Martin Compart


KAPITALISMUS = KORRUPTION=ZERSTÖRUNG DER UMWELT by Martin Compart


Eine der besten Dokus seit langem.



„DIE GROSSE UHR“ von Kenneth Fearing – AUS DEM NACHWORT by Martin Compart

DIE GROSSE UHR war Kenneth Fearings vierter Roman und mit Abstand sein erfolgreichster – künstlerisch wie kommerziell. Er schuf damit einen Klassiker, der seit der Erstveröffentlichung von 1946 fast durchgehend lieferbar war und ist. Und das nicht nur im englischsprachigen Raum; auch im romanischen.

THE BIG CLOCK hat eine mörderische Prämisse:
Ein Unschuldiger muss sich selbst als Mörder jagen.


Kenneth Fearing

Die große Uhr

Ein Klassiker des Noir-Thrillers
Deutsch von Jakob Vandenberg

Mit einem Nachwort herausgegeben von Martin Compart

Deutsche Erstausgabe

Elsinor Verlag, Coesfeld 2022 (200 Seiten, Klappenbroschur, 14 x 22 cm, ISBN 978-3-942788-71-7; 20,00 Euro [D])

Der Protagonist, der gegen sich selbst ermitteln soll, ist einer der ganz großen Plots der Kriminalliteratur. Vergleichbar nur mit den besten von Agatha Christie (MURDER OF ROGER ACKROYD, MURDER AT THE ORIENT EXPRESS), Nicholas Blake (THE BEAST MUST DIE) oder Anthony Berkeley Cox (BEFORE THE FACTS, TRIAL AND ERROR). Im Unterschied zu den genialen Plots der genannten britischen Großmeister des „Golden Age“ ist Fearings Werk ein Noir-Roman, in dem der Plot in düsterer Zivilisationskritik eingebettet ist.
Und da diese Literatur eine Welt ohne moralisches Zentrum portraitiert, stellt es eine der klassische Noir-Frage: Wer wird mit was davonkommen?

Der Schriftsteller Michael Gilbert nahm THE BIG CLOCK in seine Liste der zehn besten Kriminalromane aller Zeiten auf. Der Roman erscheint fast auf jeder der Listen mit den besten Kriminalromanen/Thriller, die je geschrieben wurden. Die meisten Theoretiker des Genres priesen das Werk, und sogar Großmeister Raymond Chandler, bekannt und berüchtigt für seine oft bösartige Kritik, nannte es eine tour-de-force.

Ins Französische wurde das Buch bereits 1947 von Boris Vian übersetzt.

Nie wieder sollte Fearing ein ähnlicher wirtschaftlicher Erfolg gelingen. Zwar gingen im Laufe der 1950er auch weiterhin Einnahmen aus Lizenzgeschäften bei ihm ein, aber die Beträge etwa aus Auslandsgeschäften waren vergleichsweise gering.

Der Roman wurde weltweit zum Klassiker und zweimal verfilmt. Im Oktober 1973 gab es eine neue Adaption für den Hörfunk: Rod Serling (unvergessenes Mastermind der TWILIGHT ZONE) stellte sie unter dem Titel DESPERATE WITNESS in der Reihe THE ZERO HOUR vor 1). 1976 legten die renommierten Kritiker Jacques Barzun and Wendell Hertig Taylor den Roman mit einem ausführlichen Nachwort neu auf in ihrer Hardcover- Reihe „Fifty Classics of Crime Fiction 1900–1950“ bei Garland. Robert Polto nahm den Roman 1997 in seinen klassischen Sammelband CRIME NOVELS: AMERICAN NOIR OF THE 1930s & 40s auf. 2012 dann auch in die zweibändige “Liberary of America“-Edition der Noir-Klassiker.

Fearing gelang diese seltene und beneidenswerte Leistung: ein Page-Turner, der gekonnt geplottet und so eng wie eine Uhrfeder gewickelt ist, und dessen erzählerische Zahnräder auch als existenzielle Metapher dienen.

Der einzige Noir-Autor dieser Zeit, den man mit Fearing vergleiche könnte – jedenfalls als Autor von THE BIG CLOCK – ist m.E. Cornell Woolrich (1903-68). Seine paranoiden Plots gingen häufig in eine ähnliche Richtung (scheinbar aussichtslose Situationen der isolierten Protagonisten), aber seine zahlreichen Kurzgeschichten und Romane haben nicht die subtextliche Tiefe wie Fearings Buch.

Der Roman erschien zu einem Zeitpunkt, als die USA in einen großen paranoiden Abgrund glitten: Der zweite Weltkrieg war beendet, der Kalte Krieg hatte begonnen und der McCarthyismus startete seinen zerstörerischen Siegeszug. Diese Atmosphäre der Verunsicherung fängt THE BIG CLOCK ein. Das Buch spiegelt neben der existenzialistischen Dimension den bewusster werdenden Kontrollverlust des Individuums durch wirtschaftliche Systeme – symbolisiert durch „die große Uhr“. Den Amerikanern, stellvertretend für alle kapitalistischen Volkswirtschaften, wurde zunehmend deutlich, dass die Verfügungsgewalt über ihr Leben nicht in ihrer vermeintlichen Selbstbestimmung angesiedelt ist.
Paranoia ist eine der stärksten Triebfedern der Noir-Kultur.
BIG CLOCK stützt besonders intensiv die Erkenntnisse von Gilles Deleuze und Felix Guattari: Ursachen für Paranoia sind nicht psychologische oder gar psychopathologische Fehlentwicklungen, sondern eine psychopathologische Kultur auf die sich das Individuum bezieht. 2)

In seinem Buch AMERICAN NIGHT: THE LITERARY LEFT IN THE ERA OF THE COLD WAR (dessen Cover ein Portrait von Fearing ziert), schreibt der Literaturwissenschaftler Alan M. Wald, ein Historiker der amerikanischen Linken, über den Roman: er fasse die „beängstigende und fragmentierte Hohlheit“ zusammen, die Fearing in der Nachkriegsgesellschaft der USA sah.

„Das bedrohliche Ambiente der Verwerfung, das THE BIG COCK durchdringt, wird strukturell und symbolisch als Industriekapitalismus dargestellt, eine sozioökonomische Ordnung, in der sich die Kommunikationswege, insbesondere Printprodukte und Rundfunk, zu einer Wissenschaft der geplanten Manipulation entwickeln, die darauf abzielt, die Rentabilität sicherzustellen. Gut bezahlte Betrüger werden zusammen mit den Naiven und Getäuschten als Rädchen im Apparat der modernen Institutionen des Privatunternehmens gesperrt… Das Geniale an THE BIG CLOCK ist die Vorwegnahme der vielfältigen mythologischen Dimensionen einer Konsumrepublik, die die anbrechende Ära prägen würde.“ 3)
Er nannte ihn weiterhin „einen psychosexuellen Roman Noir, der die unheimliche Wirkung der Marktsegmentierung in der Verlagsbranche betont“
.

Die im Roman geäußerte Medienkritik erscheint noch immer aktuell. Fearing orientierte sich an gewissen Zuständen der Time Incorporated, für die er zeitweilig arbeitete.

Fearing war ein modernistischer Romancier und proletarischer Lyriker. Im Modernismus stand er besonders dem Symbolismus nahe und Motive wie apokalyptische Endzeitstimmung, individuelle Wahrnehmungen, das Unterbewusste, Dekadenz, Verfall und Tod und zivilisatorischer Pessimismus finden sich auch mehr oder weniger ausgeprägt in THE BIG CLOCK.

Die innovative Struktur des Romans wird aus der Sicht von sieben verschiedenen Charakteren dargestellt. Die ersten fünf Kapitel werden von George Stroud erzählt, der für einen New Yorker Zeitschriftenverlag arbeitet. Er scheint den Umständen kaum gewachsen, bewegt sich aber intelligent durch ein Labyrinth von Möglichkeiten.

Die Erzähler sind Stroud, Janoth, Hagen, Strouds Frau, zwei Crimeways-Reporter und die exzentrische Künstlerin Louise Patterson. Fearing leistet hervorragende Arbeit, um die Stimme jedes einzelnen Erzählers einzufangen.

Trotz der unterschiedlichen Erzählperspektiven entwickelt Fearing den Plot chronologisch. Jeder Erzählerwechsel treibt die Handlung weiter voran.



TÖTET DIE AUSBEUTER – „CRIPPLED JACK“ WEHRT SICH by Martin Compart

In der amerikanischen Presse wird CRIPPLED JACK als „revisionistischer Western“ gefeiert.
Das stimmt insofern, dass Boston Teran in seinen zeitgeschichtlichen- und historischen Thrillern immer mit der verlogenen Geschichtsklitterung der USA aufräumt und die Wahrheiten hinter den Lügen aufdeckt. Das moralische Territorium von Amerikas verderbter Seele ist eines seiner Hauptthemen.
Nach der Lektüre wird man erbost 90% aller Hollywood-Western in die Tonne kloppen.

