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Mit Dank an Jochen König, der dieses zweifelhaft und despektierliche „Dokument“ in mein tränenreiches Bewusstsein getrieben hat.
Filed under: JÖRG FAUSER, Porträt | Schlagwörter: Jörg Fauser, Jean-Pierre Melville, Kriminalliteratur, Kulturindustrie, Rolf Giesen, TIP, Ullstein
DER LANGE WEG ZUM SCHLANGENMAUL 3/
HEUTE: ABENTEUER IM ÜBERBAU
Drei Tage vor dem Bruce Springsteen-Konzert 1981 war ich auf Speed gegangen und hatte bei meiner Brandrodung durch München einen neuen Rekord aufgestellt. Nachts vor dem Konzert konnte ich nicht pennen. Das Speed glühte nach. Ich war dabei, die Entgiftung mit summa cum laude abzuschließen: Da war doch dieses Buch, das ich schon ´ne Weile lesen wollte: MARLON BRANDO von Fauser. Ein bisschen was hatte ich von ihm schon im „TIP“ gelesen.
Und natürlich war ich von ALLES WIRD GUT begeistert, das mir verdeutlichte, wie tief man in München noch sinken kann…
Später bekundeten wir häufig und missionarisch, dass München viel härter wäre als Berlin mit seiner Subventionskultur, in der jeder für ein „Projekt“ ein paar Groschen abgreifen konnte. Das erzählten wir jedem, der es nicht hören wollte – wie hart sich unser Überlebenskampf in Minga gestaltet hatte:
„Wasser? Wasser gab es nicht jeden Tag. Manchmal war man zu schwach, um sich bis zur Isar zu schleppen, um zu trinken. Und wer hatte schon eine Flasche, um Wasser mitzunehmen? Ein seltenes und kostbares Gut für die bürgerlichen Schichten.
Essen? Nun ja, gelegentlich warf einem schon mal eine gutherzige Marktfrau eine glasige Kartoffel zu oder eine vertrocknete Brezen… Das waren dann Feiertage, an denen man weinend dem Herrn dankte, dass er doch über einen wachte. Man war zu arm, um sich Aberglauben leisten zu können. Wir hatten nur unseren Seelenadel.
Bier? Jaja, Minga-Bierstadt. Bayrisches Bier gilt da ja als Grundnahrungsmittel. Kein Getränk für jedermann. Für uns was ganz seltenes und besonderes. Da kam man ganz schwer dran. Das einzige Bier, das wir auch nur wenige Male gekostet haben, bestand aus zusammen geschütteten, abgestandenen Resten in der Blauen Nacht oder einem unübersichtlichen Biergarten, bevor man mit Tisch- oder Stuhlbeinen da weggeprügelt wurde.
Nachts suchte man Trost beim einzigen Buch, das man aus einem Sperrmüll gezogen hatte und der größte Schatz war, den man in seiner abgewetzten Wehrmachtsuniform immer bei sich trug. Im schummrigen Licht der Straßenlaterne (wenn man das Glück hatte, eine zu finden, von der man nicht mit bissigen Hunden vertrieben wurde) las man dann in der zerfledderten Vorkriegsausgabe von OLIVER TWIST, um ein wenig Hoffnung zu schöpfen. Das ermutigte manchmal, den Strick um den Hals an einer der Isarbrücken wieder zu lösen. Manchmal auch nicht. Dann hing man da, über der nächtlichen Isar, leicht im Wind baumelnd, mit gebrochenem Genick…“
Ich knallte mir das Buch rein und konnte nicht fassen, wie gut es war. So eine Star-Biographie hatte ich noch nie gelesen!
Ich nahm mir fest vor, diesen Typen kennenzulernen.
Später stellte sich heraus, dass wir in München wohl zur selben Zeit in teilweise dieselben Kneipen gegangen waren.
Wir hatten vielleicht am selben Tresen gestanden, ohne ins Gespräch zu kommen. Denn im Gegensatz zu Jörg, bin ich fast nie allein um die Häuser geschlichen. Weißbierkeller, Blaue Nacht, rund um den Viktualienmarkt, das Glockenbachviertel… Wahrscheinlich hatten wir in denselben Nachtvorstellungen dieselben französischen Gangsterfilme geguckt.
„Warum hast du mich nicht mal angerufen? Das haben andere auch gemacht“, fragte mich Jörg später.
„Erstens habe ich mich das nicht getraut, zweitens hättest du mich garantiert abserviert.“
„Nicht unbedingt.“
„Nee, nicht unbedingt.“
Für die „Arbeitsgemeinschaft Kriminalliteratur“ (im Umfeld der Münchener Uni 1980 gegründet) schrieb ich regelmäßig Artikel und Kolumnen für das Mitteilungsblatt. Aber auch schon mal ein Feature über das Sammeln von Kriminalliteratur für das „Sammlerjournal“.
Da ich zu zart für körperliche Arbeit bin, schrieb und übersetzte ich, um das karge Bafög aufzustocken.
In München bekam man sogar den Berliner „TIP“, der damals verstärkt überregional vertrieben wurde. Den las ich regelmäßig, denn der Kulturteil war moderner und progressiver als der durchschnittlicher Blätter. Film und Musik hatten mehr Platz, und mit den Rezensionen konnte ich mehr anfangen. Dass da Jörg Fauser seit Anfang 1981 am Werk war, fiel mir erst auf, als DER SCHNEEMANN vorabgedruckt wurde. Der Roman gefiel mir, klar, dass er als Redakteur stattfand, war mir nicht klar.
Der „TIP“ wäre vielleicht das richtige Forum für einen Artikel über Kriminalliteratur. Ich schickte, er wurde angenommen, veröffentlicht.
Nachdem Bernd Jost seinen bevorstehenden Wechsel zu Rowohlt als Nachfolger von Richard K.Flesch verkündet hatte, musste für Ullsteins Gelbe Reihe ein Nachfolger gesucht werden.
Ullsteins Geschäftsführer Viktor Niemann und Pressechef Wolfgang Mönninghof (in Personalunion als Chef-Lektor) trafen sich gelegentlich auf Drinks mit Fauser und „TIP“-Chef Werner Matthes, der Fauser nach Berlin geholt hatte. Es gab auch keine Zweifel, dass Niemann an Fauser als Autor für Ullstein interessiert war. Jedenfalls regte man an, die Ullsteiner sollten sich doch mal den Typen von der Arbeitsgemeinschaft ansehen, der diesen Artikel über Kriminalliteratur geschrieben hatte.
