Filed under: Crime Fiction, Golden Age, GUILLERMO MARTINEZ, Krimis, Krimis,die man gelesen haben sollte, Philosophische Fragen | Schlagwörter: Alex de la Iglesia, Der Fall Allice im Wunderland, Die Oxford Morde, GUILLERMO MARTINEZ, klassischer Detektivroman, Lewis Carroll, Oxford, Werner Heisenberg
Den angelsächsischen Kult um Lewis Carroll und sein Buch ALICE IN WONDERLAND fand ich nie sonderlich interessiert.
Das änderte sich umgehend, als Guillermo Martinez ihn zum Thema eines klassischen Detektivromans machte!
Sechzehn Jahre nach seinem ersten Detektivroman um den Oxforder Mathematik-Professor ARTHUR SELDOM und seinem „Watson“, dem namenlosen argentinischen Studenten, erschien 2019 die lang ersehnte Fortsetzung, die umgehend mit dem NADAL-Preis ausgezeichnet wurde. Der erste Seldom-Roman war 2003 mit dem PLANETA-Preis ausgezeichnet worden.
Zusammen mit dem Erstling DIE OXFORD MORDE veröffentlichte der Eichborn-Verlag nun auch das Sequel, DER FALL ALICE IM WUNDERLAND.
Wie der Vorgänger spielt auch ALICE im akademischen Milieu von Oxford; ein klassischer Detektivroman im „Don-Stil“. Dieser „Don-Stil“ (auch „academic mysteries“, „Oxbridge Mysteries“ oder „dons´ delights“ genannt) bezeichnet klassische Detektivromane, in denen Autoren die Form dazu benutzen, neben der Rätselhandlung kultiviert über Literatur, Theater, Malerei oder Kunst und Gesellschaft zu plaudern.
Die Auflösung des Rätsels reflektiert den Bildungsstand. Das für derartige Highbrow-Themen bevorzugte Universitätsmilieu zwingt sich geradezu auf. Als Beginn dieses universitären Subgenre gelten Dorothy L.Sayers‘ GAUDY NIGHT (1935) und Michael Innes‘ DEATH AT THE PRESIDENT´S LODGING (1936).
Für die snobistischen Fans, die selbstverständlich den nicht bildungsfernen Schichten angehören, sind diese Don-Novels die höchste Ausformung des klassischen Detektivromans. Man hat ihn gerne auf sein logisches Existenzminimum reduziert und warf und wirft ihm nicht vorhandenen Realismus vor.
Dem könnte man mit Robert Graves und Alan Hodge entgegnen:
„Im Übrigen war es ebensowenig beabsichtigt, Detektivromane nach realistischen Maßstäben zu beurteilen wie die Schäfer und Schäferinnen auf den Gemälden Watteaus an zeitgenössischen Methoden der Schafzucht zu messen “(THE LONG WEEKEND, 1940).
DER AUTOR
Guillermo Martinez wurde 1962 in Bahia Blanca an der Atlantikküste Argentiniens geboren. Als Jugendlicher träumte er davon Tennis-Profi zu werden, aber Neigung und Begabung führten ihn zu Mathematik und Philosophie.
Nach seiner Promotion als Mathematiker arbeitete er als Postdoktorand am Mathematischen Institut der Universität von Oxford, das ihn sehr beeindruckte und zu seinen Detektivromanen anregte. „In Oxford ändert sich praktisch nie etwas. Menschen sterben, Menschen kommen und gehen, aber in Oxford bleibt alles beim Alten. Es ist Teil seines Charmes.“
Die düsteren Geheimnisse, verborgen in antiquierten Ritualen und verkrusteten universitären Strukturen, gaben den hier angesiedelten Detektivromanen häufig einen leichten Hauch von Gothic Novel. Denn man lebt hier mehr nach innen statt nach aussen.
Anschließend zog er nach Buenos Aires. 1982 veröffentlichte er sein erstes fiktionales Werk, den Erzählungsband LA JUNGLA SIN BESTIAS.
1989 erhielt er für den Kurzgeschichtenband INFIERNO GRANDE den „Premio Nacional Roberto Arlt“.