Dieses Buch könnte man auch als eine Art Fortsetzung seiner DEFIANT AMERICANS-SERIE lesen. Nicht nur, was das historische Umfeld betrifft, sondern auch die „coming of age“-Nebenhandlung würde dazu passen.
Aber der amerikanische Horror, den junge Menschen erleiden müssen, durchzieht Boston Terans gesamtes Werk. Seit seinem ersten Roman, GOD IS A BULLET, erzählt er von den Grauen, die eine kapitalistische Gesellschaft ihren Kindern antut.

Wie fast immer serviert Boston Teran einen Knaller als Opener um sich dann weiter zu steigern:

Am Chihuahua-Trail kriecht ein achtjähriger Junge durch die Wildnis von Texas. Er ist gefesselt, teilweise gelähmt und kann sich nur mühsam fortbewegen. Seit zwei Tagen hat er weder gegessen noch getrunken, sich nur langsam vorwärtsgeschleppt. Seine Haut wirft bereits Hitzeblasen. Jedenfalls wird er es nicht mehr lange machen. Er liegt allein da und wartete auf den Tod, in all dieser unbarmherzigen Leere mit nur einem Gedanken: Warum hasst Gott mich so sehr?

An seinem zerrissenen Hemd ist eine Seite aus der Bibel geheftet, auf der mit schöner Handschrift die Bemerkung geschrieben steht: Alles weitere ist Gottes Angelegenheit. Diese schöne Widmung stammt vom Vater des Jungen, der ihn gefesselt und zum Sterben zurückließ, als er mit Frau und Tochter weitergezogen ist. Für den verkrüppelten Sohn hätte Wasser und Nahrung nicht mehr gereicht. Ein klarer Fall für Gott.

Zum Glück für den Knaben kommt Ledru Drum des Weges, genannt „The Coffin Maker“. Er ist auf der Flucht vor einer Bande, die er als „Wolves of the empire“ bezeichnet und die Agenten der Pinkerton Detective Agency sind. „They are an army of paid trash. A posse, militia, a gang that works for the wealthy mine owner, the oil company lord, the industrial robber baron. Their job is to keep the poor and disenfranchised in place. Even though they themselves are of that class.

Das Kind erzählt Drum, dass seine Familie ihn hasste und ihn verstieß, nachdem er sich geweigert hatte, weiterhin als Krüppel betteln zu gehen, müde von den ständigen Schlägen anderer Bettellknaben. Trotz seiner Behinderungen durch eine gelähmte, knorrige rechte Hand und eine Sprachbehinderung ist der Junge intelligent und den Umständen entsprechend gebildet.

Ledru gibt dem Jungen den Namen Matthew und nimmt ihn unter seine Fittiche. Er zeigt ihm, wie man trotz verkrüppelter rechter Hand als Linkshänder überleben kann. Aber er setzt auch seine terroristischen Aktionen gegen die Eisenbahnbarone fort.

Ledru ist eine individualterroristische Reaktion auf die Weltwirtschaftskrise von 1873, die besonders den Aufbau der Union veränderte:
Sie setzte der Post-Bürgerkriegsgesellschaft der 1870er Jahre mit ihrem optimistischen Bestreben, das Land durch die Eisenbahn zu verbinden und zu einen ein abruptes Ende. Die Banken vergaben massiv Kredite, von denen sie wussten, dass sie Farmer und Kleinunternehmer ruinieren würden, Spekulanten und Aktienhändler ernteten Gewinne mit Versprechen, von denen sie wussten, dass sie sie nicht halten konnten, und es gab keine Ausstiegsstrategie. Eben eine der üblichen zyklisch auftretenden kapitalistischen Krisen zur Manifestation von Oligarchien und Knechtung der Besitzlosen.

Ich will nicht zuviel verraten: Aber es läuft auf die blutigen Konfrontationen zwischen den Räuber-Baronen und den sich formierenden Gewerkschaften hinaus; dabei setzt Teran auch der realen „Mother“ Mary Jones ein literarisches Denkmal.

Boston Teran schildert überzeugend und gleichermaßen die Erfahrungswelten von Männern und Frauen und kontrastiert die psychologischen Selbstinspektionen mit sozialen Reflexionen. Der Roman gibt einmal mehr Anlass zu den Spekulationen, ob sich hinter dem Pseudonym doch eine Frau verbirgt oder ob Boston Teran das Pseudonym mehrerer Autoren – darunter eine Frau – ist.

Die befriedigende Mischung aus historischen Fakten und revolutionären Konzepten wird unter Terans Hand lebendig. Eine Westerngeschichte, aber auch große Literatur, die alle Insignien des Westerns verwendet und die Handlung auf eine höhere Ebene hebt. Höchst attraktiv für literarische Leser, die nach etwas anderem suchen. Boston Teran hat mit CRIPPLED JACK ein weiteres wunderschön geschriebenes und brutal kompromissloses Meisterwerk vorgelegt. Trotz der zeitlichen Distanz liest sich das Buch erschreckend aktuell.

Der 15. Roman von einem den größten lebenden amerikanischen Schriftstellern.

Es gibt wenige zeitgenössische Schriftsteller, die über einen vergleichbar reichen Wortschatz verfügen. Meist drängt sich der Vergleich mit Cormac McCarthy auf (auch wegen ähnlich harter Sujets), aber Teran ist anders und mindestens genauso überzeugend.

Pflichtlektüre für den Schwarzen Block (die im Gegensatz zu dümmlichen Nazis auch „verjudete“ Fremdsprachen beherrschen. „Beherrschen“ – mehr Idiotie geht kaum.



VORLÄUFER DES POLIT-THRILLERS BIS JOHN BUCHAN by Martin Compart

Unten stehender Text ist ein gekürzter Auszug aus meinem Nachwort zu JOHN BUCHAN: DER ÜBERMENSCH (Elsinor Verlag, 2022).

Literaturhistorisch steht am Anfang des Spionageromans keine Schlüsselfigur wie etwa Edgar Allan Poe für den Detektivroman. Beide Genres werden gerne unter dem Überbegriff „Kriminalroman“ oder „Crime Story“ eingeordnet. Dabei beschäftigt sich der Detektivroman mit temporär internen Störungen des Systems, während der Spionageroman extern gesteuerte Versuche zur mehr oder weniger vollständigen Zerstörung eines Systems thematisiert.

Obwohl man von der Spionage als vom „zweitältesten Gewerbe der Welt“ spricht, muss man das multimediale Genre „spy story“ als ein Kind des ausgehenden 19.Jahrhunderts ansehen, dass im 20.Jahrhundert zu voller Blüte heranreifte und immens erfolgreich wurde.

In der Literatur taucht die Spionage erstmals in dem chinesischen Klassiker über DIE KUNST DES KRIEGES (PING FA) von Sunzi ca. 510 v. Chr. auf – wenn man die Bibel außen vorlässt. Denn im Alten Testament steht, dass Moses Spione ins Land Kanaan schickte.

Die erste Fiktion, in der Spionage eine Rolle spielt, verdanken wir ebenfalls der chinesischen Kultur: im historischen Roman SAN KUO von Lo Kuan-Chung aus dem13.Jahrhundert.

Die erste durchstrukturierte Spionageorganisation der westlichen Welt verdanken wir – wie so vieles – der katholischen Kirche: Nachdem Papst Gregor IX die Inquisition etabliert hatte, führte der Nachfolger Innocent III. mit der „Hermandad“ 1233 den ersten verdeckt organisierte Spionagedienst ein.

Erstmals in der Literaturgeschichte der Neuzeit wurde in England auf organisierte Geheimdiensttätigkeit hingewiesen. In MEMOIRS OF SECRET SERVICE (1699) von Matthew Smith beschrieb der Autor, wie er ein Attentat auf King William durch die Jakobiner verhinderte, indem er deren Organisation infiltrierte. Das Parlament war über das Buch dermaßen aufgebracht, dass es die Verbrennung durch den Scharfrichter anordnete.

Als erster „richtiger“ Spionageroman gilt allgemein James Fenimore Coopers THE SPY (1821). Allerdings nur, weil der Roman einen Spion in den Mittelpunkt der Handlung stellt; der Spionagetätigkeit wird von Cooper wenig Raum gewidmet.

Topoi des späteren Spionageromans findet man auch schon bei zwei französischen Schriftstellern. André Dumas Pères LES TROIS MOUSQUETAIRES (1844) etwa agieren wie Spezialagenten, die Unheil von der königlichen Familie und damit von ihrem Heimatland abwenden. Außerdem sind sie schon internen Machtintrigen ausgesetzt, die ein wichtiger Bestandteil des Genres sind. Und Jules Vernes thematisierte häufig die Bedrohung der menschlichen Zivilisation durch technische Erfindungen. Man könnte MICHAEL STROGOFF (1875), den Kurier des Zaren Alexander II., als eine Art Spezialagent ansehen.