Niemann hatte ich schon zuvor als Chefideologe der AK belästigt
(„Hören Sie auf, die Innenklappe mit Marlboro-Werbung zu verunstalten.“
– „Wäre es Ihnen lieber, dass die Krimis dann teurer würden?
– „Nein. Senken Sie den Preis und lassen Sie gleichzeitig die Reklame weg.“
Ich hatte also meine betriebswirtschaftliche Kompetenz bereits nachgewiesen).
Der Rest ist bekannt: Nach einem Gespräch in Berlin hatte ich den Job, wurde jüngster Herausgeber Deutschlands, und bereits im ersten Job-Monat kreuzten sich Jörgs und meine Pfade.
Ich hatte zwar schon „TIP“-Chefredakteur Werner Mathes persönlich getroffen, aber Jörg noch nicht kennengelernt. Muss Anfang August ’82 gewesen sein, als Matthes mich zu einer Gaststätte bestellte, um über den „Literatur-Tip“ zur Buchmesse zu sprechen. Themenschwerpunkt: Kriminalliteratur.
Es war ein scheißheißer Tag, und ich frittierte im Büro im eigenen Schweiß. Mit einem Taxi fuhr ich durch das brütende Berlin zum Fronteinsatz. Vor der Gaststätte saßen zwei Stoiker und tranken Whisky. Matthes stellte Fauser und mich einander vor. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass ich es Ihnen zu verdanken hatte, bei Ullstein zum Vorstellungsgespräch geladen worden zu sein. Fauser war cool und skeptisch. Der Kellner kam, um meine Bestellung aufzunehmen. Ich wollte auch einen Whisky. Fauser grinste. Ich konnte kein ganz schlechter sein.
Aber wir saßen nicht nur da und waren hübsch anzusehen, wir gingen auch ernsthafter Trinkertätigkeit nach, und ich akzeptierte natürlich den Vorschlag, über Jim Thompson zu schreiben.
Nach der Veranstaltung in Loccum, verdichtete sich unsere Bekanntschaft und entwickelte sich zu einer zelebrierten Männerfreundschaft.
Wir besuchten gelegentlich Kultur-Veranstaltungen, gehörten aber nicht dazu, weil wir nicht dazu gehören wollten. Wir meinten eine Art „freundlichen Stalinismus“ der Apparatschicks auszumachen, der sich für Disziplin gegenüber genehmen Denkmustern und gegen abweichenden Individualismus richtete. Ihrem Kastendenken stellten wir die Wahrhaftigkeit der Noir-Avenues gegenüber. Diese Kulturszene interessiert (e) sich nur für Biedermeierthemen. Wie die Welt wirklich funktioniert, interessiert sie nicht. Da mussten wir schon zu Jim Thompson oder Ted Allbeury greifen. Es ging gar nicht mal um die Systemfrage, es ging darum, wie das System funktioniert. Erkennt man das, kommt die Systemfrage von selbst.
Existentialistische, an Camus erinnernde Aussage, wie diese von Jean-Pierre Melville passten hier nicht hin: „Ich mag nutzlose Anstrengungen sehr. Der Aufstieg zum Misserfolg ist eine ganz und gar menschliche Seite. Der Mensch geht von Erfolg zu Erfolg unentrinnbar auf sein letztes Scheitern zu: den Tod. In meinen Filmen gibt es immer eine Minute der Wahrheit: Der Mensch vor dem Spiegel, das ist die Prüfung, die Bilanz.“
Nein, hier kreiste alles um großbürgerliche Ästhetik, bürgerliches Glücksstreben in der Idylle eines progressiven Opernhauses und dessen Unmöglichkeit wegen der großen Schuld der Väter. Echokammern eines überholten Geisteslebens. Kulturelle Geisterfahrer.
Jörg wurde nicht vom bourgeoisen Feuilleton missachtet, er wurde von ihm nicht verstanden. Das zeigt sich auch darin, dass er jederzeit zu ihm Zugang fand. Ein Helmut Karasek hatte kein Problem, Jörg im „Spiegel“ über Mickey Spillane schreiben zu lassen, die „FAZ“ druckte seinen Essay über Ross Thomas vorab. „Lui“, „TransAtlantik“ und andere Zeitungen und Magazine standen ihm offen. Indem er den TIP (nicht nur mit der jährlichen Literaturbeilage zur Buchmesse) mit einer regelmäßigen literaturkompetenten Portion ausrüstete, wurde er selbst zum Player in diesem desparaten Genre. Seine Überlegenheit und Originalität kam eben nur nicht bei jedem Mitkombattanten gut an. Besonders nicht seine Tunnelbohrungen durch diesen überdimensionalen Misthaufen, der als deutsche Gegenwartsliteratur gefeiert wurde.
Denn unter den Möglichkeiten für eine zeitgemäße Literatur sahen wir Formen der Kriminalliteratur als überzeugendste Möglichkeiten (in der Umsetzung anders als der häufig talentlose Sozio-Krimi und seine stilistisch begrenzten Autoren). Denn in der sogenannten zeitgenössischen deutschen Literatur ging es ja nur darum, dass Leute, die einen nicht interessieren, nichts erleben.
Mit André Malraux teilten wir die Ansicht, dass Kriminalliteratur „das wirksamste Mittel ist, einen ethischen oder poetischen Sachverhalt in seine ganze Intensität zu übersetzen“.
Angesichts des Widerstandes (zum Teil Hass), der uns von Feuilletonisten und Autoren entgegenschlug, grinsten wir lediglich in unserer tief empfundenen Arroganz und hielten es (abgewandelt) mit John Milton: „Lieber in der Hölle herrschen, als im Himmel dienen.“
Eine unserer Strategien gegen unserer Meinung nach gestriges Kulturverständnis waren Debatten statt Diskussionen, da diese den höheren Provokationsfaktor haben. Jörg kannte die gegnerischen Konzepte genau: Oft las er diese Nabelschau-Bücher nur zu Ende, weil er wissen wollte, ob der Autor tatsächlich dieses miese Niveau halten konnte.
