Martin Compart


PARIS – EIN FEST FÜRS LEBEN: TARDIS „BURMA“ by Martin Compart
15. November 2021, 12:24 pm
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Nestor Burma ist wahrscheinlich Frankreichs bekanntester Privatdetektiv und das geistige Kind des französischen Noir-Klassikers Leo Malet. Seit Jahrzehnten treibt er sich in seinem Heimatland durch alle möglichen Medien. Erstmals tauchte Burma 1943 in „120 Rue de la Gare“ auf (m.E. der beste Roman mit Burma).

Malets „Neue Geheimnisse von Paris“ (angelehnt an Eugene Sue) waren eine Zeitlang auch bei uns sehr populär. In diesen 15 Romanen durchwanderte Nestor Burma Band für Band die Arrondissements von Paris. Richtig warm geworden bin ich mit Malets Burma-Romanen nie; im Gegensatz zu seiner „Schwarzen Trilogie“. Stilistisch erinnerten sie mich zu stark an Peter Cheyneys Lemmy-Caution-Abenteuer, die bis in die 1960er Jahre ungeheuer populär in Frankreich waren; man denke nur an die zahlreichen Eddie Constantine-Verfilmungen.

Ihr ganzes Potential wurde erst in den Adaptionen durch Jaques Tardi deutlich (siehe dazu auch https://www.tagesspiegel.de/kultur/comics/klassische-kombination-schwarz-weiss-tot/27568546.html oder http://www.kaliber38.de/woertche/coc0696.htm ). Die große Kraft und Schönheit von Tardis graphischer Umsetzung ließ Paris lebendiger werden als die Romanvorlagen. Überhaupt gibt es wohl keinen zeitgenössischen graphischen Künstler, der die Faszination des einstigen Paris eindrucksvoller einfängt als Tardi.

Dankenswerter Weise brachte nun die großartige Editon Moderne alle Malet-Adaptionen von Tardi (es fehlt Tardis Burma-Graphic Novel „Blei in den Knochen“, zu der er das Scenario selbst geschrieben hatte und keine Malet-Adaption ist) in einem qualitativ hochwertigen, voluminösen Band heraus, der jeden Noir- und Paris-Fan Freudentränen in die Augen treiben kann

Léo Malet, Jacques Tardi:
«Burma»
ISBN 978-3-03731-225-4
408 Seiten, s/w
MIT LESEBÄNDCHEN!
19 × 26 cm, Hardcover
mit vier verschiedenfarbigen Covers
Aus dem Französischen von Martin Budde, Kai Wilksen, Wolfgang Bortlik
39,00 €
EDITION MODERNE

Der von Tardi sichtbar beeinflusste Illustrations-Künstler Frank Schmolke (von ihm gibt es in der Edition Moderne drei unbedingt lesenswerte Comic-Alben) bringt diesen kilo-schweren Band, der sich bestens als Weihnachtsgeschenk für Comic- und Crime-Fans eignet, auf den Punkt:

„Tardis detaillierte Stadtansichten, Figuren, Autos und Sujets ziehen einen soghaft in die Zeit und die Handlung und sind für mich zeichnerisch unerreicht — so locker, und das über Jahrzehnte hinweg. Wie macht er das nur?
Tardi zeichnet mit Tusche, auf den Originalen sieht man selten eine Korrektur mit Deckweiss. Und — für mich das Sahnehäubchen: Tardi kann erzählen, und zwar nicht nur seine eigenen Geschichten, sondern eben auch jene von Léo Malet.
Tardi hat zig Krimiautoren adaptiert, darunter ausnahmslos Hochkaräter: Manchette, Legrand, Veran, Daeninckx, um nur einige zu nennen.
Die Kunst, eine komplexe Krimihandlung von 200 bis 500 Seiten in ein stimmiges Comicalbum von 80 bis 160 Seiten zu packen, ist ein weiteres Talent unter den vielen Skills, die Tardi so hat. Und nebenbei lässig Kette rauchen. Wer ihn mal gesehen hat, kann es spüren: Dieser Mann ist durch und durch Comiczeichner. Ein Freundlicher, ein Besessener, ein Meister!
Nun führt die Edition Moderne alle Malet/Tardi-Titel zusammen: Burma — was für eine Kraft, was für eine Kunst.“


https://www.arte.tv/de/videos/091549-000-A/graphic-novel-nacht-im-paradies-von-frank-schmolke/



