aber tatsächlich passt Megan Abbott in diesen Kosmos aus Pulp und Noir wie die Faust aufs Auge.“

Pulp Master 58
Megan Abbott
Aus der Balance
Übersetzt von Karen Gerwig und Angelika Müller
Mit einem Nachwort von Thekla Dannenberg
415 Seiten
Pulp Master 2023, EUR 16,00

Dara und Marie sind die Töchter der berühmten Ballerina Mrs. Durant (Vornamen bekommen beide Elternteile nicht). Marie ist die besessenere Tänzerin, vielleicht auch die bessere, Dara ist rationaler, fokussierter – so scheint es jedenfalls. Sie ist verheiratet mit Charlie, einem begabten und ehemals vielversprechenden Tänzer. Bis dessen malträtierter Körper sich dem Tanz verweigerte.

Megan Abbott und ihre (nicht sehr zuverlässige) Erzählerin Dara verbringen viel Zeit damit, die körperlichen Verwüstungen zu beschreiben, die exzessiver Balletttanz mit sich bringt.
Und die natürlich symbolhaft für innere Deformationen stehen.

Das Trio wohnt gemeinsam im Elternhaus der Schwestern, Charlie war bereits als Ziehkind Teil der Familie Durant.
Seit die Eltern bei einem Autounfall ums Leben kamen, hat sich das Verhältnis noch gefestigt. Doch nicht nur die Frage, wer am Steuer bei der tödlichen Fahrt saß, zeigt wie brüchig die Beziehungen sind. Fluchten werden geplant und nicht konsequent umgesetzt, immer wieder hockt das Trio aufeinander und arbeitet mit ehrgeizigen Eleven an der jährlichen Aufführung von Tschaikowskis „Nussknacker“. Das Ballett und die Proben dafür konterkarieren und kommentieren Daras Erzählungen vom Zusammenleben, den Versuchungen, Erschütterungen, Verschwiegenheiten und dunklen Geheimnissen.

Als nach einem Brand der Bauunternehmer Derek ins Leben der Kleinfamilie tritt, bröckelt die Fassade der unheilen Welt noch weiter. Die labile Marie verliebt sich in den grobschlächtigen Mann, während Dara ihr Leben okkupiert und in Gefahr sieht. Derek wird zur Nemesis der Durants, wobei Zweifel bleiben, ob Daras Schlussfolgerungen der Realität entsprechen.

Die gewählte Erzählperspektive setzt Megan Abbott mit großem Geschick ein. Daras eingeschränkte
Wahrnehmung und Kunst der Verdrängung bilden den perfekten Nährboden für heftige, allerdings jederzeit nachvollziehbare Twists. „Aus der Balance“ ist ein klug gewählter deutscher Titel fürs Original „The Turnout“.
Denn das Leben der Protagonisten gerät völlig aus der Bahn, nachdem es bereits lange Zeit ein Tanz auf der Rasierklinge war. Geheimnisse und Lügen werden aufgedeckt, Ängste erzeugt und besiegt. Und es wird Tote geben, bis die Premiere des „Nussknackers“ endlich stattfinden kann.

„Aus der Balance“ ist ein Psycho-Thriller der besonderen Art. Er ist auch ein Noir, dessen Handlung dem Dunkel entgegensteuert, ein Horror-Roman, in dem sich das Grauen still und leise, quasi über die Hintertreppe der Ballettschule hereinschleicht. Selbst wenn nicht viel passiert, herrscht eine Atmosphäre des Unbehagens. Megan Abbott ist meisterlich darin, kriechenden Schrecken aus kleinen, scheinbar alltäglichen Gegebenheiten zu ziehen. Sie braucht keine Blutorgien, keine überkandidelten Wendungen, die Lesende erschlagen, statt zu überzeugen. Abbott genügen Unsicherheiten, Verblendungen (insbesondere der Erzählerin Dara), leichte Abweichungen im Tagesablauf, um die Dinge aus der Balance zu bringen. Die selbst in den vermeintlich besten Momenten, ein fragiles Konstrukt ist.

Dazu gesellen sich Mobbing, besonders unter den kleinen Ballerinen, Obsessionen, Eifersucht, Neid sowie die Unfähigkeit, Konsequenzen aus dem zu ziehen, was gefühlt oder offensichtlich aus dem Ruder läuft. Von Veränderungen ganz abgesehen. Die, wenn sie denn doch geschehen, brachial über die Beteiligten hereinbrechen, anstatt überlegt in Angriff genommen zu werden.
Der Roman zeigt Menschen, denen es nicht gelingt, toxischen Beziehungsgeflechten zu entfliehen, die lieber versuchen, sich hineinzuschmiegen, als wäre ein Spinnenznetz eine Wohlfühloase.
Das betrifft nicht nur die Durant-Schwestern und ihren ewigen Spielkameraden Charlie, sondern auch die Figuren am Rande. Wobei nicht eindeutigfestliegt, wer gerade die Spinne ist, bereit ihre Opfer zu verschlingen.