Es gibt wohl wenige lateinamerikanische Autoren, die nicht von Jorge Luis Borges beeinflusst sind. Auch für Martinez ist er von zentraler Bedeutung, wie er immer wieder verdeutlicht. Daneben nennt er als starke Einflüsse „Henry James, Thomas Mann, Jorge Luis Borges, Julio Cortázar, Witold Gombrowicz, Jean Paul Sartre, E. L. Doctorow, Patricia Highsmith, Dino Buzatti und natürlich den historischen Materialismus; die marxistische Betrachtung der Geschichte und Analyse der sozialen Kräfte.“
Und letztere macht ihn sogar sehr ärgerlich: „Im weitesten Sinn macht mich die Beständigkeit des Kapitalismus wirklich wütend, diese widerwärtige Maschine, die immer neue Armut erzeugt. Ansonsten rege ich mich nur über Bürokratie, argentinische Autofahrer und einige Literaturkritiker auf.“
Und wie hat die Mathematik sein Schreiben beeinflusst?
„Vielleicht bei der Präzision eines Plots, in der Auswahl der richtigen Worte, in der permanenten Korrektur des Textes, in der Suche nach einer bestimmten Transparenz der Prosa und in der Zielsuche nach Eleganz.“
DIE OXFORD MORDE
In den OXFORD MORDEN gelang es Martinez ein Axiom von Werner Heisenbergs Unschärferelation als Plotstruktur umzusetzen. Heisenberg behauptete, dass es unmöglich ist, ein Phänomen wirklich zu verstehen, da man bei der Analyse die Position die Quanteneffekte stört und damit auch die Funktion der Elektronen verändert. Genau das passiert im Roman durch die Anwesenheit von Professor Seldom und dem Ich-Erzähler.

Guillermo Martínez
DIE OXFORD-MORDE
Kriminalroman
Übersetzt von Angelica Ammar
An einem lauen Sommerabend in Oxford findet ein argentinischer Mathematik-Doktorand die Leiche seiner Vermieterin. Kurz darauf geschehen weitere Morde, und kein Geringerer als Arthur Seldom, der berühmte Professor für Logik, erhält jedes Mal eine Nachricht mit einem rätselhaften Symbol. Schnell ist klar: Wenn sie den nächsten Mord verhindern wollen, müssen Seldom und der junge Doktorand die logische Reihung der Symbole entschlüsseln …
Eichborn Verlag; Paperback 14,00€;eBook 9,99.
Martinez hat den klassischen Detektivroman zugleich bestätigt und innoviert.
„Meine Absicht war es, ein Genre zu retten, das als veraltet galt. Das ist für einen Autor eine große Herausforderung. Ich glaube nicht besonders an die Theorien, die über den Noir-Roman und über die geringe Kunstfertigkeit des Rätselromans kursieren. Ich denke, dass es in jeder Literaturform Kunstfertigkeit geben kann, und ich denke, dass der Rätselroman ein Genre ist, das so edel ist wie jedes andere. Vorausgesetzt, man leistet, was Borges verlangt hat: Über die Regeln hinauszugehen. Das habe ich versucht. Der klassische Detektivroman eignet sich sehr gut, um über Erkenntnistheorie und Philosophie zu reflektieren.“
Schon im Golden Age hatte man Parallelen zwischen dem Detektivroman und mathematischen Gleichungen gezogen. Martinez gehört zu den Mathematikern, die darüber hinaus auch Vergleiche zur Poesie ziehen. „Mathematik ist eine kreative Tätigkeit, die der Poesie nahesteht, der Schönheit in den Symmetrien nahekommt und wunderbare Wurzeln in der Philosophie hat. Nur wenige Dinge sind so humanistisch wie die Mathematik.“
Dem Roman vorausgegangen war ein fehlgeschlagenes Experiment. Man hatte Martinez gebeten, für eine Internetseite einen Roman in Episoden oder Fortsetzungen zu schreiben. „Ich musste sofort an Sherlock Holmes denken, der ja ganz ähnlich erstveröffentlicht wurde in Magazinen. Ich versuchte eine neue Version eines logisch denkenden Detektivs, der mathematisch dachte. Nach dem ersten Kapitel, bzw. der ersten Folge, wurde das Projekt aus finanziellen Gründen abgebrochen. Da saß ich nun mit dem Anfang eines neuen Romans und entwickelte ihn weiter.“
Daraus wurde dann DIE OXFORD MORDE.