Elemente des Spionageromans und des Polit-Thrillers tauchten im Kontext vieler Romane des 19.Jahrhunderts auf, aber erst zu Beginn des 20.Jahrhunderts formt sich das Genre zu einer eigenen, unverwechselbaren Gestalt.

Elemente des Spionageromans finden sich in Charles Dickens A TALE OF TWO CITIES (1859) und natürlich in den Kolportageromanen, die der Deutsche Herrmann Goedsche unter dem Pseudonym „Sir John Retcliffe“ schrieb. Und schon 1888 hatten asiatische Superschurken, die als trivialer Topos lange und häufig im Genre vertreten waren, wie Dr. No und Dr. Fu-Manchu, einen direkten Vorfahren: CHING CHING von E. Harcourt Burrage (1839-1916) in dem Pennymagazin „Ching Ching‘ s Own“ (1888).

Auch der große Sherlock Holmes arbeitete gelegentlich als Geheimagent: In der ersten Kurzgeschichte, A SCANDAL IN BOHEMIA (1891), agierte Sherlock Holmes wie ein Agent des Königshauses. Ebenfalls für die Krone handelte Holmes in THE ADVENTURE OF THE NAVAL TREATY (1894), indem er eine gestohlene Geheimvereinbarung zwischen England und Italien zurückholte. In THE BRUCE PARTINGTON PLANS (1908) musste Holmes für einen offensichtlich hilflosen Secret Service verschwundene Geheimpläne wiederbeschaffen. In HIS LAST BOW (1917) verhinderte Sherlock Holmes, dass der deutsche Spion von Borck mit gestohlenen Geheimplänen bei Kriegsbeginn nach Deutschland entkommt.

1871 begann mit George Tomkyns Chesneys THE BATTLE OF DORKING das Genre der „war prophecy novel“ – Romane, die künftige Kriege voraussagen wollen und durchspielen. In Tomkyns Werk findet man bereits alle Elemente dieses abstrusen Genres. Das Buch plädiert für die militärische Hochrüstung Britanniens und warnt vor künftigen Aggressionen der anderen Großmächte.

In den folgenden Jahrzehnten spielten die Autoren dann alle möglichen Feindkombinationen durch, von den Russen über die Franzosen bis (natürlich) zu den Deutschen.

In den 1880er und 1890er Jahre herrschte besonders ausgeprägte Paranoia im Empire. Franzosen und Deutsche verstärkten damals ihre Aktivitäten in Afrika und Asien, die Buren wurden unruhig und rebellisch, und die Russen trieben sich verstärkt an der afghanischen Grenze herum, wo sie das „Juwel in der Krone“ im „great game“ ernsthaft bedrohten. Jeder schien am Kolonialreich der Briten zu rütteln – und in der Regierung kümmerte das offensichtlich nur wenige.

Die „war prophecy novels“ entstanden in dieser angsterfüllten Atmosphäre und forderten militärische Reformen, die neue Technologien und Strategien propagierten. Geheimwaffen und Geheimagenten wurden zu Figuren dieser Literatur, die bis heute im modernen Spionageroman nachwirkt.

Um die Jahrhundertwende entstanden auch ernsthaftere Romane, die die Angst des Empires um seine Kolonien und ihre Bedrohung durch andere Mächte widerspiegelten. John Buchans THE HALF HEARTED (1901) und Kiplings KIM (1901) verwendeten dezent Elemente des Spionageromans. Beide beschäftigen sich mit einer möglichen Invasion Indiens durch die Russen, die sich deshalb in Afghanistan festsetzen wollen. Als reine Spionageromane oder gar pure „war prophecy novels“ kann man diese Bücher jedoch nicht ansehen.

An Kuriosem ist in dieser Literatur kein Mangel:

Ein Höhepunkt der propagandistischen Hetze gegen Asiaten ist der namensgebende Roman THE YELLOW DANGER (1898) von M. P. Shiel, in dem vor einer Invasion Europas durch einen chinesischen Kriegsherrn gewarnt wird.
In Max Pembertons Roman PRO PATRIA (1901) planen die Franzosen einen Tunnel unter dem Kanal zur Invasion Englands!

Ein Mann steht als Synonym für die „war prophecy novel“ schlechthin: William Le Queux. Nach seinem ersten Roman über politische Intrigen, GUILTY BONDS, erschienen 1891, wandte sich Le Queux drei Jahre später mit THE GREAT WAR IN ENGLAND IN 1897 konsequent der Propagandaliteratur zu. Das Buch, dessen Vorwort Feldmarschall Lord Roberts verfasste, enthält bereits zwei Elemente, die auch für die Entwicklung des Spionageromans bedeutend waren: die Geheimwaffe und die Einführung eines naiven jungen Engländers als Verräter. Gleich zu Beginn des Genres wird also das zentrale Thema des Verrats angesprochen. Später sollten sich Autoren wie le Carré diesem Motiv geradezu exzessiv widmen.

Im Roman bombardieren die Russen Edinburgh aus einem Gasballon heraus. Gestoppt werden sie durch eine neue Geheimwaffe – eine pneumatische Dynamitkanone, die von einem schottischen Ingenieur entwickelt wurde.

Le Queux hatte dabei auch eine neue, seit Mitte des 19. Jahrhunderts immer größer werdende Leserklasse im Hinterkopf: Die Einführung der allgemeinen Schulpflicht durch den „Education Act“ von 1870, die Entwicklung neuer Druck- und Vertriebstechniken, die die billigen Penny-Magazine ermöglichten und das Aufkommen von Leihbüchereien bedingten einen Lese-Boom, der nicht auf die oberen Schichten beschränkt blieb und sensationelle Themen bediente.

THE INVASION OF 1910 aus dem Jahre 1906 war sein erster antideutscher Roman, dem schnell weitere folgten. Einflussreiche Briten teilten seine Meinung und waren froh über Le Queuxs Bestseller, die die Stimmung im Lande in ihrem Sinne beeinflussten. Unter ihnen fand sich auch Feldmarschall Lord Roberts, der mit ihm 1908 an dem Buch THE GREAT WAR arbeitete, in dem der Autor den Krieg von 1914 bis 1918 vorhersah.

Le Queux verstand es vorzüglich, sich selbst zu stilisieren und durch persönliche Statements die Glaubwürdigkeit seiner Bücher zu erhöhen. Als der Krieg ausbrach, verkündete er großspurig, dass er – wohin er auch gehe – immer einen geladenen Revolver bei sich trüge, da die Feinde Englands ihn ganz oben auf ihre Abschussliste gesetzt hätten.
A. J. Balfour, der damalige Führer der Konservativen Partei, brachte Le Queuxs Einfluss auf den Punkt, als er sagte: „Seine Romane bedeuten mehrere tausend Stimmen für die Konservativen.“

1898, nachdem ihn schon jahrelang die Welt der Geheimdiplomatie fasziniert hatte, veröffentlichte Edward Phillips Oppenheim (1866-1946) den Roman THE MYSTERIOUS MR.SABIN, „das erste meiner langen Reihe von Geschichten über die schattenhafte und mysteriöse Welt der Diplomatie“…

Ein durchgehendes Thema war seine Verteufelung der parlamentarischen britischen Regierung als unfähig und unbekümmert. Volksvertreter galten ihm als ein Haufen inkompetenter Idioten. Nach dem 1.Weltkrieg zeigte er diese Überzeugung immer deutlicher. Mit Blick auf den Aufstieg des Faschismus in Italien und Deutschland wuchs in ihm die verquaste Überzeugung, dass starke Individuen (am besten aus dem Adel oder zumindest Raubtierkapitalisten) eine Nation besser repräsentieren und regieren können als jedes Kabinett oder Parlament…

Er adaptierte den „Kriegswarnungsroman“ auf seine Weise und entwickelte eine eigene Romanform, in deren Mittelpunkt die Geheimdiplomatie stand. Seine literarischen Wurzeln waren Sensationsroman und Liebesromanze der viktorianischen Epoche, und in diesem Geiste schrieb er auch seine Spionageschichten.

In THE SPYMASTER (1938) liegt der naive Oppenheim ganz auf Linie der Appeasement-Politik: In diesem Roman rettet ein britischer Admiral während des Münchener Abkommens „den Frieden, weil er einem deutschen Spion Informationen über den hohen Stand der britischen Rüstung zukommen lässt, was das nationalsozialistische Deutschland dazu veranlasst, keinen Krieg zu beginnen“. 13)

1903 erschien das innovative Werk, das für viele Kritiker der erste wirkliche moderne Spionageroman ist: Erskine Childers THE RIDDLE OF THE SANDS. In dem Buch – der einzige Roman des späteren Majors des Marine-Geheimdienstes – geht es darum, dass zwei Engländer in einem Segelboot vor der friesischen Küste das geheime Treiben der deutschen Marine beobachten und den möglichen Vorbereitungen einer Invasion Englands auf die Spur kommen.