„Aus der Balance“ gelingt es hervorragend, den Horror der Ambivalenz zu erfassen. Leichte Veränderungen im wiederholt Erzählten, vielschichtige, glaubwürdige Charaktere und eine behutsame, aber kontinuierliche Spannungssteigerung (mit einigen Explosionen) machen das Buch zu einem geschliffenen, schmerzhaften wie lustvollen Stück Literatur.

Und wir hoffen, dass weitere Werke Megan Abbotts in deutscher Übersetzung folgen. Der Pulp Master-Verlag hat einen wichtigen und richtigen ersten (angesichts von „Das Ende der Unschuld“ zweiten) Schritt getan.



Heaven 17- Live In Oldenburg, 01.04.23 von Jochen König by Martin Compart
4. April 2023, 7:19 pm
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Gibt’s die noch, lautete oft die Frage im Vorfeld, wenn ich verkündete, dass ich mir HEAVEN 17 im beschaulichen Oldenburg (eine Stadt, die man nicht unterschätzen sollte) anschauen würde.

Ja, die gibt es noch, oder besser wieder, denn nach diversen Ausflügen in verschiedene Richtungen sind Martyn Ware und Glenn Gregory wieder vereint und auf Best Of-Tour. Vier Jahre Wartezeit von der Planung bis zur Ausführung, der Covid-Pandemie geschuldet, hat es diesmal gedauert bis das Duo ergänzt um eine exzellente Keyboarderin und zwei eindrucksvolle Sängerinnen, weit mehr als nur Background-Begleitung, die Bühnen wieder betritt. Acht Konzerte in Deutschland, und wenn man die sehr gefüllte Kulturetage in Oldenburg als Maßstab nimmt, gibt es viele Menschen, die das liebend gerne goutieren.

Martyn Ware besetzt das zweite Tasteninstrumenten-Terminal, Glenn Gregory singt. Keine Gitarren (die in der Rockmusik eh überbewertet werden) und keine Drums. Das Maschinelle ist intendierter Teil der Musik, gewinnt aber nie die Oberhand. Gregory und Ware arbeiten mit gehörigen Portionen Soul, Funk, Pop, Enthusiasmus und Power, dass das Organische jederzeit erhalten bleibt.

Die Band verbreitet enorme Spielfreude, Glenn Gregory ist immer noch verdammt gut bei Stimme und zudem ein eloquenter Conférencier. Zur langen Anlaufzeit der Tournee: „Some People bought their tickets four years ago, sorry. But the Pandemic was not our fault, it was a Human League!“ Die Entschuldigung für den Witz folgt auf dem Fuße, denn man ist den Ex-Kollegen nicht gram, was eine starke „Being Boiled“-Präsentation im Laufe des Konzerts beweist. Ebenso die gefühlvolle Darbietung von „You’ve Lost That Lovin‘ Feelin’“. Laut Gregory die Heaven 17-Interpretation der Human League-Interpretation des Righteous Brothers-Hits. Seine launigen Stories und Anekdoten waren eine Bereicherung des Konzerts.

Gregory: „Wir spielen jetzt mein Lieblingslied.“
Frau im Publikum: „Temptation!“
Gregory: “Ich sagte MEIN Lieblingslied, nicht deins“.
Es folgte eine exzessive und dramatisch wuchtige Version von „Let Me Go“. Gregory: „Normalerweise dauern Singles knapp drei Minuten, wir brauchten elfeinhalb.“ Jede davon ein Genuss.

Direkt danach durfte die Temptress aus dem Publikum ans Mikrophon und ihren Wunschtitel verkünden.

Mein Lieblingssong lief bereits zu Beginn des Konzerts, das leider immer noch höchst relevante: „(We Don’t Need That) Fascist Groove Thang!“ Zu Zeiten der Veröffentlichung von der BBC boykottiert um den damaligen Präsidenten des USA nicht zu verärgern. Falls sich jemand fragt, wenn man mit einer Anti-Faschismus-Hymne verstimmen konnte: Es war der zweitklassige Westerndarsteller Ronald Reagan: „Democrats are out of power / Across that great wide ocean Reagan’s president elect / Fascist god in motion“

Der auch an „Let’s All Make A Bomb“ wenig Freude gehabt haben dürfte, das ebenfalls zum Auftritt gehörte.

Von den bekanntesten Stücken fehlten eigentlich nur „The Height Of The Fighting“ und „Trouble“.
Dafür waren „Crushed By The Wheels Of Industry“, kantig, funky, treibend, und „Come Live With Me“, äußerst beseelt, mit stattlicher Publikumsbeteiligung, dabei.