Man hat dem Buch einige Fehler vorgeworfen. Etwa, dass englische Polizisten keine Schusswaffen dauerhaft mit sich führen dürfen, schon gar nicht, wenn sie nicht im Dienst sind; dass das Gesundheitswesen falsch dargestellt ist und dass die meisten Engländer nachts die Vorhänge zu ziehen.
Wen interessiert das im Zusammenhang mit einem klassischen Detektivroman, der keinerlei Anspruch auf naturalistisches Erzählen erhebt?
DIE OXFORD MORDE wurde ein Welterfolg und ist bisher in 26 Sprachen übersetzt. Ebenfalls erfolgreich war die Verfilmung durch Alex de la Iglesia mit John Hurt und Elijah Wood.
„I liked most of the movie. The actors were superb, John Hurt did a great job, and I also liked Elijah Wood very much. I think that the movie followed the main lines of the novel, with some variations, many of them ruled by film constrains and simplifications. But in general, I do think that it is quite faithful to the spirit of the novel.”
Der Regisseur sagt über diesen wunderbaren Film und die gelungene Adaption:
„It’s strange because at the beginning, I read a bad review in a Spanish newspaper, so I remembered thinking, ‘Maybe it’s a good novel.’ And I read it and my first idea was it’s impossible to make a movie with this novel because it’s only mental, there’s no action. Everything happens in the brain. Maybe one year later, Gerardo [Herrero], my producer, called me and told me, I read the novel, I loved the novel, I bought the novel. It’s the Guillermo Martinez novel. What do you think? And suddenly I felt that this was a challenge for me. How can I tell the story visually? It was a real exciting exercise for me and an English movie with English actors — it was like an exam. Can I do it in a real way? Can I make a British movie? I enjoyed doing it and I think the results are really positive… Well, in the script, we changed mathematics for philosophy, so [the characters] are talking about philosophers. In the novel, Guillermo talks about Wittgenstein, but we wanted to make the part bigger because for me, he’s the great thinker. I remember studying philosophy and not understanding anything about [Wittgenstein’s sole book] TRACTATUS. I read it when I was 18 years old. And Wittgenstein worked on TRACTATUS when he was in the first World War, not in the middle of battle, but in the trenches.”
In beiden Romanen wird die Geschichte von einem namenlosen Ich-Erzähler berichtet, von einem argentinischen Studenten (erst Doktorand, im zweiten dann Postdoktorand) Anfang zwanzig. Das Alter-Ego des Autors? „Sicher. Wenn der Erzähler zum Beispiel zu sich selbst sagt: `Die einzige Entschuldigung für Gott ist, dass er nicht existiert´.“
Arthur Seldom ist den Denkmaschinen des Golden Age nachempfunden, eine Oxforder Mathematik-Koryphäe und Autor eines Buches über Logik und Serienmörder, mehr interessiert an intellektuellen Puzzles als daran, Menschenleben zu retten. Aus mathematischer Perspektive betrachtet er die Röhren, Stollen und Querverbindungen, die unterhalb der Oberfläche verlaufen.
Eine bemerkenswerte Reinkarnation des „Great Detective“.
Mit dem Ich-Erzähler als Watson, der Seldom bewundernd assistiert, stützte sich Martinez bewusst auf die Struktur von Conan Doyles Holmes-Geschichten (wie es zuvor auch Umberto Eco in IM NAMEN DER ROSE getan hatte, mit dem die OXFORD MORDE mehrfach verglichen wurde).
Die Charakterisierungen des Personals hält sich in Grenzen, könnte flach wirken, wenn Martinez dies nicht mit seiner stilistischen Eleganz ausgleichen würde. Beides sind kurze Romane und wären durch intensivere Charakterauslotungen eher überfrachtet. Das hätte auch dem hohen Tempo geschadet. Denn es sind Page-Turner, die man in einem Rutsch lesen kann (Inzwischen leider sehr selten in allen Genres, und deswegen umso kostbarer). Die knappen Charakterisierungen passen bestens in dieses Konzept. Eine stärkere Gewichtung würde es untergraben und das kurzweilige Vergnügen lahmen lassen. Es sind Romane ohne Pathos, Psychologie und ohne überflüssiges Fett. Ein grandioser Mix aus Philosophie, Mathematik und Detektivroman, der den Leser bei aller Abstraktion auch emotional gefangen nimmt.