Vergangenheit ist nie zu Ende ist der Titel eines Romans von Ted Allbeury. Für mich sollte sich diese schöne Erkenntnis einmal mehr beweisen. Eines Abends – ich machte mich gerade für die Piste fertig – klingelten die Bullen. Ein Strafbefehl war offen – alter Scheiß aus der Münchener Zeit mit Karibik-Horst, den ich längst begraben wähnte, war noch anhängig. Ich sollte umgehend im Beisein der Cops am Bahnhof Zoo 400 DM auf die Münchener Gerichtskasse einzahlen, oder ich käme in Beugehaft, bis die Banken öffneten.
Soviel Kohle hatte ich nicht einstecken, noch verfügte ich über Eurochecks oder ähnlich neumodischen Kram wie Kreditkarten. Ganz bestimmt würde ich am nächsten Tag noch vor dem Zähneputzen die Überweisung tätigen. Nix da. Entweder sofort am Zoo oder sofort in den Knast.
Ich hatte an diesem Abend echt was Besseres vor. Hat man nicht immer besseres als Knast vor?
Ob ich einen Bekannten aufsuchen könnte? Der Springer-Ausweis wirkte in der Frontstadt damals manch kleines Wunder. Die Cops waren einverstanden und führten mich ohne Handschellen zu Jörg ins 13.Arrondissement.
Da Jörg Gäste erwartete, musste er zu Hause sein. Es war noch früh, zu früh für einen Joint, die Gäste waren erst angekommen. Keine Rauchschwaden zu erwarten.
Was für ein Partyknaller.
Ich klingelte, berichtete, und Jörg musterte die grinsenden Bullen, zog den Trench an, fuhr mit zum Bahnhof Zoo, hob Geld ab, gab es mir, ich zahlte ein und die Bullen wünschten uns noch einen schönen Abend.
Gibt wohl nicht viele Autoren, die einen Lektor vor dem Knast bewahrt haben.
Gelegentlich war Jörg etwas aufgebracht. Allerdings liebte er es auch, erbost zu sein. Ein feuilletonistischer Streuner, Hass in der Feder, hatte ihn oder von ihm geschätztes dann angepinkelt. Das sezierten wir gerne minutiös, um einmal mehr festzustellen, wie gering doch der Verstand sein muss, um bei bestimmten Postillen schreiben zu dürfen.
Zeit seines Lebens, wurden Jörg und sein literarisches Konzept unter Wert behandelt. Aber Hemingway hatte ja gesagt: „Kritiker haben noch jeden Schriftsteller, der sie liest, ruiniert“. Jörg nicht. Das Leben auf der Straße hatte ihn viel zu sehr gepanzert. Sie kamen mit ihren Abrissbirnen nicht an ihn ran.
Wirklich geärgert haben wir uns nur, wenn Name, Titel oder Verlag falsch geschrieben waren. Da war Jörg ganz der Meinung von Mickey Spillane: Nur das zählt. Aber die Schiedsrichter des Konformismus versuchten es immer wieder, ließen nicht locker wie tollwütige Frettchen. Oft genug spürte man aus ihren krummen Zeilen den Hass auf Jörgs Überlegenheit, den Hass darauf, dass er ihren Spießerkanon nicht anerkannte und übernahm, den Hass darauf, dass er in jedem Genre – ob Reportage oder Songtext – Gold herstellte, den Hass darauf, dass er nicht mit ihnen fraternisierte, letztlich den Hass auf ihre eigene Unzulänglichkeit.
Noch heute gibt es ja solch ewige Buben, die mit dem traditionellen Lockruf der Sauhirten ihre Gefolgsleute herbeizitieren, weil sie Jörgs Wirkungsgeschichte nicht verkraften und krampfhaft ein Kastensystem zu erhalten suchen, dass von Fauser zu kalter Asche heruntergebrannt worden ist. „Wenn ein wirklich großer Schriftsteller in Deutschland erscheint, kann man ihn untrüglich daran erkennen, dass sich alle Dummköpfe gegen ihn verbünden“, kann als leicht verändertes Hemingway-Zitat für die Fauser Rezeption gelten. Jedenfalls zu seinen Schaffenszeiten.
Was zum Teil von denen zu halten ist, die ihre Talentlosigkeit damit überdecken, dass sie sich heute auf Fauser beziehen, ist eine andere Geschichte.
Wie wir alle (und insbesondere Künstler), war auch Jörg eitel. Wenn jemand clever genug war, die richtigen Knöpfe zu drücken, konnte er mit seiner Wohlgesonnenheit spekulieren. Mich hat das häufig verärgert:
„Aber der hat doch bereits nachgewiesen, dass er nicht schreiben kann!“
„Jeder fängt mal an. Und in seiner Bestrebung zu mir lässt sich erkennen, dass er nach dem richtigen Weg sucht.“
„Er schmiert dir Honig ums Maul, weil er hofft, dass du für ihn nützlich sein kannst.“
„Zweifellos ein Zeichen von Intelligenz.“
„Du hast selbst gesagt, wie schlecht er schreibt.“
„Er hat noch einen langen Weg vor sich. Um so wichtiger, von den Besten zu lernen.“
„Aber sicher. Du bist eine Vollkaskoversicherung für ästhetisches Gelingen.“
Alles was auch nur den Anflug von Hippie-Kultur und Verwandtem hatte, war für Jörg sehr schlecht beleumdet. In seiner TIP-Kolumne ließ er kaum eine Gelegenheit aus, um sich mit alternativen Subkulturen anzulegen („Lieber die Pershing im Vorgarten, als den Politkommissar am Schreibtisch“). Vom „Underground“ war da nicht viel übrig.
Es waren Zeiten der Polarisierung, und das liebte Herr Fauser. Außerdem gefiel ihm die Rolle des Advocatus Diaboli.
Abgesehen von seinem Gespür und Bewusstsein für (politische) Kriminalität war Jörg in vielem so progressiv wie ein sozialdemokratischer Ortsvereinskassierer.
Aber für die vielen Masken der Korruption hatte er ein feines Gespür.
Ich hatte zwar auch für den Rest meines Lebens genug von dem Alternativscheiss (siehe meine Aufzeichnungen in 2000 LIGHTYEARS FROM HOME – Eine Sozialisationsgeschichte mit den Rolling Stones), aber mir standen Hausbesetzer näher als Innensenator Lummer.