Sehr gelungen auch die beiden David Bowie-Cover „Let’s Dance“, und im Zugabenteil, „Life On Mars“. Glenn Gregory versuchte nicht wie Bowie zu klingen, sondern eignete sich den Gestus der Songs zu eigenen Bedingungen an. Das beherrschte er schon zu British Electric Foundation (B.E.F.)-Zeiten, in denen er und Martyn Ware mit gecoverten Songs brillierten und Gäste wie Tinas Turner („Ball Of Confusion“) und Paula Yates („These Boots Are Made For Walking“) zu Prachtleistungen motivierten.

Trotz des Starts mit dem eigenen Favoriten blieb die Spannung und Faszination bis zum Ende des Konzerts erhalten. Das direkt nach „(We Don’t Need That) Fascist Groove Thang!“ gespielte, wunderbare „Geisha Boys And Temple Girls“ machte auf eindrückliche Weise bewusst, wie wichtig, gut und richtig die Musik von Heaven 17 immer noch ist. Gepaart mit enormer Bühnenpräsenz und offensichtlicher Lust am eigenen Tun ergab das einen herausragenden Konzertbesuch.

Kleine autobiographische Notiz: Dass die Band im gleichen Hotel untergebracht war ein sehr erfreulicher Bonus, erwiesen sich doch alle Beteiligten auch abseits der Bühne als ausgesprochen freundliche, charmante und liebenswerte Zeitgenoss*innen. Gerne bereit beim Frühstück, vor der Fahrt nach Berlin, ein paar Worte zu wechseln. Es ist einfach schön, wenn Kunst und Leben kongruent sind.
„Sisters, brothers lend a hand
Increase your population
Grab that groove thang by the throat
And throw it in the ocean!“

So soll’s sein. Auch vierzig Jahre später: Heaven 17 rulez.



Achim Reichel: Halle Münsterland 06.03.23 von Jochen König by Martin Compart
16. März 2023, 11:26 am
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Achim Reichel, der zweite Versuch.

2022 fiel das Konzert aus, da beteiligte Musiker an Corona erkrankt waren. Jetzt aber steht Achim Reichel in der Blüte seiner 79 Jahre auf der Bühne der Halle Münsterland. Und was ist der Mann fit: Zweieinhalb Stunden Konzert bewältigt er scheinbar locker, mit Esprit und gut bei Stimme. Es gibt zwar eine „altersgerechte“ Pause, aber mit dieser Anmerkung zielt Reichel Richtung Publikum, bei dem der geschätzte Altersschnitt 50+ locker als Euphemismus gehandelt wird.

Beim reichhaltigen Repertoire kann sich der Hamburger Musiker erlauben, gleich mit den beiden Hits „Fliegende Pferde“ und „Der Spieler“ zu starten. Es werden genug weitere Highlights folgen.

Zunächst fällt auf, dass die wehenden Keyboardflächen vom Band kommen, das wird auch weiterhin (selten) so bleiben, denn Tasteninstrumente fehlen auf der Bühne. Stattdessen ist Reichels Kombo mit drei (hervorragenden) Bläsern (Steve Wiseman/Trompete, Uwe Granitza/Posaune & Tuba, Andreas Böther/ Saxofon & Flöte)und einer Pedal Steel (Nils Tuxen) besetzt, neben Schlagzeug, Percussion (Yogi Jockusch), Bass (Achim Rafain) und Gitarren (Reichel und ebenfalls Tuxen)“.

Der singende Sägesound der Pedal Steel stürzt manche Country-Ballade in schlimm schluchzende Tiefen, bei Achim Reichel passt’s, gerade im Zusammenhang wenn Südsee-Flair erwünscht ist, wie beim unverwüstlichen „Aloha Heja He“. Das dreißig Jahre nach Veröffentlichung, ein Riesenhit in China wurde, was den Schöpfer des Songs (ein Zufallsfund, der zum Füllsel auf „Melancholie & Sturmflut“ wurde. Der Rest ist Geschichte) selbst höchst überraschend traf.