Die Plots sind herausragend, aber entscheidend ist, wie sie erzählt sind.
Übrigens erzählte Martinez in seinem Roman ACERCA DE RODERER (RODERERS ERÖFFNUNG), 1992, in gewisser Hinsicht die Vorgeschichte zu den Oxford-Romanen: Der Erzähler-Detektiv ist hier, kurz vor seiner Abreise nach Oxford, in einer Rückschau seines bisherigen Lebens. Er ist selbst hochbegabt, aber von jener „assimilierenden Intelligenz“, berichtet von seiner Begegnung mit dem Genie Roderer, der seinen Genius als Außenseiter lebt.
DER FALL ALICE IM WUNDERLAND
Lewis Carroll (1832-1898) war ein interessanter Mann, und sein Werk, das besonders Wirkung auf die Surrealisten ausübte, ist nach wie vor populär; in der angelsächsischen Welt gilt Carroll als Klassiker, der nicht nur James Joyce, Evelyn Waugh, Julian Barnes oder Stephen King inspirierte.

Guillermo Martínez
Der Fall Alice im Wunderland
Die ehrwürdige Oxforder Lewis-Carroll-Bruderschaft ist einer Sensation auf der Spur: Aus dem Tagebuch des weltberühmten Schöpfers von Alice im Wunderland ist eine bis dato verschollene Seite aufgetaucht, die Brisantes offenbart. Doch bevor die Bruderschaft den Fund veröffentlichen kann, geschehen mehrere Morde, die durch das literarische Universum von Lewis Carroll inspiriert zu sein scheinen. Auch in ihrem zweiten Fall müssen Logik-Professor Arthur Seldom und sein junger argentinischer Mathematik-Doktorand…
Eichborn Verlag, Paperback, 16,00 €; eBook,11,99 €
Neben seiner Schriftstellerei arbeitete er als Mathematiker, Diakon und Fotograf. Von den 3000 Fotografien, die er gemacht haben soll, überlebten nur etwa 1000. Von denen stellen 50% junge und – nach heutigen Maßstäben – sehr junge Mädchen dar. Er soll acht Sitzungen mit nackten Kindern inszeniert haben. Dieser „Carroll Myth“ ist der dunkelste Teil seines Schaffens. Es wird gemunkelt, dass er arme Frauen dafür bezahlt hat, ihre kleinen Mädchen für diese Fotoshootings zur Verfügung zu stellen.
Das Verhältnis zu Minderjährigen war historisch ein anderes als heute, wo man Carroll sicherlich als pädophil eingeordnet hätte. In dieser Epoche konnte man 12jährige Mädchen (ver)heiraten. „Es gibt einen Brief, den ich im Roman erwähne, den Carroll an einen Cousin schickte, der von einem 11-jährigen Mädchen besessen war. Darin rät er ihm, in eine andere Stadt zu ziehen und darauf zu warten, dass das Mädchen 12 wird.“
Auslöser der Handlung sind 1994 aufgefundene Aufzeichnungen zu den herausgerissenen Tagebuchaufzeichnungen von Carroll. Diese sollen Aufklärung über das Zerwürfnis zwischen Carroll und den Eltern von Alicia Liddle (seiner „Alice im Wunderland“) geben.
„Es war die Entdeckung dieser Papiere im Jahr 94, die mein Interesse auslöste. Genau ein Jahr nach der Handlung des vorherigen Buches. Und dass Carroll ein prominenter Repräsentant des Oxford-Universums ist. Für mich passte alles zusammen.
Als ich in Oxford lebte, besuchte ich einmal die Christ Church und dort sah ich das Porträt von Lewis Carroll. Ich wusste, dass er dort gelebt hatte, und es gibt auch einen Alice-Geschenkeladen, den ich besuchte. Während ich einige Notizen und Klappentexte über sein Leben las, fand ich ein Detail, das mich faszinierte: Seine Nichten und Enkelinnen befanden sich nach seinem Tod im Besitz von Carrolls privaten Tagebüchern und rissen verschiedene Seiten heraus. Insbesondere über das Zerwürfnis mit den Eltern von Alicia Liddle. Ein ständiges Thema unter Carrolls Biographen und Anhängern, die sich nicht darauf einigen konnten, was an diesem Tag passiert war. Das Merkwürdigste, was mich dazu inspirierte, diesen Roman zu schreiben, war die Tatsache, dass diese Frauen, die sehr religiös waren, für jede rausgerissene Seite eine Zeile auf ein Stück Papier geschrieben hatten, die 1994 gefunden wurden.“
An Material für die Recherche zu Carroll und ALICE war kein Mangel.