Jörg hatte ein Faible für kleinwüchsige autoritäre Spießer. Erkennbar auch in seiner kurzzeitigen Faszination von Proll Gert Schröder und Joschka Fischer. Deren volle Idiotie des Kommenden war damals noch nicht wirklich vorhersehbar; das muss man als mildernde Umstände anführen.
Das Meiste aus dem Alternativscheiss wird sowieso zum Mainstream von Morgen, wenn es sich kommerziell verwerten lässt. Zwischen den Stühlen konnten wir vortrefflich stehen um auf die Sitzenden herabzublicken.
Andererseits war Jörg immer interessiert am Anarchismus und an Freiheitskriegen. Ihm missfiel die Idiomatik, mit der die „Linke“ (was immer das sein mag) alles heroische verteufelte und klein zu machen versuchte. Wir hatten beide erlebt, wie die Linke sich seit den 70ern gegenseitig exkommunizierte. Diese dogmatischen Idioten ernst zu nehmen, fiel schwer, während wir der Roten Armee Fraktion Respekt nicht verweigern konnten.
Der Spanische Bürgerkrieg und George Orwell und die Beats hatten ihm jeden Dogmatismus ausgetrieben. Mit der Faszination des Faktischen, der Macht der Tat, war Jörg ganz bei seinen literarischen Idolen.
Zu meinen Freundschaftsaufgaben gehörte es auch, Jörg gelegentlich zu stabilisieren.
Da ich alles verachtete, was Häme oder Unverständnis über ihn ausschüttete, war das ziemlich leicht. Wenn ich mit meinem hypertrophierten Selbstbewusstsein diese Bagage lächerlich machte und vollkommen überzeugt darauf hinwies, dass es keinen Autor deutscher Zunge gab, der ihm das Wasser reichen könne, blieb ihm nur Zustimmung, bessere Laune und weitere Pläne schmieden.
Kritiker haben Jörg immer mal wieder vorgeworfen, er hätte Probleme gehabt mit Gefühlen umzugehen, sei unnahbar und arrogant gewesen, habe sich hinter einer Männerwelt verschanzt.
Gerade aufs SCHLANGENMAUL bezogen hat man das öfters gehört und gelesen. Alles völlig verblödeter Unsinn kontaktgestörter Stubenhocker. Der Preis für Autonomie ist Isolation.
Jörg konnte ein äußerst warmherziger und sensibler Freund sein. Genauso konnte er eiskalt und arrogant gegenüber Arschlöchern sein (oder weil er gerade schlecht drauf war).
Jörg schrieb über Männerwelten, weil er diese kannte und sich in ihnen bewegte. Für diese Kritiker ist das exotischer als eine Reise mit der Enterprise. Dieselbe Art kastrierter Marketender der Literatur haben Hemingway vorgeworfen, dass er über Stierkampf, Krieg oder das Fischen schrieb. Oder Dashiell Hammett, dass er die harte Welt der Pinkertons kannte. Jörg liebte es, durch Schlamm und Morast der dunkelsten Ecken unserer Gesellschaft zu waten.
Diese geistigen Feuilleton-Hinterlader finden ihre schlichten Freuden wohl nur bei lästigen Autoren, für die Rolf Giesens unsterblicher Satz über den deutschen Film gilt: „Wenn sie schon nichts erlebt haben, warum müssen sie dann Filme darüber drehen?“
Jörg, je mehr ich diesen Scheiß aufzeichne, um so mehr habe ich das Gefühl, mich von Dir zu entfernen.
Gewisse Autoren, die heute begeistert über Fauser sind, ahnen wahrscheinlich tief in ihrem Inneren, dass Jörg für ihr Geschreibsel nur Hohn und Spott übrighätte.
In ihren Betriebszeitschriften schreiben sie alles hoch, was bedeutungslos, langweilig, unerotisch und fade ist. Eben alles, was wie sie ist.
Und dazu gehört noch immer oder wieder das Gros „neuer“ deutscher Kriminalliteratur nach/seit Fauser. Ein guter Referenzpunkt für Idioten.
Leblose Romane für Alphabeten-Zombies mit Restmimik.
DIE KOMPLETTEN ERINNERUNGEN IN:
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ICH VERLIERE NIEMALS, NIEMALS WIRKLICH – Gedanken zu Jean-Pierre Melville
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MiC hat mir einen absoluten Superlink mitgeteilt, der jeden Melville- und Delon-Fan begeistern wird:
https://melvilledelon.blogspot.com/
Filed under: Alain Delon, BELMONDO, Film, Jean-Pierre Melville, Porträt, Rezensionen | Schlagwörter: Alain Delon, Autobiographir, BELMONDO, Film, Jean-Pierre Melville
Belmondo ist der außergewöhnlichste Schauspieler seiner Generation. Er kann einfach alles.
Alain Delon
Jean-Paul Belmondo
Meine tausend Leben
Die Autobiografie
Originaltitel: Mille Vies Valent Mieux Qu’une
Originalverlag: Fayard
Aus dem Französischen von Pauline Kurbasik, Bettina Seifried
Deutsche Erstausgabe
Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 320 Seiten, 13,5 x 21,5 cm
mit 16 Seiten Bildteil
ISBN: 978-3-453-20195-8
€ 22,00 [D] | € 22,70 [A] | CHF 30,90* (
Verlag: Heyne
Zuerst die schlechte Nachricht: Wer eine Filmstarautobiograpie mit Tiefgang oder Skandalwert erwartet, wie etwa die von David Niven, Michael Caine, Errol Flynn oder Klaus Kinski, wird ein wenig enttäuscht sein.
Aber das Positive überwiegt natürlich. Schließlich handelt es sich um Belmondo.
Wie kein anderer Filmstar verkörperte er die 1960er, sowohl in ihren anarchischen- wie auch hedonistischen Aspekten.
Sein ungebremster Bewegungsdrang spiegelt den inneren und äußeren Wunsch nach antiautoritären Gesellschafts- und Gedankenwelten. Sein Rebellentum hatte immer etwas „jungenhaftes“ – wie die Jugendrevolte der 60s. Es wundert also nicht, dass er zu ihrer filmischen Ikone wurde. Mitte der 70er erstarrte er zunehmend zu seinem eigenen Klischee (das aber für eine ganze Reihe höchst unterhaltsamer Filme taugte).