Hier – wie an zwei, drei anderen Stellen auch – singt das Publikum beeindruckend engagiert und laut mit, für Münster geradezu rauschhaft. Vielleicht befeuert von Achim Reichels ansteckendem Elan, den er sich auch für die anekdotischen Histörchen zwischen den Liedern bewahrte. Dass der Mann ein eloquenter Geschichtenerzähler ist, hat er auf vorigen Tourneen und mit seiner Autobiographie längst bewiesen. Ebenso launig fertigte er Zwischenrufer ab: „Immer die in den hinteren Reihen … Ich verstehe euch eh nicht mit den Knöpfen im Ohr. Da kommt nur so ein wogendes Plätschern an.“

Musikalisch deckte Achim Reichel seine gesamte Karriere ab – zumindest den langen Part als Solokünstler. Die „Regenballade“ und der „Klabautermann“ wurden dabei besonders gewürdigt. „Sophie, mein Henkersmädel“ und der „Herr von Ribbeck auf Ribbeck“ durften natürlich nicht fehlen, ebenso wenig die titelgebende „Regenballade“, so gespenstisch wie eindringlich vorgetragen. Dazu gesellten sich „Steaks und Bier und Zigaretten“ (klar, was sonst) , die prominenten „Trutz Blanke Hans“, „John Maynard“ und der unverwüstliche „Kuddel Daddel Du“, mit dem immer wieder erhebenden Refrain „Was kann die Welt dafür, dass ich sie liebe?“ Gerade zurzeit eine höchst berechtigte Frage.

Ebenso aktuell und mit dem nötigen Druck sehr atmosphärisch vorgetragen „Exxon Valdez“ – Reichels klarer musikalischer Kommentar zum liederlichen Umgang mit der Umwelt und den Katastrophen, die sie bedrohen.

Mit „Halla Ballu Ballay“ wurde ein starker Shanty, inklusive Mitsingparts, abgefeiert, „Die Reeperbahn Nachts um halb eins“ bekam eine Reichelsche Frischzellenkur. Der Zugabenteil wurde charmant und lakonisch abgefertigt. „Wir spielen jetzt noch ein bisschen und schenken uns das ewige Raus- und Reinkommen. Das ist für alle Beteiligten angenehmer.“ Recht gesprochen am Ende eines rundum gelungenen Konzerts, mit einer satt groovenden Band und einem charismatischen Frontmann, der aktuelle deutschsprachige Befindlichkeitsmusikanten musikalisch und vor allem textlich meilenweit auf Distanz hält.

Damit keine Zweifel aufkommen, Achim Reichel ist nicht auf Abschiedstournee.

„Vielleicht bis demnächst“, verabschiedete er sich. Gut möglich.


Fotos © Birgit Nölle



Jahresrückblick 2022 von Jochen König by Martin Compart
18. Januar 2023, 6:05 pm
Filed under: JAHRESRÜCKBLICK, Jochen König, MUSIK, Rezensionen, Taylor Swift, TV-Serien | Schlagwörter: , , ,

2022 hatte die Chance das Vorjahr in die Schranken zu verweisen. Doch es wurde versaubeutelt.

Corona rückte zwar in den Hintergrund, verblasste aber nicht völlig. Krieg, Naturkatastrophen, die FIFA, Korruptions- und Fake-News-Skandale, dazu viel zu viel eklige Menschen, die laut polternd zwischen Realitätsverweigerung und sozialer Verwahrlosung bevorzugt in den (anti)sozialen Netzwerken Nachrichten aus der Hohlwelt verbreiteten. Linus Volkmann bezeichnete 2022 in seinem Rückblick im „Musikexpress“ sehr treffend als „ein Jahr wie ein Typ, der einem ins Auto kotzt – und sich später nicht mal entschuldigt.“

Bleibt, wie so oft, das kulturelle Schaffen der vergangenen zwölf Monate, eine verkorkste Zeit zu retten. Oder die Krätze auszulösen (wie viel zu viele grottenöde Serienkiller-Thriller, Nena, Van Morrison, Filme, die nicht wissen, dass ein Ende zur rechten Zeit was Gutes ist)?

Schön, dass es wieder Konzerte gab.

Einen gelungenen Auftakt bildeten PURE REASON REVOLUTION und GAZPACHO im Columbia-Theater in Berlin. Zwischen Dancefloor, Art-Rock und großen Gesten boten beide Bands atmosphärisches Schwelgen, besonders GAZPACHO lieferten eine stimmungsvoll bebilderte Zeitreise. MELODY GARDOT, ebenfalls in Berlin, belegte, dass sie eine äußerst charmante Geschichtenerzählerin und große (Jazz)-Chanteuse ist. Leider kein „Preacherman“ für mich.
In der Elbphilharmonie gab es zwei Jugendorchester mit starkem Programm zum moderaten Preis. Von einer Eigenkomposition über Rachmaninoff und Shostakowich bis zur „What A Feeling“-Zugabe (die zur unbewussten Hommage an die kurz darauf verstorbene Irene Cara wurde) ein hervorragendes Konzert, mit viel Verve vorgetragen von jungen Musiker*innen zwischen 10 und 27 Jahren. Und die Bildungsbürgerreise in die „Elphi“ abgehakt.