„Also habe ich recherchiert, wie ich es für keinen anderen Roman getan hatte. Gleichzeitig hatte ich so viel Material, dass die Gefahr drohte, den Roman in eine Akte mit Notizen zu verwandeln. Bei der Arbeit ist mir etwas passiert, das mir vorher noch nicht passiert war: Ich hatte mit einem falschen Schritt begonnen und sechs Kapitel geschrieben, die ich nach sechs Monaten komplett neu schreiben musste, weil sie nicht im richtigen Tempo der Geschichte waren. Ich musste den Protagonisten in den Mittelpunkt des Geschehens stellen und hatte dies zunächst nicht getan. Und ich war unsicher bezüglich der Besetzung der Verdächtigen. Ich wollte nicht, dass sie bloße Staffage waren, sondern dass jeder seine Persönlichkeit, seine Macken, sein öffentliches Leben, sein geheimes Leben hatte.“
Fazit:
Auch wer kein Freund klassischer Detektivromane ist, sollte die beiden Meisterwerke von Guillermo Martinez probieren. Sie zeigen, wieviel Substanz in ihm stecken kann.
Der klassische Whodunnit – in den 1980er- und 1990er Jahren zur modrigen Literaturleiche erklärt – hat in den letzten Jahrzehnten ein erstaunliches Revival erlebt.
Vielleicht doch nicht so erstaunlich:
Die Strukturen des Genres mit Amateurdetektiven als Protagonisten ähneln erstaunlich der neoliberalen Ideologie. Intellektuell sind diese tatkräftigen Ermittler den staatlichen Ordnungskräften überlegen. Ihr Erfolg verlangt ein möglichst autonomes Agieren, frei von staatlichen Beschränkungen (und lediglich in Notfällen verlangen sie dessen uneingeschränkte Unterstützung).
Das globale Plündern der Neo-Liberalen fällt zeitgleich mit dem Widererstarken des Genres zusammen. Das Unterbewusstsein macht keine Fehler (auch wenn manche glaubwürdig versichern, sie hätten keines).
Filed under: Golden Age, Sekundärliteratur | Schlagwörter: Golden Age, Klassischer Kriminalroman, Martin Edwards
Als goldenes Zeitalter der Kriminalliteratur bezeichnet man die Zeit zwischen den Weltkriegen, in der der klassische britische Detektivroman seinen Höhepunkt hatte, und sich in den USA die hard-boiled-novel entwickelte. Der Formenreichtum des Genres wird häufig unterschätzt und zumeist wird es lediglich mit dem Rätselkrimi gleichgesetzt.
Martin Edwards ist nicht nur ein glänzender Autor von Kriminalromanen (die häufig Strukturen des klassischen Detektivromans mit der düsteren Weltsicht des Neo-Noirs verknüpfen), sondern auch ein wahrer Afficionado des Genres. Rezensionen, Betrachtungen zur Kriminalliteratur findet man auf seiner amüsanten und informativen Homepage (mit Blog):
http://www.martinedwardsbooks.com/
Er hat sich über die Jahrzehnte einen Namen als einer der führenden Spezialisten für das „Golden Age of Detection“ gemacht, also die Zeit zwischen den Weltkriegen, die man als Hochzeit des klassischen britischen Detektivroman bezeichnet. Als Autor von Fiction und Non-Fiction wurde er häufig ausgezeichnet (das hier besprochene Buch gewann den Edgar der MWA, den Agatha-Award und den Macavity Award). Als einziger Mensch war er sowohl Präsident des Detection Clubs und Chairman des britischen Kriminalschriftstellerverbandes CWA. Seit 2014 ist er Mitherausgeber der Crime Classics-Serie der British Library, die auch alten Hasen neue Blickwinkel auf das Golden Age ermöglicht.
Bei der Dominanz des klassischen Whodunit wird leicht vergessen, wie viele Innovationen in dieser Epoche passierten, wie stilistisch unterschiedlich ihre Autoren arbeiteten und wie originell diese waren.