Beliebt war und ist der heute 85jährige in allen Schichten.
In der öffentlichen Wahrnehmung und Beliebtheit wurde er zum Jean Gabin seiner Generation (über die Dreharbeiten von DER AFFE IM WINTER mit Gabin berichtet er etwas ausführlicher).
Irgendjemand (Melville?) nannte ihn „den komplettesten Schauspieler“. Das zeigt sich auch in seinem unglaublichen Timing, das sich nicht nur in Action-Szenen ausdrückt.
Ein schönes Beispiel ist ein sehr langer schwachsinniger Monolog im ersten Drittel von FRÖHLICHE OSTERN (die wahrscheinlich unterschätzteste Komödie der Filmgeschichte: ein Film der übrigens nur Frauen amüsiert, die über Ehebruch lachen können), in der Belmondo als betrügerischer Ehemann (er spielt den ganzen Film über ein verblödetes kapitalistisches Arschloch, ohne dass wir es im übel nehmen) sein neuestes Jagdopfer seiner Frau als Tochter verkaufen will.
Eine lange, wortlastige Szene, gedreht ohne einen Schnitt, in der Belmondo eine Tour-de-Force hinlegt, die ihres gleichen sucht (und nicht findet).
Belmondos autobiographischer Bericht ist eher eine lockere Plauderei, bevorzugt über Bubenstreiche eines ewigen Kindes, das sich sympathisch seine Kindlichkeit bewahren kann – über sehr lange Zeit. Belmondo ist ähnlich wie in seinen komödiantischen Filmrollen in die Rolle eines Plauderers geschlüpft, der nicht allzu tiefgründig seinem Publikum einiges erzählt, ohne zu viel von sich preiszugeben. Leider springt er auch häufig zwischen Themen und Filmen hin und her, worunter die ohnehin mangelhafte Chronologie leidet.
Manche Anekdoten sind schon ziemlich komisch und auch witzig formuliert (wie etwa die Formulierung, dass er beim ersten Vorsprechen „die Schallmauer der Inkompetenz“ durchbrach).
Aber es gibt auch berührende Momente wie den Schmerz über den Tod seiner Tochter. „Man kann sein Kind nicht verlieren. Das darf man nicht zulassen, es ist wider die Natur… Der Schmerz ist absolut, es gibt keinen Trost. Der Kummer vergeht nie, er begleitet einen für immer.“
Der Schwerpunkt des Buches liegt auf seiner Kindheit und seiner Ausbildung (eher zum Rebellen als zum Schauspieler). Regisseure wie Godard, Melville oder deBroca nehmen noch einen gewissen Raum ein (auch Verneuil), aber insgesamt erfährt man über seine Filme (ein Oeuvre von fast hundert Filmen) zu wenig. Inhaltliche Überlegungen – außer bei Godard – zu den Werken findet man so gut wie nicht, stattdessen dauernd Streiche über Hoteldemontierungen wie bei einer 70er Jahre Rockband, die sich elend wiederholen.
Kein anderer Schauspieler bewegte sich souveräner zwischen Kunstfilmen, anspruchsvoller Unterhaltung und Klamauk. Scharfsinnig belegt er, wie Kritiker ihm dies prinzipiell übelnahmen und ihn dies gelegentlich spüren ließen:
Beispielsweise, indem sie die Präsentation des von ihm selbst produzierten Meisterwerks STAVISKY in Cannes zur Hölle machten. Später warf man ihm allen Ernstes vor, dass sein Machwerk AS DER ASSE dafür gesorgt hätte, dem zeitgleich gestarteten Film EIN ZIMMER IN DER STADT von Jacques Demy Zuschauer abspenstig gemacht zu haben. Der noch immer verletzte Belmondo konterte das kühl:
„Als ich 1974 STAVISKY in die Kinos brachte, fing ich auch kein Gezeter an, James Bond habe mir Zuschauer geklaut, weil mein Film nur 375 ooo Zuschauer in die Kinos lockte.“
Solche Geschichten gehören zu den Höhepunkten von Belmondos Autobiographie.
Oder wenn er von seiner ehemaligen Lebensgefährtin Laura Antonelli spricht: „Ein Blick oder Lächeln von ihr genügten, um Kriege zu beenden.“
Davon hätte man gerne mehr. So spricht der Nimmersatt. Tatsächlich beherrschen er und sein Co-Autor das wisecracking wie amerikanische PI-Autoren.
Und sicherlich wünschte ich mir einen intimeren Blick in die Tiefe seiner Gedankenwelt. Aber Belmondo spielt in seiner Autobiographie eben nur eine weitere Rolle, irgendwo zwischen Henri Verneuil und Philip de Broca, manchmal inszeniert von Jean-Luc Godard. Das Skript ist stilistisch lässig und ansprechend wie einer seiner mittelguten Filme; meinetwegen auch seiner besseren Filme, aber nicht so gut wie seine besten.
Für die eitlen und erfolgreichen Machwerke der späten 1970er und frühen 1980er hat Belmondo eine schlicht entwaffnende Erklärung: „…der Film war bloß ein Vorwand, um es drei Monate lang in Venedig ordentlich krachen zu lassen.“
Besonders interessant ist für mich, was Bébel über die Arbeit mit Jean-Pierre Melville zu berichten hat; mit ihm hat er immerhin drei Filme gemacht, bevor es zum endgültigen Bruch kam, der fast bis zu Melvilles Lebensende andauerte. Was Belmondo über den Meister berichtet, wirft kein gutes Licht auf dessen Persönlichkeit. Aber: „Er war einer der ganz Großen in der Branche, und seine Filme beweisen das.“
Und man erfährt, dass Melvilles Sonnenbrille eine Ray-Ban, Modell US Air Force, war! Für uns Jünger, Die Zeugen Melvilles, ist somit eines der zwanzig Mysterien des Meisters endlich erklärt. Alleine dieses Kapitels wegen ist das Buch für Melvilleaner unverzichtbar.