Trotzdem muss man mit Erschrecken feststellen, dass Live-Events in Gefahr sind. Nicht wegen Corona. Während bekannte Künstler (vertreten durch viel zu groß gewordene „Dienstleister der Kulturbranche“ wie Live Nation oder Eventim) stellenweise Ticketpreise bis ins Vierstellige nehmen können, bleibt der Nachwuchs und unabhängige Kunst auf der Strecke.

Durch den Verkauf von Tonträgern lässt sich schon lange keine Tour mehr pushen, geschweige denn finanzieren. Logistik ist teuer, der Brexit sorgt für ein Aufblühen umständlicher und ebenfalls kostspieliger Zoll-Aktivitäten. Das Couch-Arrangement (und die Angst vor Ansteckung in prall gefüllten Räumen) mit Corona führte auch zu weniger Interesse an Konzerten. Zahlreiche Bands und Solokünstler sagten ihre bereits geplanten Touren ab oder verschoben sie auf unbestimmte Zeit. Prognosen sind düster.

Zu den musikalischen Veröffentlichungen, die mein Jahr prägten, stieß bereits früh „Call To Arms & Angels“, das neue Doppelalbum von ARCHIVE. Ein hypnotischer, langsamer Tanz, der sich sowohl bei Trip Hop, Pop wie Art Rock auskennt und auch passend für den Soundtrack eines Nicolas Winding Refn-Films (oder einer Serie) wäre.
Passend wäre auch „Nights Of Lust“, der Darkjazz-Slowburner des LOVECRAFT SEXTETs, die gegen BOHREN & THE CLUB OF GORE geradezu dem Geschwindigkeitsrausch verfallen sind.

Gefallen hat auch der gutgelaunte, spannende Retroprog der MOON LETTERS, deren erstes Album ich nicht so toll fand, während das zweite, „Thank You From The Future“, strahlte: „Überbordend, diffizil, dabei höchst ökonomisch, kein Ton zuviel“.

Ebenso klasse war die neue Inkarnation MAJOR PARKINSONs, der Beginn einer Trilogie. Ein weiteres Selbstzitat: „„Valesa – Chapter 1: Velvet Prison“ ist ein Grand Guignol-Musical der exzessiven Art. Genregrenzen interessieren MAJOR PARKINSON nicht, hier wird überbordend musiziert: Prog, Stadion-Rock und AOR treffen auf elektronische Entdeckungsreisen und grüblerische Singer-Songwriter-Sequenzen“.

Düsterer und intimer gings es bei der fabulösen Karin Park zu, deren eindringliche „Private Collection“ ein würdiger Nachfolger des exzellenten „Church Of Imagination“ ist. Steve Kilbey und Martin Kennedy hingegen überzeugten einmal mehr als vers(p)onnene Psychedeliker mit ihrem kryptisch betitelten „The Strange Life of Persephone Nimbus“. THE CHURCH sind stets präsent.

Kein Weg führte vorbei an TAYLOR SWIFTS neuem Output „Midnights“. Streamingdienste brachen bei Veröffentlichung zusammen und Swifty-Achselshirts waren ausverkauft. Ansprechend melancholischer Electro-Pop mit anrührenden, nachdenklichen Lyrics und nur sachtem R’n’B-Hochglanz-Muzak. Was der Musik gut tut. Nur selten klingt es nach einem Stück aus dem „Victorious“-Soundtrack. Aber auch da gibt es Schlimmeres.

SWIFT gelingt es mainstreamkompatibel zu sein und trotzdem die Dringlichkeit und den Charme von Indie-Produktionen zu bewahren. Das Album erschien in vier Ausführungen mit unterschiedlichem Artwork (Standard, Jade Green, Blood Moon, Mahogany). Besonders lohnt sich die später erschienene „Lavender“-Version mit drei famosen Bonustracks. Diese sind wieder originell instrumentiert und strahlen die bestrickende Intimität von TAYLOR SWIFTs in der Pandemie rearrangierten Werken aus. Digital erschien zudem die „3am“-Ausgabe mit insgesamt sieben Bonustracks.

SWIFT ist eine der wenigen Megastars, die einem nie auf den Senkel gehen. Und dass sie eine fantastische Musikerin ist, hat sie längst bewiesen. Allein mit E-Gitarre auf der Bühne ist sie die pure Freude. Davon bitte irgendwann ein komplettes Album!

Ein postumes Album bildet den Abschluss meiner kleinen musikalischen Reminiszenz ans Jahr 2022. Auch in dieser Beziehung ein ätzendes Jahr. Für mich wichtige und prägende Künstler starben: Dazu gehörten VANGELIS, MARK LANEGAN, MANUEL GÖTTSCHING, PHAROAH SANDERS, Jeff Beck und TERRY HALL. Mit dem Verlust von JULEE CRUISE und ANGELO BADALAMENTI wurde das „Twin Peaks“-Universum kleiner.