KLASSIKER DES NOIR-ROMANS: LEO MALETS SCHWARZE TRILOGIE by Martin Compart
19. Januar 2019, 1:55 pm
Filed under: LEO MALET, Noir, NOIR-KLASSIKER, Politik & Geschichte, Rezensionen | Schlagwörter: , , ,


Jean Fraiger, der Ich-Erzähler des ersten Bandes, ist alles andere als ein sympathischer Zeitgenosse. Absolut asozial und voller Hass auf eine Gesellschaft, die ihn offensichtlich von den vollen Futterkrippen fernhält, hat er ihr den Kampf angesagt. Im Grunde hat er kleinbürgerliche Bedürfnisse und auch ein bourgeoises Normensystem verinnerlicht. Aber als ideologische Rechtfertigung für seine kurzfristige Bedürfnisbefriedigung hat er sich den Anarchisten angeschlossen, um dort als radikaler Anhänger der „illegalen Aktionen“ gewalttätige Umverteilung durch blindwütigen Aktionismus vorzunehmen.

Die blutrünstigen Aktionen reißen ihm bald sein Mäntelchen runter und schließlich verlässt er den mehr schlecht als recht gezimmerten ideologischen Überbau, um sich ganz seinen kriminellen Neigungen hinzugeben. Dabei natürlich immer auf der Suche nach dem bürgerlichen Paradies. Die jahrelang angebetete Frau, deren Bezugspersonen er mehr fahrlässig als geplant vernichtet, ist für ihn ebenfalls nichts anderes als Besitz.

Geradezu höhnisch führt Malet uns in seinem wahrscheinlich besten Buch vor, wie die anarchistische Bewegung der 20er und 30er Jahre am bürgerlichen Bewusstsein ihrer Anhänger scheiterte, was wohl vor allem Schuld des Flügels der „illegalen Aktion“ war. Parallelen zum Auseinanderbrechen der bundesrepublikanischen Linken in den frühen 70er Jahren drängen sich auf. Auch wenn bei der RAF, anders als bei Malets Helden, Mord und Zerstörung aus einem – wie auch immer gearteten – sozialen Engagement entstanden.

Die französische Kriminalliteratur, wurde schon sehr früh durch extreme Rebellion und anarchistische Elemente geprägt. Die Popularität des äußerst unbefriedigend sozialisierten Meisterdiebs Arsène Lupin Anfang des Jahrhunderts oder die anhaltende Verehrung für FANTOMAS, den nihilistischen Anarchisten schlechthin, haben ihre Spuren hinterlassen. Anders als die frühen angelsächsischen Verbrecherhelden, wie etwa Raffles, die gesellschaftlichen Normen akzeptierten, zeigten die französischen Anarchos eine tiefe Verachtung für die herrschenden Systeme.

In den 5oer Jahren, als Malet durch seine Burma-Romane als eine Art französischer Peter Cheyney galt, ging die französische Kriminalliteratur konservative Wege: auf der einen Seite wurde der Gangster als bürgerlicher Held romantisiert, auf der anderen Seite wandte man sich mit  Psycho-Thrillern der Innenwelt zu. Bei uns fast völlig unbeachtet, hatte sich seit den 7oer Jahren in Frankreich eine neue Garde von Autoren etabliert, die den französischen Kriminalroman mit schwarzer Weltsicht und literarischen Experimenten zu einer neuen Blüte gebracht haben. Der Dynamo dieser „neuen Welle“ war Jean-Patrick Manchette, der einige der bösartigsten Bücher der gesamten Kriminalliteratur geschrieben hat.

Aber der Großvater des französischen Noir-Romans ist, wenn man FANTOMAS als Urahn akzeptiert, Leo Malet – und zwar nicht mit seinen ungleichmäßig und oft, was man ihnen anmerkt, zu schnell geschriebenen Nestor Burma-Romanen, sondern mit seiner Schwarzen Trilogie, die er Mitte der 40er Jahre schrieb und nicht von ungefähr im Verlag „Scorpion“, in dem auch Boris Vian erschien, veröffentlichte.

Diese absolut schwarzen Bücher, voller Wut, Hass und einer seltsam berührenden Zärtlichkeit, gaben für die späteren Autoren den Ton vor und etablierten das Politische System endgültig und unwiderruflich als das Böse schlechthin. Das Böse, das auch kein Protagonist des Kriminalromans besiegen konnte.