Alain Delon nennt er seinen Freund. Und das wars. Dabei hätte man gerne mehr erfahren, was diese beiden höchst unterschiedlichen Männer und zeitweilige Rivalen um die Publikumsgunst verbindet. Aber auch hier bleibt der Autobiograph diskret bis zur Bedeutungslosigkeit. Allerdings liefert er einige hochinteressante Details zu den Dreharbeiten von BORSALINO, die einmal mehr Delons Kontakte zur Marseiller Unterwelt belegen.
Am Ende ist man überwiegend froh, diese Lektüre genossen zu haben – bei allen Abstrichen. Etwas Belmondo ist immer besser als kein Belmondo. Im Gegensatz zu den meisten von uns, hat er sich nicht von seinen Hoffnungen tyrannisieren lassen – er hat sie einfach erfüllt. So der Subtext.
Und ich bin auch ungerecht: statt mich darüber zu freuen, was er offenherzig berichtet, bedaure ich jammernd all das, was er ausgelassen hat und nicht berichtet.
Filed under: Noir, NOIR-KLASSIKER, Pierre Mac Orlan, Porträt | Schlagwörter: Hafen im Nebel, Jörg Fauser, Jean-Pierre Melville, Klett-Cotta, Pierre Mac Orlan, poetischer Realismus
Das Lied ist fast so alt wie die Filmkunst selbst: seitdem Regisseure literarische Vorlagen verfilmen, klagen Autoren über die cineastischen Umsetzungen ihrer Bücher. Inzwischen ist es in Hollywood üblich Autoren den Zutritt zum Set während der Dreharbeiten vertraglich zu verbieten.
Als James Malahan Cain („The Postman Always Rings Twice“, „Double Indemnity“ usw.) einmal von einem ehrgeizigen jungen Reporter gefragt wurde, ob er nicht darunter leide, was Hollywood seinen Büchern angetan hat, deutete Cain mit dem Daumen auf das Buchregal hinter sich und knurrte: „Niemand hat meinen Büchern etwas angetan. Dort stehen sie genau so, wie ich sie geschrieben habe.“
Wie reagiert ein Autor, der bei einer Adaption seines Romans feststellen muss, dass der Regisseur weder Personen, Zeit noch Handlungsort beibehalten hat? Pierre Mac Orlan, bei der Premiere zu QUAI DES BRUMES, nach dem von ihm 1927 veröffentlichten Roman, zu Regisseur Marcel Carné und Drehbuchautor Jacques Prévert: „Großartig! Sie haben nichts beibehalten. Doch seltsamerweise findet sich der Geist meines Buches vollkommen in ihrem Film.“ Prévert revanchierte sich für die freundlichen Worte: „ Mac Orlan ist mehr als ein Meister des Abenteuers. Andere haben auch Geschichten von Korsaren und fahrendem Volk, von leichten Mädchen und schweren Jungen geschrieben… Er tut mehr, er umgibt seine Figuren mit einem Hauch von Tragik, Träumerei und Poesie. Er schildert Gefahr und Gewalt nicht um ihrer selbst willen, sondern um dem Schicksal auf die Spur zu kommen… Ein komischer Kauz, dieser Mac Orlan. Mir gefällt er.“
Der Film, der wohl einen Höhepunkt der französischen Filmkunst darstellt und neben Disneys SCHNEEWITTCHEN der erfolgreichste Film des Jahres 1938 in Frankreich war, tat Mac Orlan noch mehr gutes: er weckte neues Interesse an dem Autor, der zum ersten Mal in Vergessenheit zu versinken drohte.
Im deutschen Sprachraum sind bis in die 50er Jahre immer mal wieder einige Bücher von Mac Orlan erschienen, ohne das man ihn zur Kenntnis nahm.
Zu „französisch“ waren wohl seine poetischen Abenteuerromane, in denen melancholisch Geschichten von desertierten Fremdenlegionären, Versagern, den düsteren Bars von Montmartre und den Schänken mythischer Hafenstädte erzählt wurden. Der Klett-Cotta Verlag legte Ender der 1980er in der gewohnt sorgfältigen Aufmachung zwei Romane neu auf: den Klassiker HAFEN IM NEBEL, der ganz anders als der Film auch ein Sittenbild Montmartres in den 2oer Jahren ist, und den romantischen Spionageroman MADEMOISELLE BAMBù, der anders ist als alle Spionageromane.
Was Mac Orlan in Carnés Verfilmung wieder gefunden hat, ist der gleiche mitleidlose Umgang mit den Hauptpersonen in ihren schicksalhaften Verstrickungen und dieselbe unwirklich und doch realistisch anmutende, mythische Atmosphäre.
Diese Synthese aus realistischen Figuren aus einem wirklichen Milieu und die poetisch verklärende Betrachtung kennzeichnen eine der fruchtbarsten Epochen des französischen Kinos, die als „poetischer Realismus“ ruhmvoll in die Filmgeschichte eingegangen ist. Und die Tradition – in den 5oer Jahren als „Tradition der Qualität“ bezeichnet – wirkt bis heute im französischen Kino fort. Die Gangsterepen von Jean-Pierre Melville haben mehr mit dieser Tradition gemeinsam, als etwa mit den Gangsterfilmen Hollywoods.
Pierre Mac Orlan wurde am 26.2.1883 als Pierre Demarchais in Peronne an der Somme geboren. Er stammte aus ärmlichen Verhältnissen und musste sie Schule vor einem höheren Abschluss abbrechen, da die Familie ihn nicht länger durchfüttern konnte. Ruhelose Wanderjahre und bizarre Jobs kennzeichneten seine Jugend. Schließlich landete er im Mekka der Rumtreiber: in Paris. Damals das kulturelle Zentrum der Welt. Picasso, Apollinaire, Max Jacob, Utrillo, Matisse, Picabia, Modigliani, Andre Salmon, Gris, Derain, Cendrars, Van Dongen, Braque, Reverdy, Dorgeles, Carco trieben sich in den billigen Bars und Unterkünften herum. Später auf diese „große Zeit in Paris“ angesprochen: „An Hunger ist nichts romantisch.“
Er schloss sich diesen Künstlerkreisen an und fröhnte auf Montmartre einem fröhlichen Bohémienleben. Er war mit Apollinaire gut befreundet, arbeitete als Sänger, Chansonschreiber (später auch für Yves Montand) und Radrennfahrer, bevor er durch die Vermittlung seiner Freunde eine Chance als Journalist erhielt. Regionaler Ruhm kam bald durch seine humoristischen und satirischen Reportagen und Cartoons. Schließlich versuchte er sich auch als Romancier mit phantastischen und abenteuerlichen Sujets.