Besonders schwer traf mich der Tod KLAUS SCHULZEs, dessen Musik mich noch länger begleitet als die von VANGELIS. Mit „Deus Arrakis“, einer erneuten „Dune“-Reminiszenz, hinterließ er ein inspirierendes, atmosphärisches letztes Album.

Lobende Erwähnungen gibt es noch für die Comebacks von PORCUPINE TREE, „Closure P/T“ ist feinster Pop-Prog nach dreizehn Jahren Sendepause, die BROKEN BELLS (letzte Veröffentlichung 2014) mit dem der psychedelisch-poppigen Wundertüte „Into The Blue“. Der Übersong „The Chase“ enthält Spuren aus dem ARCHIVEt.

MADRUGADA melden sich mit dem funkelnden Nachtschattengewächs „Chimes At Midnight“ zurück. Ärgerlich ist die Veröffentlichungspolitik, bei der man es sich immer weiter mit der schrumpfenden Schar von Tonträger-Käufern verscherzt. Während PORCUPINE TREE ihr Album gleichzeitig in verschiedenen Versionen auf den Markt brachten, was eine Wahl möglich machte, erschien von „Chimes At Midnight“ nur wenige Monate nach dem Originalalbum eine Expanded Edition mit fünf(!) starken Bonustracks.
So verprellt man seine Interessenten.

Im Kino erledigte das über lange Zeit Corona. Und für mich und viele andere ist die Veränderung der Kino-Kultur hin zu einem umfassenden Event mit dauerhafter Fress-, Smartphone-, Trink-Begleitung und damit verbundenen Toilettenbesuchen ein Verweigerungsgrund.
Ist anscheinend schwer, Konzentration, Mund und Wasser eine ganze Filmlänge halten zu können. Von konzertierten Störaktionen irgendwelcher TikTok-Deppen ganz zu schweigen. Die Kino-Magie verflüchtigt sich ins Nichtige, was dazu führte, dass ich 2022 nur einen einzigen Film im Kino gesehen haben. Und das gleich im Januar.


Guillermo del Toros „Nightmare Alley“, die zweite Adaption des Romans von William Lindsay Gresham ist ein visuell ansprechender, passend düsterer Noir, ausgezeichnet besetzt und gespielt. Der Film leidet allerdings unter einer weitverbreiteten Krankheit des aktuellen Filmschaffens: Er ist mit 150 Minuten viel zu lang (Die erste Verfilmung von 1947 beschränkte sich auf, damals exorbitante, 110 Minuten).
Der Plot, und die nicht ganz so schwer zu entschlüsselnden Twists tragen neunzig Minuten locker, alles darüber hinaus ist Ignoranz gegenüber filmischer Ökonomie. Trotzdem eines der besseren Werke in del Toros Agenda der jüngeren Zeit.
Sein „Cabinet Of Curiosities“ blieb trotz hochinteressanter Regisseur*innen eine müde Angelegenheit mit wenigen Ausreißern nach oben. Besser als die unsäglichen „American Horror-Stories“, aber das will nichts heißen.

Weitere filmische Glanzpunkte:

Ein Highlight des Jahres gab es gleich zu Beginn. Brandon Cronenberg (richtig, David Cronenbergs Sohn) schuf mit „Possessor“ (der 2021 noch in der Warteschleife steckte) einen so intensiven wie verstörenden Psycho-Horror-Tripp. Mein Fazit: „“Possessor” ist ein kunstvoller, zwischen Meditation und psychedelischem Schlachtfest angesiedelter Trip zum Ende der Menschlichkeit. Gefühle und Bewusstsein sind austauschbar, Individualität kaum ein Schimmer in glitzernden Oberflächenreizen. Die Welt ist ein Modell, das Geschäftemacher untereinander aufteilen.“ Der Soundtrack ist ebenfalls highly recommended.

Alex Garlands „Men“ ist eine Mischung aus Gesellschaftskritik, Folk-, Slasher-Horror und Mindfuck. „Men“ beinhaltet Beziehungsdrama, Satire, Psycho-Thriller und blutigen Body-Horror als sperriges Gesamtpaket.
Ein Meta-Film, wie auch Jordan Peeles „Nope“, der wieder geschickt zwischen Horror, Science Fiction und Satire pendelt, dabei gespickt ist mit filmhistorischen Verweisen.

Kaum eine Jahresbestenliste kommt an „Everything Everywhere All at Once“ vorbei, so auch diese nicht. Bereits wegen der Besetzung mit Michelle Yeoh und Jamie Lee Curtis (direkt der Beamtenhölle entstiegen) ein Muss, überzeugt der Film auch als relevantes Multiversumsspektakel.