Childers fusionierte verschiedene literarische Formen: Die „war prophecy novel“ erzählt die Geschichte eines künftigen Krieges vom ersten bis zum letzten Schuss. Egal, wie wahrscheinlich der geschilderte Krieg ist – es handelt sich immer um eine Fiktion. Der Natur nach ist sie also eher mit der Science Fiction (und hier der „alternative history“) verwandt als mit der auf Fakten erpichten Kriminalliteratur, zu der man auch den Spionageroman zählt.

Childers stutzte die „war prophecy novel“ auf einen realistischen Aspekt zurecht, nämlich auf die mögliche Planung einer Aktion, die auf einen Krieg hindeutet. Die abenteuerliche Segelgeschichte, in der die Handlung eingebettet ist, entlieh Childers den sogenannten „schoolboy stories“ – also meist in den Kolonien handelnden Abenteuergeschichten, die von der Bewährung junger Briten angesichts einer Konfliktsituation erzählen. Auch John Buchan verwendete Elemente dieser Spielart des exotischen Abenteuerromans bereits in PRESTER JOHN (1910).
Als drittes Element verwendete Erskine Childers Motive der Detektivgeschichte, um einen Spannungsbogen aufzubauen. Das detektivische Rätselelement ist die Untersuchung der beiden Protagonisten: Was treiben die Deutschen vor der ostfriesischen Küste? Indem er also „war prophecy story“, Abenteuergeschichte und Detektivgeschichte miteinander verknüpfte, schuf er eine neue Formel für den modernen Spionageroman. 14)

Dem damals noch glühenden Verehrer des Empires ging es um „eine Warnung an die Engländer, eine Warnung vor der erstarkenden Seemacht Deutschland“. 15)

Unbedingt zu erwähnen sind auch Joseph Conrads Roman THE SECRET AGENT (1907), der aber schon auf den realistischen Spionageroman hinweist, und G.K.Chestertons THE MAN WHO WAS THURSDAY (1908), einem einzigartigen Polit-Thriller, der surrealistische Wege geht. Auf die direkte Entwicklung des Genres hin zu Buchan hatten sie wenig oder keinen Einfluss.
Im Gegensatz zu Sax Rohmers THE MYSTERY OF DR. FU-MANCHU (1913), das den asiatischen Superschurken endgültig zum populärkulturellen Topos gestaltete.
In seiner langjährigen Serie verwendete Rohmer auch zunehmend SF- und Fantasy-Elemente beim andauernden Bestreben Fu-Manchus (der „Erzengel des Bösen“) die Weltherrschaft zu erringen. In Deutschland wurden Rohmers Bücher von den Nazis 1936 verboten; der Name (ein Pseudonym des irischstämmigen Engländers Arthur Henry Ward, 1883 – 1959) erschien ihnen „jüdisch“. Rohmer protestierte gegen das Verbot mit der Erkenntnis: „Ich bin ein guter Ire und meine Geschichten sind in keinster Weise feindlich gegenüber den Nazi-Idealen.

Laut einer jüngeren Untersuchung über das „kulturelle Phänomen britischer Spionageroman“ sind zwischen 1901 und 1914 mindestens 300 Bücher veröffentlicht worden! 16)

Von Anfang an entwickelte sich das Genre aus realen und fiktiven Ängsten, die von einem Großteil der Bevölkerung mitgetragen werden konnten. Erst ab den 1930er Jahren – Ausnahmen bestätigen die Regel – wurde das Genre zunehmend für progressive Inhalte genutzt.

Das Ende des ersten Weltkriegs war für den Polit-Thriller eine Zäsur. Die alten Feinde der Briten existierten (weitgehend) nicht mehr, neue drängten sich auf..

unknown artist; John Buchan (1875-1940); National Library of Scotland Art Collections; http://www.artuk.org/artworks/john-buchan-18751940-266271



CRIPPLED JACK IS COMING! by Martin Compart

Der 15. Roman von einem der größten lebenden US-Autoren wird am 5. September veröffentlicht!

Inzwischen bin ich verwöhnt und dankbar, denn alle ein- bis zwei Jahre kann man damit rechnen, dass er ein neues Buch vorlegt. Und jedes war bisher ein Knaller!

Mit seinen Verfilmungen hatte er bisher leider Pech: Seit Jahren sind zwei in Hollywoods Pipeline. Aber mit etwas Glück könnte Nick Cassavetes Adaption des Klassikers GOD IS A BULLET dieses Jahr noch in die Kinos kommen.

Als Europäer vergisst man manchmal, dass die härtesten Kritiker der USA Amerikaner selbst sind. Dieser Autor nutzt in seinem eindrucksvollen Werk klassische amerikanische Genre, Noir und Western, um daraus (auch) Polit-Thriller zu machen, die den amerikanischen way of life als crooked mile enttarnen.

Mehr Anti-Trumpismus als CRIPPLED JACK ist schwer vorstellbar.

Dass ich seit langem ein großer Fan von ihm bin, kann man in zahlreichen Beiträgen in diesem Blog verfolgen. Das er bisher keinen deutschen Verlag gefunden hat, sagt eine Menge über die Verlage (aber das wird sich nächstes Jahr ändern).

CRIPPLED JACK is a revisionist western set against a landmark era in American folklore.

Those were the years of poverty, homelessness and hatred between the classes.
In that time when bloodthirsty violence ruled the day a boy was bound and gagged and left to die in the desert. He was not yet nine and suffered what they called the palsy.
There was a note pinned to his chest – It’s up to God now.

But the boy did not die. Fate and history merged in his will to live. He was found by a horseman who was at war with the profiteers of the day, the Czars of business, the masters of corporate avarice. He was known as – The Coffin Maker.

He became the star on the boy’s horizon. The boy would grow to become an expert marksman known as Crippled Jack. He will come of age during the labor wars that were consuming the West. His friends will be enemies of the state. He will come to love a woman who has escaped the orphan trains and is a reporter covering the bloodshed sweeping the nation.
Together they will usher in a new America. An America that has every intention of turning the country upside down, so that it may stand right side up.

CRIPPLED JACK transforms the classic American western into a scathing and violent protest novel. A war for social justice, for equality, and for hope – a war we’re still fighting today.

Publishers Weekly raved in a starred review: „Teran’s storytelling has a mythic quality to it, and his recreation of a violent era in American history will resonate with many today. Fans of Charles Portis and Philipp Meyer will be enthralled.“
https://www.publishersweekly.com/9781567031010



DAURISCHE GOTIK – ÜBER ZENTRALASIATISCHE HORROR-KULTUR 2/ by Martin Compart

ENTWICKLINUGSGESCHICHTE DES GENRES

DIE 1920er

Zwei belletristische Werke, beide über Ungern-Sternberg, legten den Grundstein für die daurische Gotik.
Das erste war Ferdinand Ossendowskis romanhafter „Reisebericht“ TIERE, MENSCHEN UND GÖTTER („… diese slawistischste aller Reisebeschreibungen“, James Webb, S.242.). In dem Buch von 1922, dass in den USA im Erscheinungsjahr 300 000Exemplare in 28 Auflagen verkaufte, popularisierte der Autor im Westen den ein Jahr zuvor füsilierten „blutigen Baron“.

Die Poetik der daurischen Gotik spiegelt sich in den Kapitelüberschriften: „In die Wälder hinein“, „Drei Tage unter Feinden“, „Die Schlacht am Seybi“, „Mysterien“, „Das Herz Asiens in Zuckungen“, „Vor dem Antlitz Buddhas“, „Die Prophezeiung des Königs der Welt“ etc.
Das Buch behandelte als erstes die beiden wichtigsten Figuren des Genres: den „wahnsinnigen Baron“ und den „Rächer-Lama“.

Ossendowski berichtete auch von den eurasischen Träumen des Barons. Seine Motivation zur Schaffung eines zentralasiatischen Reichs, das sich auch auf Europa ausdehnen sollte, war zuerst Kampf gegen- und Vernichtung des Bolschewismus, dann aber auch die Führung eines dekadenten Europas hin zum tibetanischen Mystizismus.

Da der extreme Antikommunist Ossendowski polnischer Herkunft war, erklärten die chauvinistischen russischen Theoretiker aber ein späteres Werk zur Grundlage des Genres.
Für sie entstand die daurische Gotikd in den 1920er Jahren in Harbin unter russischen Emigranten. Auch der russische Faschismus entwickelte sich in diesem Umfeld.

Als erstes Werk des russischen Kanons gilt DIE BALLADE DES DAURISCHEN BARONS aus 1928, das ebenfalls Ungern-Sternberg heroisiert und mystifiziert.
In der Ballade werden gotische Motive in extremem Maße ausgeführt: Wie ein apokalyptischer Reiter erscheint der verrückte Baron aus dem Nichts. reitet auf einem schwarzen Pferd, steigt herab und „geht auf Leichen zu“ und durchbohrt einige mit seinem Dolch, seine Augen leuchten dämonisch in der Dunkelheit, begleitet von einem Raben und dem Heulen der Steppenwölfe. In der Ballade schwingt auch der Okkultismus von Helena Blavatsky mit, die seit dem 19. Jahrhundert großen Einfluss bei russischen Esoterikern ausübte.