1913 heiratete er Marguerite Luc, mit der er bis zu ihrem Tod eine glückliche Ehe führte.
In seinem HANDBUCH FÜR ABENTEURER, 1920, führte er noch unter dem Eindruck des Weltkriegs aus, dass es zwei Arten von Abenteurern gibt: Die aktiven (Soldaten, Matrosen, Kriminelle etc.) und passive wie die Schriftsteller, die sich irgendwann entscheiden müssen zwischen leben und schreiben. Mit knapp über 60 Seiten gehört es zu den kürzesten Büchern von Mac Orlan, dessen Romane auch kurz gehalten waren (nie über 250 Seiten). Von seiner Einkehr in den Inner Space (um diese Kategorie aus der Science Fiction zu strapazieren) zeugt auch sein berühmtes Zitat: „Auf einem Schachbrett erlebt man mehr Abenteuer als auf allen Weltmeeren.“
Besonders Piratenromane hatten es ihm angetan und beeinflusst von Stevenson und Conrad schrieb er mehrere, in die er auch übernatürliche Elemente einbrachte und mit seinem Sinn fürs absurde die Genrekonventionen unterlief. http://weirdfictionreview.com/2012/02/story-to-comic-pierre-mac-orlans-roi-rose/
Nach dem 1.Weltkrieg, an dem er aktiv teilnahm, verwundet und ausgezeichnet wurde, konzentrierte er sich auf Malerei. 1918 reiste er als Korrespondent durch Deutschland, das er bereits in seiner Jugend besucht hatte. Als Romancier war er zu Beginn der 20er Jahre recht erfolgreich und verdiente genug, um seine Reiselust zu finanzieren. Er durchquerte England, Deutschland und Nordafrika, bevor er sich 1924 in Saint-Cyr-sur Morin niederließ. Dort lebte er bis zu seinem Tod 1970.
Er arbeitete gelegentlich als Journalist, interviewte Mussolini und war 1933 in Berlin während der Machtübernahme.
1950 schrieb er den letzten seiner 22 Romane (ohne seine sado-masochistische Erotika mitzuzählen). Er starb 1970.
Neben seinen poetisch realistischen Abenteuer- und Kriminalromanen hinterließ Mac Orlan auch bleibende Spuren in der französischen Phantastik. So etwa mit dem 1926 erschienen Roman MARGUERITE DE LA NUIT, der das Liebesthema des „Faust“ aufgreift und deprimierend pessimistisch behandelt. Der Roman wurde 1955 von Claude Autant-Lara mit Yves Montand in der Mephisto-Rolle, Michele Morgan als Gretchen und Terrence Hill, der damals noch Mario Girotti hieß, verfilmt. „Es gelang dem Autor eine realistische Geschichte mit Hilfe eines poetischen, fast übernatürlichen Stils umzusetzen“, sagte der Regisseur über die literarische Vorlage.
Auf eine ganz eigenartige Weise wirken Mac Orlans Geschichten um nächtliche Begegnungen gescheiterter Existenzen sehr zeitnah. Der zu früh verstorbene Schriftsteller Jörg Fauser, der mit ALLES WIRD GUT ein atmosphärisch ähnliches Buch geschrieben hat, hätte in Mac Orlan einen verwandten Geist gefunden. Vielleicht ist es das lähmende Gefühl in einer Sackgasse zu leben, was Mac Orlan so aktuell erscheinen lässt. Angesichts der ökologischen, ökonomischen und politischen zeitgleichen Katastrophen treffen Balladen von der „Unausweichbarkeit des Schicksals“ wieder einen Nerv. Seine Charaktere stehen in existentialistischer Tradition, in dem sie sich erfolglos aus der Vergangenheit lösen wollen um ein besseres Leben in der Gegenwart führen zu können.
Für den französischen Noir-Roman war er eine ganz zentrale Figur (bis hin zu Großmeister Francis Ryck) – aber das ist eine andere Geschichte. Zu seinen größten Fans gehörten der Begründer der situationistischen Internationale, Guy Debord, und Boris Vian.
HAFEN IM NEBEL. 111 Seiten. 1988.
MADEMOISELLE BAMBù., 200 Seiten, 1990.
Beide im Verlag Klett-Cotta, Stuttgart.
Beide übersetzt von Jü<rgen Ritte.
Die Bücher haben sich sogar damals so peinlich schlecht verkauft, das der Verlag weitere Werke Mac Orlans nicht mehr kalkulieren wollte oder konnte.
Filed under: Alain Delon, Film, Jean-Pierre Melville | Schlagwörter: Alain Delon, Film Noir, Jean-Pierre Melville, Noir
Nun ist er 75. Die Reise nähert sich ihrem Ende. Sein Engagement für Tiere hat mir immer gut gefallen: Einmal fand er auf der Strasse eine angefahrene Katze, in der kaum noch Leben war. Er ließ einen Hubschrauber kommen, flog mit ihr in ein Krankenhaus und ließ sie operieren. Seitdem lebt sie dreibeinig auf seinem Landsitz (den er inzwischen nur selten verlässt):
Was mir auch gut gefallen hat: Während der Affäre Markovich (Delons Leibwächter wurde ermordet aufgefunden) unterzog die Polizei Delon einem dreitägiges Verhör. Er sagte nichts.
Nachdem Hans Gerhold und ich Alain Delon zum 70.Geburtstag mit DARK ZONE (Strange Verlag, 2005; bei Amazon vergriffen, aber bei Fantasy Productions lieferbar)) gebührend gefeiert hatten, hier zu seinem 75.Geburtstag nur ein paar Gedanken zu Melvilles Delon-Trilogie:
In LE SAMOURAI zeigt Melville, dass für ein komplett gesellschaftliches Wesen (Jeff Costello) Liebe nicht mehr möglich ist, wenn es keine Konvention akzeptiert. In CERCLE ROUGE, dass Freundschaft eine der wenigen Möglichkeiten zur Integrität in der bürgerlichen Gesellschaft ist, aber die individuelle Vernichtung nicht aufhält. In UN FLIC ist Liebe und Freundschaft nur möglich, wenn die christlichen und bürgerlichen Moralvorstellungen missachtet werden.