Im Gegensatz zu „Dr. Strange In The Multiverse Of Madness“, das, von einigen selbstreflexiven Sam Raimi-Momenten abgesehen, ein blutleeres CGI-Gehampel blieb. So seelen- und gehaltlos wie die meisten Marvel-Werke der letzten Jahre. Der Film ging zudem sehr liederlich mit dem eigenen Personal um.
Während sich das MCU im Fernsehen unterhaltsam zeigt (von „Moon Knight“, zwischen Langeweile und Hyperaktivität schwankend, abgesehen), bleiben die Kinofilme bestenfalls Zeitvertreib für einen regnerischen Sonntagnachmittag.

Besonders erfreulich und trickreich war das Horror-Genre mit ganz unterschiedlichen Gewächsen. „X“ beginnt als ironisches Spiel mit Erwachsenenfilmen und wird zum leichenreichen Backwood-Slasher mit Pfiff und sehr originellem Killer.

„The Innocents“ wagte sich, hervorragend gefilmt, in die bisweilen tödlichen Untiefen der Kindheit. Magischer Realismus vom Feinsten.

„Barbarian“ schließlich war ein außergewöhnlich spannendes Ereignis zum Jahresabschluss. In Deutschland leider nicht im Kino gelaufen, spielt der Film mit Erwartungen, bricht und bedient sie gleichzeitig gekonnt. Nicht nur von der Erzählstruktur her transportiert Regisseur Zach Cregger Alfred Hitchcock stilvoll in die Gegenwart. Und liefert nebenbei Bilder einer nicht nur sozial zerfallenden Zivilisation. Das überbordende Grindhouse-Finale, mit einigen der wenigen sehr blutigen Sequenzen, dürfte die Geschmäcker teilen. Zach Cregger darf das. Weil er es kann.


Mein TV-Höhepunkt waren „Die schwarzen Schmetterlinge“. Ein französische Produktion, die wild und visuell artistisch Psychothrill, Surrealismus und Giallo verband, dabei gleichzeitig als eine Reflexion über Erzählen und Wahrnehmen taugte. Obendrauf versehen mit einem traumhaften Soundtrack.

„Wednesday“ machte überwiegend Spaß, zumindest in den von Tim Burton inszenierten Episoden. Der Mystery-Anteil blieb unausgegoren und zu durchschaubar, die Monstereffekte waren stellenweise Power Rangers-würdig und in den letzten drei Folgen war das Ganze eher eine Art Addams-Familienbesuch in Hogwarts. Aber hey, „Wednesday“ hat die wunderbaren Jenna Ortega (auch in „X“ sehr experimentierfreudig dabei) UND Christina Ricci an Bord.
Die Miniserie wurde rasend schnell zum Medienhype, inklusive unzähliger überflüssiger Tanzvorführungen bei TikTok. Aber hey…

Heimisch geriet ich schnell wieder in der „Umbrella Academy“, die ebenfalls ihr Multiversum beherrschten.


„Reacher“ bot solide Kost und mit Alan Ritchson, nach dem Gernegroß Tom Cruise, endlich einen amtlichen Jack Reacher-Darsteller vorzuweisen hatte. Die Verfilmung des ersten Lee Child-Romans verriet die Vorlage nicht, blieb lakonisch und kantig. Besetzungstechnisch war das insgesamt eine Freude, mit Sonderlob an die bezaubernde und schlagkräftige Willa Fitzgerald.

Ansonsten gehörte das Jahr eher Aufholterminen. Viel Spaß mit elf Staffeln „Modern Family“ gehabt, „Superstore“ neigt zwar zu arg hohem Fremdschämfaktor, ist aber eine der besten, bittersten Betrachtungen über die ausbeuterischen Machenschaften von Großfirmen und dabei urkomisch.

„Gotham“ gefiel als ansprechend besetzter, visuell finsterer Noir, in dem Ben McKenzie aka Jim Gordon mit einer Handvoll Verbündeter gegen die Organisierte Kriminalität kämpft. Taugte ebenfalls als DC-Origin-Serie, wenn auch der juvenile Bruce Wayne einem gehörig auf den Senkel gehen konnte. Das entschärften Catgirl Camren Bicondova und Sean Pertwee als wehrhafter Butler und Ersatzvater Alfred. Jeden Penny worth.