Geschrieben von Arseny Mitropolsky (1889—1945) unter dem Pseudonym „Nesmelov“. Mitropolsky, alias “Nesmelov” war ein weißrussischer Offizier, der im Weltkrieg und im Bürgerkrieg gekämpft hatte. Er war Mitglied der faschistischen Partei in Harbin und machte Propaganda für die Japaner. Aber er gilt bis heute auch als talentiertester Lyriker der weißrussischen Diaspora in der Manschurei, respektive China. Unter dem Pseudonym „Nikolay Dozorov” war er der führende Propagandist für die japanische Kwantung-Armee.

Weißrussische Emigranten machten in häufig fragwürdigen Memoiren aus dem blutigen Baron einen romantischen Helden des Faschismus. Es wurden alle Arten von Memoiren, neben offenen Mystifikationen, von ehemaligen Offizieren der asiatischen Kavalleriedivision geschrieben. Idiotische Verklärungen und Rechtfertigungen, vollgestopft mit antisemitischen Phrasen, wie sie der Baron so leidenschaftlich verkündet hatte.
So weitete sich unter den Emigranten der Mythos aus.
Der Antisemitismus hatte Tradition in der weißrussischen Armee – und nicht nur, weil zu den führenden Bolschewisten Juden wie Trotzki zählten.
Als organisierte Propaganda wurden DIE PROTOKOLLE DER WEISEN VON ZION nachgedruckt und in der Armee verteilt. Admiral Koltschak ließ sie in Sibirien in großer Zahl produzieren und in seiner Administration ausgeben. Mit dümmlicher Perfidie versuchten sie die Revolution durch antisemitische Propaganda zu diskreditieren. Auch in der aktuellen daurischen Gotik findet sich Antisemitismus und Antirationalismus als Sinnangebot.

Die Beziehung zwischen dem Genre und Faschismus drückte sich unbewusst schon früh aus: Einer von Ossendowskis größten Fans war Heinrich Himmler, fasziniert von zentralasiatischer Mystik richtete er mehrere Tibet-Expeditionen aus, die wohl inoffiziell auch nach Agarthi oder Shambala suchen sollten. Auch ein Artikel von Julius Evola von 1973 beschreibt den faschistischen Kult um Ungern, basierend auf dem Buch von Ossendowski.

1930er UND SOWJETUNION

In der Sowjetzeit wurde der Baron als abschreckendes Beispiel für einen blutrünstigen Konterrevolutionär gelegentlich in Buch und Film behandelt. Er ist der Antagonist in einer Reihe von Spielfilmen über revolutionäre Ereignisse im Fernen Osten: SEIN NAME IST SUKHE-BATOR (1942), EXODUS (1968), DIE WANDERNDE FRONT (1971) und einige andere.

Das erste Sachbuch war wohl die Monographie von B. Tsibikov von 1947; zuvor war 1931 in der Zeitschrift „Krieg und Revolution“ der längere Aufsatz „Die Niederlage von Ungern“ von A.N. Kislov erschienen. 1937 befasste sich Valentin Tikhonov in einem frühen Roman mit ihm.

Die Propagandamaschine des Dritten Reiches erzeugte schließlich das Bild von Ungern als dem ersten Führer eines neuen Typs, dem ersten Faschisten. Ein Höhepunkt war Bernd Krauthoffs Roman ICH BEFEHLE (1938). Wenn man so will: der (bisher) einzige deutsche Beitrag zur daurischen Gotik.

Reichsleiter Alfred Rosenberg, wie Ungern-Sternberg Este und Antisemit und wichtiger Nazi-Ideologe, beschrieb den Baron als „den idealen Arier„, bemerkt Professor Mikhalev (in . https://iq.hse.ru/en/news/296270159) und stellte Ungern als „den ersten Führer eines neuen Typs, den ersten Nazi“ dar. Angeblich widmete Rosenberg Ungern ein Theaterstück, das in den 1930er Jahren in deutschen Theatern lief. „Nach unserer Hypothese liegt der Grund darin, dass Ungerns Kult – im Gegensatz zu denen um Koltschak oder Krasnow – in den 1930er Jahren in Nazi-Deutschland entstand. Die heutigen Imperialisten und die extreme Rechte reproduzieren alte ideologische Muster und Mythen in neuen Kontexten. Der Mythos Ungern wird genutzt, um verschiedene politische Kräfte zu konsolidieren.“

1990 BIS HEUTE

Die Renaissance der daurischen Gotik in den 1990er bis 2000er Jahren war im rechten politischen Kontext eingegliedert, genauso wie in den 1920er Jahren. Die Hauptkonsumenten dieses Produkts waren und sind Vertreter verschiedener radikaler eurasischer Kreise und ihre Anhänger.

1993 veröffentlichte Leonid Yuzefovich das Buch HERRSCHER DER STEPPE über Ungern-Sternberg. Nach Mikhalev ist dieses Buch auch Teil des daurisch-gotischen Kanons, vielleicht das Schlüsselwerk für die Neubelebung.

Auch in westlicher Literatur fand und findet der Baron Eingang, insbesondere in die romanische.
In Frankreich wurde durch Hugo Pratts Graphic Novel CORTO MALTESE IN SIBIRIEN (1973) Interesse entfacht; zwei weitere Umsetzungen als Comic folgten.
Die französische Punk Band Paris Violence widmete ihm 2005 einen Song:

In den Thrillern DARK STAR von Alan Furst, THE FULLER MEMORANDUM von Charles Stross, CLUB DUMAS von Arturo Pérez-Reverte und THE NINTH BUDDHA von Daniel Easterman wird Ungern erwähnt oder spielt sogar eine Rolle

PROTAGONISTEN

Neben Dja Lama und einigen konterrevolutionären Schlächtern ist der blutige Baron zweifellos die populärste und meistgenutzte Figur der daurischen Gotik und in der Verbreitung einer rechten eurasischen Ideologie.

Ungern war laut Augenzeugen, die ihn persönlich kannten, der perfekte Genre-Held: „Die Figur des Barons erinnerte an das Mittelalter, und etwas atavistisch war auch, dass er von seinen Vorfahren, den Deutschen Ordensrittern, denselben Durst nach dem Kriegerleben geerbt hatte, und vielleicht den gleichen Glauben an das Übernatürliche, Jenseitige. Er war abergläubisch; er wurde immer, auch im Feldzug, von Lamas, Astrologen, Wahrsagern begleitet… Er war überzeugt davon, dass er den Menschen bei ihrer Inkarnation half, wenn er sie umbrachte.“ (Pershin).

Seine Aussage „Denken ist Feigheit“ bringt jede rechte Ideologie trefflich auf den Punkt. Der faschistischen Doktrin gemäß: „Immer im Irrtum, nie im Zweifel.“

Hier nur ein kurzer Überblick: Die Offensive und die Guerillaaktionen der Roten Armee in Transbaikalien führten zur Niederlage der Weißen Armee. Der Baron zog sich aus Dauria zurück, marschierte in die Mongolei ein (1920), vertrieb chinesische Truppen aus der Hauptstadt Urga und stellte dann die buddhistische theokratische Monarchie in der Mongolei wieder her. Am Ende der Geschichte verschwörten sich seine eigenen Offiziere gegen ihn und überließen ihn den Bolschewiki, die ihn vor Gericht stellten, verurteilten und hinrichteten.

JÜNGERE MEDIALE VERMARTUNG

Wie schon erwähnt: In der Sowjetzeit wurden fünf oder sechs Filme über Ungern gedreht. In ihnen wurde er als verrückter reaktionärer Diktator dargestellt.
In den 2000er Jahren wurde er auch vom russischen Fernsehen entdeckt. In der erfolgreichen Serie BRIGADA (8 Folgen, je 37 Min.) wurde er als Hauptfigur dargestellt.
In VEPR (das Wildschwein) erscheint Ungern als mystischer Antiheld, der eine gewisse Sympathie weckt.

Ungern taucht verstärkt in der Musik auf. Die Musikgruppe Kalinov Most widmete ihm ein ganzes Album, in dem es im Hauptlied um den Orden Nr. 15 ging, den berüchtigten Vernichtungsbefehl. Die ukrainische Black-Metal-Band „Ungern“ benannte sich nach ihm und schwelgte in Texten zur Verherrlichung des Nationalsozialismus.

Vor allem die osteuropäische Fantasy soll eine Vielzahl von Verweisen auf Ungern enthalten.

Im Jahr 2014 unterstützte das russische Kulturministerium die Finanzierung eines Dokumentarfilms über die Spuren der Wilden/Asiatischen Division.

Ungerns Konterfei ziert heute T-Shirts und gefälschte buddhistische Ikonen.