Delon macht in diesen drei Filmen eine Sozialisation vom unvermittelbaren Außenseiter zum zynischen Bollwerk des Systems durch.
1966 klappte es endlich mit Melvilles Zusammenarbeit mit Alain Delon. Delon hatte schon früher Angebote erhalten, diese aber immer wieder zurückgewiesen „weil er sich auf eine amerikanische Karriere vorbereiten wolle“. Jedenfalls wird Delon noch heute dem Himmel dafür danken, die Rolle des schizophrenen Killers Jeff Costello im SAMOURAI angenommen zu haben. Die Dreharbeiten fanden von Juni bis August 1967 statt und es war der letzte Film, der im Studio Jenner gedreht wurde. Mit LE SAMOURAI beginnt Melville seine Farbästhetik zu entwickeln. Die Farben werden – anders als etwa in LAINE DE FERCHAUX – von nun an immer kälter. Der SAMOURAI wirkt trotz seiner eiskalten Inszenierung noch vergleichsweise warm, wenn man ihn mit CIRCLE ROUGE oder dem stählernen FLIC vergleicht. Es ist soviel über diesen Film geschrieben worde, daß ich an dieser Stelle nur ein weiteres mal Hans Gerhold zitieren möchte:
„LE SAMOURAI ist die ästhetische Vollendung des französischen Unterweltfilms, ein Werk, das in seiner rigorosen Stilisierung fast etwas Abstraktes hat: Kino in Reinkultur, daß seine Vorbilder überwand und in der Perfektion seiner Inszenierung nur noch auf sich selbst verweist. Dieses elegische Requiem für einen Killer überzeugt nicht nur als Studie über Einsamkeit und Entfremdung; es ist zugleich, durch rauschhafte Schönheit und Transponierung musikalischer Bilder und Töne in erlesenen Einstellungen, Inkarnation dieser Isolation. In der Unvermeidbarkeit aller Situationen einer antiken Tragödie verwandt, bildet dieses Experiment mit Kunstfiguren den gelungenen Versuch, fortschrittlichste ästhetische Formen am Beispiel einer Gangstergeschichte in populäre Kino- und Erzählmuster umzusetzen.“
Melvilles Determinismus führt Costellos Ausbruchsversuch aus sich und seiner Welt durch die Emotion der Liebe direkt in den Tod.
Nach dem SAMOURAI folgte der Résistance-Epos L’ARMÉE DES OMBRES, abermals mit Ventura, mit dem er sich gleich zu Beginn der Dreharbeiten so zerstritten hatte, daß die beiden Männer drei Monate nicht miteinander redeten. Von Januar bis Abril 1970 drehte er LE CIRCLE ROUGE, der die Schraube der Hoffnungslosigkeit noch weiter anzieht. Im SAMOURAI war für Delon als Killer Jeff objektiv die Liebe möglich – ohne daß er dazu in der Lage war, sie anzunehmen. Im CIRCLE ROUGE gibt es keine Liebe mehr, stattdessen aber Freundschaft unter den Außenseitern, die der rote Kreis zusammenführt. Auch hinter der Kamera dieses Freundschafts-Epos hielt Melville an seinem Ethos fest. Howard Vernon: „Bei CERCLE ROUGE wollte er mich wieder als Sprach Coach für eine englische Fassung des Films Haben (wie zuvor in L’ARMÉE DES OMBRES). Meine Rolle bestand darin, den Schauspielern zu sagen: Mach‘ da im Englischen eine Pause, mach diese oder jene Mundbewegung… Natürlich ist diese englische Fassung nie herausgekommen. Ich war damals in einer finanziell schwierigen Lage. Ich sagte zu Melville: Du weißt genau, daß man diese Faßung nie verwenden wird, du willst mir nur etwas Geld zukommen lassen. Er stritt das natürlich ab, aber genauso verhielt es sich: er hatte ein Riesebudget und wollte mir helfen. Ich hatte in seinem erfolgreichen Erstlingsfilm mitgewirkt; er fühlte sich mir immer verpflichtet.“
Wie Delon auch aus unerfüllter Liebe im SAMOURAI den Tod wählt, so sterben er, Volonte und Montand im CIRCLE ROUGE auch aus Freundschaft zueinander.
Dieser Film ist noch pessimistischer und im Gegensatz zu Jeff Costello, der von der Liebe zur Sängerin überrascht wird, scheint die Zeit für die Gangster im Roten Kreis von Anfang an abgelaufen zu sein. Melvilles Determinismus drückt sich in den Worten des Polizeipräsidenten aus: „Es gibt keine Unschuldigen. Die Menschen sind Verbrecher. Sie kommen unschuldig auf die Welt, aber sie bleiben es nicht.“ Ein Satz, der aus der hoffnungslosen Literatur Célines stammen könnte. Melville beklagte sich nach den Dreharbeiten über das stupide Verhalten von Volonte und die Unfähigkeit seiner technischen Crew, die dazu führte, daß er an diesem Film länger als erwartet arbeiten mußte. Er wurde müde, aber zwei Jahre später nahm er doch wieder alles auf sich, um sein ästhetisches Konzept noch weiter zu treiben und mit UN FLIC seinen pessimistischsten Film zu drehen.
Noch einmal trafen sich die Gangster in einem heruntergekommenen Haus, hinter dem aber bereits die neuen, häßlichen Betonsilos hochgezogen wurden. Melville war auch ein Chronist des Niedergangs von Paris. UN FLIC entstand, als am Montparnasse die Baugrube für Europas größten Wolkenkratzer ausgehoben wurde. Das Ende einer Epoche. Auch das Ende für Melvilles Gangster, diesmal von Richard Crenna gespielt. Nicht von Ungefähr spielte Delon in diesem Film einen roboterhaften Polizisten, der durch Folter und Technologie dem Gangster Crenna überlegen ist. Nicht von ungefähr beraubt Crenna in einem der genialsten Coups der Filmgeschichte einen Angehörigen des Organisierten Verbrechens, das sich in der bürgerlichen Gesellschaft integriert hat.
(dies ist ein Auszug des Melville-Textes in 2000 LIGHTYEARS FROM HOME-Essays zur populären Kultur (BoD, 2010)