An Hand des ersten sozialen Netzwerks der Kriminalliteraten, dem Detection Club, erzählt Edwards vieles bisher Unbekanntes über die Epoche und die sie prägenden Figuren. Unbekanntes gilt nicht nur für die Hintergründe wichtiger Werke, sondern auch für ihre Autoren.
Er hat aufwendig und bemerkenswert recherchiert und ist tief in das Privatleben seiner Protagonisten eingedrungen. Er schildert auch die jeweiligen sexuellen und ideologischen Präferenzen und deren Einfluss auf die verschiedenen Werke.
Besonders interessant sind dargestellte wahre Kriminalfälle und welche Geschichten sie inspirierten (Poe war somit der erste Autor, der versuchte, die Hintergründe eines wahren Kriminalfalles aufzuklären: THE MYSTERY OF MARIE ROGET).
Auch feine Beobachtungen zu Sport und Sozialstruktur finden sich in dem Buch. Etwa der Einfluss von Cricket auf die bestimmende Ideologie des „fair play“ mit dem Leser und das daraus resultierende Regelwerk für die Autoren von Detektivromanen (einer der schon früh Regeln aufstellte war A.A.Milne, der geistige Vater von Winnie-the-Pooh und Autor eines einzigen Detektivromans, THE RED HOUSE MYSTERY, 1922, der schon parodistische Elemente über das Genre enthielt).
Wenn heute Serienfiguren ein komplexes Dasein führen und Entwicklungen durchlaufen, ist das ebenfalls einer Innovation des Golden Age zu verdanken: Dorothy L. Sayers war die Erste, die ihren Helden aus der Umklammerung des reinen Funktionsträgers mit der Psychologie einer mathematischen Formel löste und verändernde Erfahrungen durchlaufen ließ.
Selbst die Grundlagen für den Psycho-Thriller wurden damals von Anthony Berkeley Cox (und Marie Bellowc Lowndess und C.S.Forester) gelegt. Ebenso die Perspektiverweiterung vom Ermittler auf den Täter.
Bereits mit seinem überkandidelten (und zu Fehlschlüssen neigenden) „Helden“ Roger Sheringham sabotierte Cox die vom „great Detective“ behauptete Deutungshoheit des Systemrepräsentanten, der sogar noch über den staatlichen Institutionen steht.
Edwards räumt auf mit dem lange Zeit vorherrschenden Urteil, dass die Autoren des Golden Age allesamt mehr oder weniger reaktionär waren. Die Ausführungen über linkes Bewusstsein bei G.K.Chesterton oder das gewerkschaftliche Engagement der Coles ermöglichen andere Perspektiven.
Edwards differenzierte Betrachtung des Golden Age ist eine willkommene Ergänzung zu den bisherigen höchst kritischen Analysen oder apodiktischen Verteidigungen, da sie eine Vielzahl von Aspekten einschließt, die nie gewürdigt wurden.
Leider findet mein zweitliebster Golden-Age-Autor, Philip MacDonald, nur am Rande Erwähnung, da er gebürtiger Amerikaner war.
Das Golden Age mit seiner spielerischen Intelligenz und selbstrefentiellen Formverliebtheit hat nie aufgehört zu existieren – nicht in den 1950ern, wie oft behauptet. Immer wieder bringt der Typus vereinzelte Meisterwerke hervor wie zum Beispiel DIE PYTHAGORAS MORDE, 2003, des argentinischen Mathematikers Guillermo Martinez.
Ein großer Verdienst des Buches ist die Lust, die es weckt, um wieder al zu dieser Lektüre zu greifen. Jahrzehnte habe ich so gut wie keinen Golden Age-Krimi mehr in die Hand genommen. Beim Lesen des Buches entstand nebenbei eine Short-List von Romanen, die ich umgehend wieder- oder erstmals zur Hand nehmen werde.
Zuvor hatte Edwards schon das Kompendium THE STORY OF CLASSIC CRIME IN 100 BOOKS vorgelegt, das mir weniger gefiel. Die Vorgabe von maximal zwei Druckseiten pro besprochenem Buch reduzierte die Analyse häufig ins beliebige. Trotzdem gibt es auch in diesem Buch einiges zu entdecken.