Literarisch beschäftigten mich einige Zeit ein Buch, das nicht erscheinen wird und eines, dass erst im Herbst 2023 veröffentlicht wird. Daneben blieb die Leseauswahl überschaubar. Zu den Tops gehören:

Willi Achten – „Rückkehr“. Wenn Amazon mich zitiert, darf ich das auch: „Willi Achtens Roman ist ein melancholischer Rückblick auf etwas, das nie existierte. Die Sehnsucht nach Neuanfängen gepaart mit Verlustängsten. Eine ungesunde Kombination. Ein Text, so leise wie faszinierend, der einen reißenden Fluss als idyllischen Bergbach tarnt.“

Terry Miles – „Rabbits – Spiel um dein Leben“. Und wieder ein Multiversum. Donnie Darko irrt in Twin Peaks durch die Pforten der virtuellen Wahrnehmung. So in etwa. „Rabbits“ vereint gekonnt Mystery- mit Verschwörungsthriller, angesiedelt in High Tech-Universen, die von einer nicht allzu fernen Zukunft erzählen. Basiert auf Terry Miles eigenem Rabbits“-Podcast. So können großangelegte Verschwörungsmythen gefallen. NUR so.

Mechtild Borrmann – „Feldpost“. Auf Borrmann ist Verlass. Sprachlich gelingt ihr wieder die Kombination von Poesie und Effizienz. Sie kann mit wenigen Sätzen eindrücklich skizzieren, was anderen Autor*innen nicht über mehrere Seiten gelingt. Kompetent entwickelte Charaktere, überzeugende Handlung, die das Grauen des Dritten Reichs nachdrücklich schildert und in der Gegenwart weiter schwelen lässt. Mit der Chance auf Verarbeitung. Spannend, klug und im besten Sinne lehrreich (ohne erhobenen Zeigefinger).

Etwas älter, aber unbedingt einen Lesetipp wert: Kanae Minatos „Geständnisse“. Kongenial 2010 verfilmt von Tetsuya Nakashima nach einem Drehbuch der Autorin. Das Buch erschien auf Deutsch 2017 und schildert aus verschiedenen Perspektiven die Geschichte einer nachvollziehbaren Rache, die aus dem Ruder läuft.
Statt einer erlösenden Katharsis entwickelt sich eine Eigendynamik, die Todesopfer fordert. Ein furioser Abstieg in eine Hölle, die nicht nur die anderen sind. Die bildgewaltige Verfilmung erfasst die Essenz des Romans, ohne ihm sklavisch zu folgen. Zwei Wunderwerke.

Das nachfolgende „Schuldig“ (mehr Romane sind von Minato leider nicht auf Deutsch erschienen) bewegt sich auf ähnlichem Terrain, ist immer noch lesenswert, aber deutlich schlichter und damit schwächer.

Trotzdem würde ich gern mehr von Minato lesen.

Meine kleine popkulturelle Nabelschau darf nicht ohne die Erwähnung einer starken Frau, mit der ich viel zeit verbracht habe. Mit Aloy durch „Horizon Forbidden West“ zu streifen war das reine Vergnügen. Eine wohl austarierte Spielmechanik und -dynamik, atemberaubende Grafik und eine solide Geschichte ergaben ein Videospiel-Highlight der besonderen Art. Mehr brauchte ich an der Konsole 2022 nicht.

Zum Schluss noch ein bisschen Eigenwerbung:

Die Arbeit auf und mit http://www.Booknerds.de war 2022 ebenfalls ein Hort der Freude. Chris Popp hat mit Dominic Schlatter einen ebenso würdigen wie engagierten Nachfolger als Chefredakteur gefunden, unter dessen Ägide ein monatlicher Redfaktions-Chat eingerichtet wurde und das Team quantitativ wuchs und qualitativ überzeugte.

Besonders freut mich, dass meine ehemaligen „Couch“-Kollegen Eva Bergschneider und Jörg Kijanski ebenfalls für Booknerds schreiben. Tolle Arbeit leistete auch Sarah Teicher (aka Sari Sorglos), die die sozialen Netzwerke mit positiven Inhalten pflegt (gibt es eh zu wenige von) und mit ihrer Kollegin Mariann Gaborfi den feinen Podcast „Autorinnen im Porträt“ am Start hat, der sich auch auf und via Booknerds finden und hören lässt. Lohnt sich. Wie das gesamte Booknerds-Programm mit Besprechungen quer durchs kulturelle Schaffen.

Ich habe 2022 sogar ein LP-Review geschafft. „Bleed’n’Blend“ der Isländerin KJASS wird hiermit vollumfänglich empfohlen. „KJASS weiß, wie man einnehmende Melodien schreibt und atmosphärisch vorträgt, während ihre Mitstreiter so kompetent, wie gefühlvoll zwischen Pop, Jazz, Folk und angrenzenden Genres wandeln.“ Lest den Rest (und auch meine anderen Betrachtungen zu Film, Fernsehen und Literatur) gerne selbst. Würde mich freuen.

2022 ist vorbei, und das ist verdammt gut so. Leider bin ich skeptisch, was 2023 angeht. Aber wie zitiert Martin Compart Urban Priol am Telefon so gerne wie treffend: Es kann immer noch besser als 2024 werden. Hauptsache, der kotzende Kerl ist weg.

Jochen König