Selbst der französische Film konnte seine Starvehikel davon nicht freihalten (man denke nur an den FALL SERANO oder I WIE IKARUS und…und…und… Ein Millionenpublikum goutierte diese Sicht der Gesellschaft – was einen Autor wie Manchette für viele Jahre das Schreiben aufgeben ließ, weil er seine politische Zielsetzung, die er mit dem Schreiben von Kriminalromanen verfolgte, durch Akzeptanz und Konsumierbarkeit in ihr Gegenteil umkippen sah.

Auf ästhetischer Ebene formulierte Malet einen ähnlichen Widerspruch, wenn er als ehemaliger Surrealist konstatierte, das sich das Romanschreiben nicht mit dem surrealistischen Programm vereinbaren ließe.

Erst nach den 68er Unruhen und der Neuveröffentlichung der Schwarzen Trilogie 1969 im Verlag Losfeld, brachen Manchette und bald darauf auch eine ganze Reihe junger, begabter Autoren strategisch auf, um den Schrecken der bürgerlichen Herrschaft auf allen Ebenen, psychologisch, emotional, politisch, aufzuspüren. Sie entkleideten Paris jeder Gemütlichkeit, ohne aber auf die Faszination dieses Schmelztiegels zu verzichten, stöberten in der Provinz die absolut bösartigen Regionaldespoten und Kinderschänder auf und zeigten mit geballter Faust auf den machtgeilen Kleinbürger. Voller Zorn zeigten sie, wie leicht man den Schritt ins Verbrechen tun kann und wie ehrenwert der Krieg gegen eine korrupte Ordnung sei. Sie brüllten Hass auf die Ungerechtigkeitsordnung in brillant geschriebenen und höllisch konstruierten Kriminalromanen heraus und schreckten auch nicht vor dem scheinbar Absurden zurück.

Eben all das, was sie in der Schwarzen Trilogie schon vorgefunden hatten, die nichts von ihrer Aktualität verloren hatte und so etwas wie ein Manifest des Schwarzen Romans ist. Die Trilogie ist aktuell, indem sie am Anfang einer literarischen Strömung steht, die weiterhin fortwirkt. Sie ist auch in ihrem modernen Sprachgebrauch aktuell und liest sich fast so, als wäre sie heute geschrieben. Die schwarzen Nächte der Außenseiter unterscheiden sich wohl gegenwärtig nicht von den dunklen Obsessionen der Getriebenen der 30er Jahre.

Malets Ambitionen waren gering, als er die Romane schrieb. In seiner Autobiographie STOFF FÜR VIELE LEBEN (Nautilis, 1990) bemerkte er dazu:

„Ich hatte keine besonderen Ambitionen, als ich diese Romane schrieb, ich wollte nur Gefühle oder Gedanken ausdrücken, die mich schon lange beschäftigten. Ein Krimi mit Nestor Burma war nicht das richtige Sprachrohr dafür. Ein Teil dieser Bücher ist relativ autobiographisch… Den Titel des ersten Romans der Trilogie, LA VIE EST DÉGUEULASSE meinte ich als Provokation. Das war ein Fehler, denn er schreckte die Leser ab. Die Leute wagten es nicht, den Buchhändler danach zu fragen… Am Anfang wollte ich den Abstieg eines Banditen mit Idealen (Bonnot) zum gewöhnlichen Verbrecher zeigen. Diese Sozialstudie verwandelte sich bald in die Darstellung eines Minderwertigkeitskomplexes. In beiden Fällen jedoch bleibt das Thema dasselbe, das Versagen. Im ersten Fall ist es das unfreiwillige Versagen der Illegalisten, die die ursprüngliche Reinheit ihrer Revolte nicht zu erhalten wußten. Im zweiten Fall ist es das freiwillige Versagen eines unbewußten Selbstmordkandidaten. Ich habe diesen zweiten Fall näher behandelt als den ersten, weil ich den Lockungen der Psychoanalyse nicht widerstehen konnte, die als Ermittlungsmethode alles in allem der der Romandetektive nahe steht.“

Was die deutsche Edition angeht: sie ist hervorragend. Blendend übersetzt und im ersten Band hat man auch nicht das Nachwort von Francis Lacassin, einem der Großmeister der französischen populärkulturellen Kritik, vergessen.

Das Leben ist zum Kotzen

Die Sonne scheint nicht für uns

Angst im Bauch.

Nautilus-Nemo Press. Deutsch von Sarah Baumfelder und Thomas Mittelstädt; Andrea Jossen.