Und falls Ihr das Gegenteil oder die sublimierende Ergänzung zu/von kultivierter Intelligenz sucht, empfehle ich selbstverständlich:
Filed under: Anthony Berkeley, Golden Age, Krimis,die man gelesen haben sollte | Schlagwörter: Anthony Berkeley, Golden Age, klassischer Detektiv-Roman, Krimis die man gelesen haben sollte
„Überall, vom politischen System bis zum menschlichen Körper, muß das Böse herausgeschnitten werden, bevor das Gute sich ausbreiten kann.“
„Ja. Ja, ich denke, das klingt vernünftig“ , sagte der Major.
„Absolut“, bekräftigte der Zivilist.
„Aber ich muss schon sagen, dass ich gerne jeden unredlichen Politiker in unserem Land erschossen sähe.“
„Bliebe dann einer übrig?“ fragte Ferrers lächelnd.
„Sie meinen, Sie könnten sich zum Richter über Leben und Tod machen?“ wiedersprach der Pfarrer.
„Warum nicht? Ich wäre ein guter Richter.“
Stammen diese Sätze aus einem zeitgenössischen zynischen Noir- oder Kriminalroman?
Nein. Aus dem ersten Kapitel eines britischen Klassikers von 1937, aus dem Golden Age. Aus einem der Meisterwerke eines der größten Innovators der gesamten Kriminalliteratur, Conan Doyle, Hammett, Cain oder Forsyth mit eingeschlossen. Nämlich aus TRIAL AND ERROR (DER VERSCHENKTE MORD)von Anthony Berkeley Cox.
Heute fast völlig in Vergessenheit geraten, war Cox der intelligenteste Schriftsteller, der je Detektivromane geschrieben hat und mit Sicherheit verkörpert er inhaltlich und stilistisch der Höhepunkt des Golden Age.
Er führte den formalen Rätselroman auf einen Höhepunkt und entwickelte aus ihm den modernen Kriminalroman. Seine Plots waren raffinierter als die meisten von Agatha Christie, seine Plaudereien so gebildet wie die von Michael Innes oder Nicholas Blake und stilistisch mag ich ihn lieber als Dorothy L.Sayers oder die hoch geschätzte Margery Allingham, da er eher mit P.G.Wodehouse, dem der Roman gewidmet ist, oder H.C.Bailey und sogar mit Chesterton vergleichbar ist. Jedenfalls was zynischen Witz angeht.
Mit Bailey verbindet ihn auch die oft amoralische Haltung und das geringe Vertrauen in staatliche Strukturen.
TRIAL AND ERROR nutzt die Elemente des klassischen Detektivromans nur da, wo Cox sie auf den Kopf stellen kann: Der todkranke Mr.Lawrence Todhunter will seinem Leben einen Sinn geben indem er einen Gesellschaftsschädling umbringt. Aber das richtige Opfer zu wählen, ist nicht ganz einfach. In einer Besprechung mit Freunden, die nichts von Todhunters Absichten ahnen, wird das Thema abstrakt diskutiert und Hitler und Mussolini als potentielle Opfer ausgeschlossen, da diese nur Spitzen ihrer Bewegungen seien und sofort durch andere ersetzt würden. Auch ein Zeitungsherausgeber, „der seine Leser absichtlich zu seinem eigenen Nutzen in die Irre führt“ scheidet aus mit der Erkenntnis „Würde das nicht alle Herausgeber betreffen?“
Trotzdem wird ein Opfer gefunden und ein Unschuldiger gerät unter Mordverdacht. Und nun beginnt die Coxsche Plotmaschine auf vollen Touren zu laufen. Etwa dadurch, dass Mr.Todhunter trotz alle Bemühen nicht dazu in der Lage ist, den Unschuldigen zu entlasten, und die eigene Schuld zu beweisen.
William B. Strickland bringt es in seinem Essay über Cox (in TWELVE ENGLISHMEN OF MYSTERY, Bowling Green University Press, 1984) auf den Punkt: „It is a mad tea-party of a book, with the inverted form combined with the puzzle, the courtroom drama with near farce, the novel of suspense with the comedy of P.G.Wodehouse.“
Cox´ Ansatz ist nicht nur zynisch oder ironisch, er interessiert sich wirklich für die moralische Dimension. Das Verbrechen ist kein blutloser Problemauslöser, sondern eine ernsthaft zu untersuchende Kategorie im zivilisatorischen Prozess.