In den letzten Jahren wurden in Russland Anfragen zur Errichtung eines Denkmals für Roman Ungern gestellt. Die initiierende Gruppe bezog sich auf die Erfahrung der mongolischen Nazi-Gruppierung Tsagaan Haas, die nach unbestätigten Daten die Erlaubnis erhalten hat, ein Denkmal für Ungern in Ulaanbaator zu errichten. Aber bisher ist es noch nicht errichtet worden, und Tsagaan Haas ist eine kleine Gruppierung ohne großen politischen Einfluss.
Während einer Abstimmung in Transbaikalien über die Frage nach einer „Symbolfigur“ für die Region erzielten Ungern und Ataman Semenov die meisten Stimmen. Infolgedessen änderten die regionalen Behörden das Format der Abstimmung und entfernten einige der problematischen historischen Figuren.

Aber auch die Tanibalisierung der USA durch fundamentalistische Christen-Sekten wird dieses merkwürdige Genre in der westlichen Welt kaum marktfähig machen.

LITERATURHINWEISE u.ä.:

Aleksey Mikhalyev, ein Politikwissenschaftler an der Buryatischen Staatsuniversität State University, hat die Popularität Ungern-Sternbergs im heutigen Russland und das Genre untersucht; siehe dazu: http://windowoneurasia2.blogspot.com/2019/06/dauria-gothic-why-russians-today-are.html .

James Webb: Das Zeitalter des Irrationalen. Politik, Kultur & Okkultismus im 20. Jahrhundert. Marix, Wiesbaden 2008, ISBN 978-3-86539-152-0.


hhttps://www.youtube.com/watch?v=8dkPIjfikKcttps://www.youtube.com/watch?v=2TBsJVecfI0

P.S.:

Nichts Neues aus Estland

Im November 2020 erhielt der Verein Ungern Khaan von der Koalitionsregierung Estlands 45.000 Euro an Zuschüssen. Es löste einige Diskussionen in Estland aus. Einige fanden es bedauerlich, dass die estnische Regierung eine Statue eines antisemitischen Kriegsverbrechers mit Plänen zur Weltherrschaft aktiv unterstützte.

Auch der Historiker Ago Pajur von der Universität Tartu wies darauf hin, dass Ungern-Sternberg keine wichtige Rolle in der Geschichte Estlands gespielt habe:

– Es gibt viele Menschen in der Geschichte Estlands, die ein Denkmal mehr verdienen als Ungern-Sternber. Ich sehe keinen Grund, ihm im heutigen Estland ein Denkmal zu errichten.

Eine verdrehte Interessenvereinigung lehnte das Geld dann ab. Grund seien „die medialen Beschreibungen des Barons als Warlord und Kriegsverbrecher, nicht als Befreier der Mongolei (…) Wir treffen die Entscheidung, weitere Beleidigungen des Barons in den Medien zu vermeiden.“

Ungern Khaan hat die Pläne für ein Denkmal von Baron Ungern-Sternberg jedoch nicht aufgegeben. Doch der Plan wird nun ausschließlich durch Spenden finanziert.

Der Wunsch, dem „Blutigen Baron“ Ungern-Sternberg eine Statue zu errichten, sei ebenso politisch wie historisch motiviert, sagt der Archäologe Torgrim Sneve Guttormsen.

Guttormsen betont, dass das Entfernen oder Einsetzen umstrittener Denkmäler in einen Kontext nicht dasselbe ist wie das Entfernen oder Verändern von Geschichte. Stattdessen kann es konstruktive Möglichkeiten geben, die Geschichte zu diskutieren oder zu korrigieren. Doch das ist wohl kaum die Motivation für den Verein Ungern Khaan, glaubt Guttormsen:

Der Artikel wurde ursprünglich in Vi Menn Nr. 07 2022 veröffentlicht
https://www-klikk-no.translate.goog/historie/den-blodige-baronen-mente-han-var-den-gjenfodte-djengis-khan-7121065?_x_tr_sl=no&_x_tr_tl=de&_x_tr_hl=de&_x_tr_pto=sc

https://news.err.ee/1192453/coalition-grants-45-000-for-memorial-to-baltic-german-war-crimes-baron



Bürgerkrieg in Russland als Quality-TV by Martin Compart

Es ist immer wieder verblüffend, auf welch hohem Niveau mal in Deutschland Fernsehunterhaltung gemacht wurde! Es war wohl Helmut Kohl, der mit der Einführung der kommerziellen Sender das Fernsehen für die Idioten erobert hat. Aber schon zuvor gab es bei den öffentlich-rechtlichen geistige Aufweichbewegungen zu verzeichnen.
Heute unterscheidet sich die öffentlich-rechtliche Unterhaltung (insbesondere „Krimi-Spiele“ und Sonntagsgärten, die einem das Leiden einer Heroin-Entgiftung vermitteln) nicht im geringsten mehr von der Pathologie der privaten. Von den Verantwortlichen wird Dummheit gepriesen und Qualität gemieden.

Dass dies mal anders war, zeigt einmal mehr der nicht genug zu lobende PIDAX-Verlag, der u.a. Höhepunkte der deutschen TV-Kultur rettet, restauriert und wieder zugänglich macht.
„Qualität, Flexibilität, Herzblut…nur auf diese Weise sind wir in der Lage, uns stark zu machen, wofür wir stehen: Die Veröffentlichung wahrer Schätze und Bestseller aus dem Film-, TV- und Hörspiel-Bereich! Wo hier ein Großteil der Konkurrenz passen muss, passen wir uns flexibel auch mit kleineren Auflagen den Erfordernissen dieses besonderen Marktsegments an.
Unser Augenmerk legen wir vor allem auf Qualität und hochwertige Inhalte. Durch Sorgfalt und modernste Restaurationstechnik versuchen wir vor allem bei älteren Produktionen eine neue Qualitätsstufe zu erreichen, um unseren Kunden ein ungetrübtes Seh- und Hörerlebnis zu ermöglichen“
, ist die Firmenphilosophie.

https://www.pidax-film.de

Dass sich darunter Produkte befinden, die nicht jedem gefallen und/oder aus heutiger Sicht unfreiwillig komisch erscheinen, gehört zum umfangreichen wie mutigen und bewunderungswürdigen Unterfangen.

Aber der bisher veröffentlichte Kanon ist auch ein audio-visueller Vorwurf an die Einfallslosigkeit, intellektuelle Begrenztheit und Feigheit der heutigen Unterhaltungsmacher.

Nun hat PIDAX in seiner Reihe „Historien Klassiker“ ein absolutes Meisterwerk des (nicht nur deutschen) Doku-Dramas aufgelegt. BÜRGERKRIEG IN RUSSLAND zeigt in beeindruckenden Spielszenen mit hervorragend integriertem Zeitmaterial eine brutale Zeitenwende, die blutig und hoffnungsvoll und vor allem chaotisch war. Die brillante Regie spielt sogar mit der Ästhetik des sowjetischen Revolutionsfilms und ist auch nach internationalen Maßstäben bis heute eine herausragende Produktion. Detailierter wurde die Revolution und der Bürgerkrieg m.W. nicht aufbereitet. Ähnlich anspruchsvolles dürfte man aktuell höchstens bei ARTEE erwarten.

Kein zeitgeschichtlich Interessierter kommt um diese DVD herum. Einziger Wermutstropfen: Ich vermisse ein Booklet, das die Hintergründe dieses Meilensteins deutscher Fernsehunterhaltung erzählt.
Kaum zu glauben, dass ein Großteil der Außenaufnahmen in und um Oldenburg gedreht wurden! Unfreiwillig komisch erscheint manchmal der sowjetische Lenin-Darsteller, der wie im Stummfilm chargiert aber insgesamt ein überzeugendes Lenin-Bild abliefert. Alle Schauspieler sind grandios. Besonders beeindruckend ist Friederich G. Beckhaus als Trotzki. Regie und Buch beherrschen ein heute selten umgesetztes dramaturgisches Prinzip: jede Szene muss aus such heraus und in sich ihre eigene Spannung entwickeln!

Für mich eines der intensivsten Bildschirmerlebnisse seit langem.



Die komplette 5-teilige Historienepos über die Russische Revolution

Im Kriegsjahr 1917 steuert das zaristische Russland auf die Revolution zu. Die Truppen und die aufständischen Arbeiter verbünden sich, Sozialrevolutionär Kerenski wird Minister einer provisorischen Regierung, der Zar dankt ab. Lenin kommt aus dem Schweizer Exil zurück, hat mit seiner Forderung, den Krieg zu beenden, jedoch kein Glück. Der Sturm auf das Winterpalais in St. Petersburg besiegelt den Sieg der Bolschewisten …

Hintergrundinformationen:

Zum 50. Jahrestag der Oktoberrevolution versuchte diese fünfteilige, hochwertige Historienreihe die wichtigsten Vorgänge wahrheitsgemäß nachzuvollziehen. Wochenschauaufnahmen, Amateurfotos, Korrespondenzen und Dokumente wurden dazu herangezogen, die Hauptakteure nach größtmöglicher Ähnlichkeit ausgesucht. 186 Schauspieler kamen zum Einsatz und über 1000 Komparsen. Bild und Funk (47/ 1967) schrieb: „Mit ungeheurem Aufwand in Szene gesetzt. Da agieren ganze Heere von Komparsen. Eine imponierende Fülle von Details wird dem Zuschauer vorgesetzt.“ Hörzu (47/ 1967) sprach von „aufwendig inszenierten Massenszenen, souveräner Kameraführung, schwelgerischen Dekorationen, blendenden Masken, hervorragender Besetzung und einem durchaus überzeugenden Buch.“

Episodenliste:
1. Revolutionsjahr 1917
2. Der Kampf um die Macht
3. Die Konterrevolution
4. Das Ende in Sibirien
5. Die verratene Revolution

Trailer:

HANS SCHAFFNER PRÄSENTIERT „Bürgerkrieg in Russland“ MIT Nikolaj Rytjkov, Friedrich Georg Beckhaus, Kurd Pieritz, Friedrich Schütter, Hubert Suschka, Otto Stern, Rolf Schimpf, Helmut Förnbacher, Wolf von Gersum, Reinhard Kolldehoff, Günther Jerschke, Tilo von Berlepsch, Paul Glawion

Buch: Hellmut Andics
Kamera: Albert Benitz, Heinz Bohn
Schnitt: Peter Harlos
Kostüme: Nicola Hoeltz
Szenenbild: Ellen Schmidt, Ermanno Giannotti
Produktionsleitung: Fritz Hoppe
Redaktion: Werner Murawski
Regie: Wolfgang Schleif

3 DVDs in einem Amaray-Case mit Wende-Inlay (inwendig ohne FSK-Logo)
Laufzeit: ca. 460 Min.
Bildformat: PAL 4:3 s/w
Sprache: Deutsch
Tonformat: Dolby Digital 2.0
Ländercode: 2 (Europa)
FSK: freigegeben ab 12 Jahren
Produktion: Deutschland 1967-1968

https://www.pidax-film.de/Historien-Klassiker/Buergerkrieg-in-Russland::2159.html



DAURISCHE GOTIK – über zentralasiatische Horror-Kultur 1/ by Martin Compart

Mittelalterlicher Schrecken, Vampire, Zauberer, mongolische Reiter, Yogis, Lamas, Werwölfen, Krähen, blutige Gemetzel und auferstandene Tote neben realen historischen Gestalten, verstrickt in Ereignisse des russischen Bürgerkriegs, eingehüllt in die Aura tibetanischer Shambala-Mystik.
Derartige Romane erscheinen seit den 1990er Jahren zunehmend in Osteuropa und besonders in Russland, haben ein eigenes Genre gebildet unter dem Begriff Daurische Gotik.

Die klassischen Motive des Schauerromans finden sich auch in der daurischen Gotik wie Wahnsinn (Ekstase, Trance usw.), übernatürliche Vorgänge, mysteriöse Schlösser – aber in einem orientalischen Kontext: buddhistische Klöster, Burgen inmitten der Steppe, mysteriöse tibetische Mönche und Lamas und die Suche nach Shambala anstelle des Heiligen Grals.

Daurian Gothic interpretiert diese asiatischen Topoi jedoch aus europäischer Perspektive neu und schmückt sie auch mit westlichen Motiven.
Daurische Gotik ist eng verwandt mit anderen Formen der asiatischen Gotik, von der wiederum die japanische- und koreanische Gotik weltweit erfolgreich sind in den Medien „Mangas“ und „Animes“. Die narrative Umsetzung der daurischen Gotik findet dagegen im Wesentlichen durch Bücher Fanfiction, Gemälde und Rockmusik statt; seit einiger Zeit auch verstärkt in Film und Fernsehen.

Daurische Gotik ist ein neoromantischer Kunsttrend, der durch eine düstere Atmosphäre und mythologische Geschichten von Kriegen und Konflikten in Transbaikalien (Daurien) und den Weiten Zentralasiens gekennzeichnet ist. Häufig verbunden mit dem mythischen Reich Shambala oder Agartha, dass außerhalb unserer sichtbaren Welt existiert, aber Einfluss auf die Personen haben kann.
In diesen Räumen vermischt die daurische Gotik historische Ereignisse mit Mysterien, reale Personen mit fiktiven.

DER RAUM:

Der Raum Innerasien bezieht sich auf eine kulturell isolierte Steppenregion, die Tuva, Burjatien, den Altai sowie die Mongolei und Tibet umfasst.

Bis zum Ende des 19.Jahrhunderts war Dauria oder Daurien auch eine umfassende Bezeichnung für den transbaikalischen Raum Ostsibiriens. Während des Bürgerkriegs wurde die Ortschaft Dauria, ein wichtiger Knotenpunkt der transsibirischen Eisenbahn, berüchtigt als Hautquartier des weißrussischen deutsch-baltischen Barons Ungern-Sternberg (1886-1921), der als „blutiger Baron“ wegen seiner Terrorherrschaft unter dem Oberbefehl von Ataman Semjonow in die Geschichte einging (sieh Linkverweise am Ende dieses Textes).
Noch entscheidender für seinen Mythos war die Eroberung der Mongolei von den Chinesen durch seine „asiatische Kavallerie“, zusammengesetzt aus Angehörigen der Steppenvölker, Tibeter und Weißrussen, unterstützt vom Militär des japanischen Kaiserreichs.

Die Region Daurien wird in der daurischen Gotik ähnlich fiktionalisiert wie Siebenbürgen bzw. Transsylvanien als Domäne von Dracula.

Beide Faktoren sind für die Namensgebung des Genres entscheidend: Die Gräuel des Bürgerkrieges und Terrorherrschaft der „Atamanscha“ und die eurasische Perspektive des geographischen Raums.

Der Zusammenbruch des Sowjet-Imperiums eröffnete reaktionären Kräften einen neuen Blick auf einen eurasischen Raum unter russischem Einfluss und mit chinesischer Bündnispolitik. Eine Geostrategie, die auch Putin betreibt.

ZENTRALASIATISCHES MITTELALTER

In der zentralasiatischen Steppe endete das Mittelalter erst Anfang des 20.Jahrhunderts und erst in den 1930er Jahren waren dank der Sowjets die meisten Klöster geschleift und die feudalen Strukturen zerstört. Eine Transformation des Feudalismus in den Staatskapitalismus.

In der daurischen Gotik hat das Mittelalter eine positive Konnotation durch größere Nähe zur Natur und Spiritualität, im Gegensatz zur Neuzeit, die besonders wegen des Bolschewismus als negativ angesehen wird.
Faschistische Verklärung des Mittelalters, wie sie auch im 3.Reich oder Mussolinis Italien zu finden war, ist ein Grundpfeiler des Genres. Es ist eine Revolte gegen die modern Welt, wie man sie auch im idiosynkratisch-faschistischen Traditionalismus von Julius Evola (Revolte gegen die moderne Welt, 1934, 1951) findet.
Deshalb sind fast alle Werke des Genres im frühen 20.Jahrhundert angesiedelt.

IDEOLOGIE

Das Genre steht immer im Zusammenhang mit den Zusammenbrüchen russischer Reiche: Anfang des 20.Jahrhunderts mit dem Ende des Zarenreichs und seit den 1990er Jahren mit dem Ende der Sowjetunion. Zeiten, in denen antirationalistische Orientierungslosigkeit bestimmte Schichten zu Okkultismus und reaktionärer Nostalgie führt.

Die öffentliche Rehabilitierung einer Reihe konterrevolutionärer Figuren der 1920er Jahre gehörte zur intellektuellen Konkursmasse der Sowjetunion.
Der extreme Antisemit Baron Ungern war der erste, der aufgrund der Bemühungen russischer Historiker in den 90ern rehabilitiert wurde. Ernsthafte Historiker bestritten zwar nicht seine Gräueltaten, säuberten ihn aber von der bolschewistischen Geschichtsschreibung.

Eine große Anzahl solcher Bücher erfüllten die unterschiedlichsten Interessen, unterstützten sowohl neue eurasische Vorstellungen wie auch nationalsozialistische und imperialistische Tugenden. Sie wandten sich also an ein rechts-nationales Klientel, dessen intellektuelle Begrenztheit ihre ideologischen Vorstellungen lieber fiktional in Romanen und Musik umgesetzt konsumierte.

Die europäische Gothic Novel oder Schauerromanze spiegelte zu Beginn des 18. Jahrhunderts den Niedergang des Feudalismus und den Aufstieg des Bürgertums fiktional. Ein Model, das sich für die Übertragung in russische Verhältnisse bewährte.

Purvya Mendyaevs Roman GOTT SEI DANK! SIE SIND ALLE WIEDER TOT (2017) über Ja Lama und „wie die größten Esoteriker des 20. Jahrhunderts um die Kontrolle über den Tempel des Todes kämpften“, bringt neben dem Rächer-Lama so illustre Gestalten wie u.a. Karl Haushofer, John Mackinder und Ungern-Sternberg zusammen. Eine Art okkulte „Liga der außergewöhnlichen Gentlemen“ mit real existierten Personen.

Kultur, die im Dienst reaktionärer politischer Ideologien eingesetzt wird, garantiert den Erfolg der daurischen Gotik. Mystizismus, Eurasismus und faschistischer Traditionalismus sind zu wichtigen Elementen in der russischen Politik geworden. Außerdem definiert sie eine Art politischer Weltordnung in Kategorien lamaistischer Eschatologie.

In den 2000er Jahren wurde die daurische Gotik zum wichtigsten Propagandamittel der extremen russischen Rechten für ihren Eurasismus, wie etwa von Alexander Dugin vertreten, eine der einflussreichsten Strömungen im heutigen Russland.

EURASISMUS

„Eurasismus oder Eurasiertum (auch Eurasianismus, russisch евразийство Ewrasijstwo) ist eine in den 1920er Jahren von russischen Emigranten formulierte geopolitische Ideologie. Der Eurasismus behauptet, dass ein von Russland dominierter, zwischen Europa und Asien befindlicher „Kontinent Eurasien“ in einem fundamentalen Gegensatz zur „romano-germanisch“ geprägten westlichen Welt stehe“, erklärt WIKIPEDIA.
Es ist also nicht verwunderlich, dass reaktionäre Kreise in Russland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion Gefallen an dieser kruden Geostrategie finden. Radikaler Eurasismus war schon immer (siehe Ungern-Sternberg) eng verbunden mit antikommunistischen weißrussischen Emigranten in Asien.

Russland fühlt sich seit langem – auch dank der hysterischen orthodoxen Kirche – vom Islamismus bedroht, besonders durch die Kaukasus-Regionen und Turkmenistan (Stichwort: Basmatschi) bedroht. Den ideologischen Strategen des Eurasismus kommt deshalb eine Verklärung des tibetanisch-mongolischen Lamaismus gelegen.

Angesichts dieser einflussreichen politischen Strömung in Russland ist es mehr als lächerlich, wenn der neue Zar im Kreis seiner Neu-Bojaren der Welt verkündet, er wolle die Ukraine von Nazis und Faschisten befreien.

FORTSETZUNG FOLGT

LITIERATURHNWEISE:

Aleksey Mikhalyev, ein Politikwissenschaftler an der Buryatischen Staarsuniversität State University, hat die Popularität Ungern-Sternbergs im heutigen Russland und das Genre untersucht; siehe dazu: http://windowoneurasia2.blogspot.com/2019/06/dauria-gothic-why-russians-today-are.html .

Siehe auch in diesem Blog:

EINE ASIATISCHE ODYSSEE DURCH BLUTIGE STEPPEN – DIE ERINNERUNGEN VON DMITRI ALIOSHIN (https://martincompart.wordpress.com/2021/02/12/eine-asiatische-odyssee-durch-blutige-steppen-die-erinnerungen-von-dmitri-alioshin/ )

DER RÄCHER LAMA (https://martincompart.wordpress.com/2013/02/14/der-racher-lama-1/ )

DER SCHLÄCHTER VOM USSURI ATAMANKALMYKOW (HTTPS://MARTINCOMPART.WORDPRESS.COM/2009/11/29/DER-SCHLACHTER-VOM-USSURI-ATAMAN-KALMYKOW-1/ )

ICH BEFEHLE – EIN UNGERN-STERNBERG-ROMAN (https://martincompart.wordpress.com/2011/06/07/ich-befehle-ein-ungern-sternberg-roman/ )

OSSENDOWSKI – DER MYSTERIÖSE PROFESSOR 1 (HTTPS://MARTINCOMPART.WORDPRESS.COM/2011/02/20/OSSENDOWSKI-DER-MYSTERIOSE-PROFESSOR-1/ )

DER BLUTIGE WEISSE BARON ( HTTPS://MARTINCOMPART.WORDPRESS.COM/2010/12/02/DER-BLUTIGE-WEISSE-BARON/ )

Aufgrund der nomadischen Lebensweise hatten die Mongolen und möglicherweise andere Nomaden nicht die Möglichkeit, Gefangene selbst in der Zindan-Grube zu halten, so dass sie mit einem solchen mobilen Gefängnis auskommen mussten.



EKELIGE POLITIKER UND DEMOKRATIESABOTAGE by Martin Compart



DARK ROME – ÜBLES AUS DEM IMPERIUM by Martin Compart

Willkommen auf der dunklen Seite der römischen Geschichte! Hier erwartet Sie eine mal schrille, mal bedrohliche und immer wieder verstörend vertraute Lebenswelt. Es ist eine Welt des Drogenkonsums, perfider Mordanschläge, obskurer Kulte, mysteriöser Staatsaffären, brutaler Bandenkämpfe und bizarrer Obsessionen. In dieser Szene finden Sie keine sittenstrengen Senatoren und Matronen, sondern treffen auf skrupellose Politiker, in allen Künsten bewanderte Prostituierte, nervenstarke Geheimagenten, geniale Waffenkonstrukteure und kaltblütige Giftmischerinnen. Willkommen in – Dark Rome !

Michael Sommer
Dark Rome
Das geheime Leben der Römer

Buch. Hardcover
3., durchgesehene Auflage. 2022
288 S. mit 17 Abbildungen.
C.H.BECK. ISBN 978-3-406-78144-5

War Mark Aurel drogensüchtig? Angeblich konsumierte der Philosophenkaiser Opium. Hat Archimedes, der geniale Baumeister aus Syrakus, tatsächlich eine Superwaffe konstruiert?

Und tagte gar eine Geheimloge in der unterirdischen Basilika, die Archäologen in Roms Unterwelt entdeckt haben?

Diese und viele weitere Rätsel erwarten die Leserinnen und Leser von Dark Rome – einer ebenso wilden wie faktenreich und spannend erzählten Sittengeschichte der römischen Welt.

Der Autor

So stößt, wer in den Abgründen des römischen Imperiums schürft, gelegentlich auf Bleitäfelchen: Am richtigen Ort vergraben und mit der richtigen Fluchformel versehen, konnte man mit schwarzer Magie versuchen, unliebsame Zeitgenossen in den Orkus zu schicken. Eilige wählten für solche Anlässe lieber ein Pilzgericht wie beispielsweise Agrippina, die Gattin des Kaisers Claudius, die ihren Gemahl mit seiner Lieblingsspeise zu einem Gott machte (böse Zungen behaupten, er habe es im Jenseits nur zu einer Karriere als Kürbis gebracht …).

In den Dunkelzonen des römischen Reiches begegnet man auch Politikern wie den Statthaltern Albinus und Florus in Ägypten, welche die Provinzbevölkerung nach Strich und Faden ausplünderten.

Doch die beiden waren Waisenknaben im Vergleich mit dem notorischen Halsabschneider und Proprätor Verres, der Sizilien zu seiner Pfründe machte und dabei über Leichen ging. Was Mord aus politischen Motiven betrifft, so könnten selbst Despoten unserer Tage noch von den alten Römern lernen. Diese setzten bei Bedarf ihre Gegner – wie es etwa Sulla, Octavian und Marcus Antonius taten – einfach auf sogenannte Proskriptionslisten, so dass jeder die Vogelfreien straffrei töten und sich an ihrem Vermögen gütlich tun konnte.

DARK ROME führt in die „Dark Rooms“ des Römischen Reichs (diesen flachen Witz konnte ich mir nicht verkneifen).

Es ist faszinierend, was Sommer an übelsten und unappetitlichen Fakten ausgegraben und zusammengetragen hat!

Wer glaubte, dank seiner Gibbons- und Mommsen-Lektüre über die römische Geschichte hinreichend informiert zu sein, erlebt erschütternde Überraschungen.

Bei einem archäologischen Fund 1999 in Groß-Gerau etwa, wurde ein vierfach gefaltetes Blei-Täfelchen sichergestellt mit der Bitte an einen Dämon, eine gewisse Priscilla zu vernichten, die Geheimnisse verraten und „einen Nichtsnutz geheiratet“ habe und so „geil“ wie „irre“ sei. So beginnt das Kapitel über Schwarze Magie, in dem Sommer verblüffende Parallelen zum Voodoo-Kult ausmacht.

Das auch stilistisch brillante Buch gliedert sich in folgende Kapitel:
Von verschlossenen Türen und geheimen Orten, von Kaisern und Kurtisanen, von Geheimschriften und verbotenen Büchern, von Spionen und Wunderwaffen, von Giftmischerinnen und Drogendealern, von schwarzer Magie und seltsamen Verwandlungen, von Verschwörungen und Geheimlogen, von Korruption und organisiertem Verbrechen, von Falschspielern und Meuchelmördern, von Mysterien und geheimen Riten.

Ein Sachbuch, so spannend wie ein Thriller. Mehr noch: Hierfür lasse ich so manchen Thriller liegen.