Der 1893 geborene Autor kämpfte im 1.Weltkrieg in Frankreich an der Westfront, bis er durch einen Gasangriff invalid wurde. Wirtschaftlich nicht auf Überlebenssicherung durch Erwerbstätigkeit angewiesen, begann er eine Schreiberkarriere mit humoristischen Stücken für „Punch“ und andere Magazine.
1925 erschien sein erster Kriminalroman, THE LAYTON COURT MYSTERY, der auch der erste Roger Sheringham-Roman war. Seine ersten beiden Roman wurden anonym veröffentlicht. Zeit seines Lebens war Cox um Diskretion und Distanz bemüht. Um so verwunderlicher, dass er 1928 den legendären „Detection Club“ gründete um sich mit anderen Autoren zu treffen. Christianna Brand, ebenfalls Mitglied des Clubs und seine Nachbarin, schrieb über ihn: „Ein charmanter Städter, der cleverste von uns aber auch rücksichtslos und gemein.“ Seine Karriere als Kriminalliterat umspannte gerade mal 15 Jahre. Er war Bestsellerautor, aber durch Erbe und Herkunft nicht darauf angewiesen.
Nach seiner letzten Romanveröffentlichung lebte er noch 32 Jahre und schrieb als „Francis Iles“ einflussreiche Krimikritiken im „Daily Telegraph“ und in der „Sunday Times“. So wird ihm in dieser Funktion zugeschrieben, er habe als einer der ersten auf die Talente von P.D.James und Ruth Rendell hingewiesen. Nach zwei gescheiterten Ehen lebte er in einem Haus St. John´s Wood und ging täglich in sein Büro auf dem Strand, wo er als einer von zwei Direktoren der A.B.Cox Ltd. tätig war. Bis heute weiß niemand, was diese Firma getrieben hat. Very british.
Er starb 1971.
Von 1925 bis 1934 schrieb er seine Serie über den nicht unbedingt sympathischen und zur Selbstüberschätzung neigenden Amateurdetektiv Roger Sheringham, der nichts mit den übergescheiten Superdetektiven der Epoche gemeinsam hat, sondern Fehlschlüssen nachrennt oder sogar aus reiner Blödheit Tatorte verändert (JUMPING JENNY).
In dem unterschätzten Castaway-Krimi PANIC PARTY erahnt Sheringham zwar den Mörder, kann ihn aber nicht überführen. Beeinflusst wurde die Figur Sheringham durch E.C.Bentleys Trent, der als Gegenentwurf zum allwissenden Superdetektiv à la Sherlock Holmes konzipiert worden war.
Cox interessierte sich für echte Kriminalfälle und sein zweiter Roman, THE WYCHFORD POISONING CASE, 1926, war direkt beeinflusst von dem damals Aufsehen erregenden Florence Maybrick-Fall. Auch die Polizei, die im Vergleich mit dem Superamateuren fast immer dämlich erscheint, besteht bei Cox nicht aus Idioten, sondern ernsthaften Profis. Inspector Moresby ist ein weitaus besserer Ermittler als Roger Sheringham.
Im Gegensatz zu den ideologisch angepassten Autoren der Zwischenkriegsjahre ist der Mörder in Cox´ Geschichten nicht immer ein unsympathischer Regelbrecher. Manchmal ist er sogar ein Sympathieträger mit ehrenwertem Motiv. Er gehört also nicht zu der Vielzahl der Golden Age-Autoren, die gesellschaftliche Verhältnisse nicht hinterfragen. Damit ist er ein Vorläufer der kritischen Schule der 1950er Jahre, von John Bingham bis Julian Symons.
Eine Figur, die in mehreren Büchern – auch in TRIAL AND ERROR – auftaucht ist der unscheinbare Ambrose Chitterwick, der in den dem Sheringham-Klassiker POISONED CHOCOLATES (DIE VERGIFTETEN PRALINEN), 1929, die entscheidende Rolle spielt. Schon in der Sheringham-Serie wird deutlich, wie experimentierfreudig Cox die Formeln des klassischen Detektivroman durch Varianten aufbricht und manchmal die Grenzen durchstößt. Stil, Ironie und psychologischer Suspense werden ihm zunehmend wichtiger. Die Entwicklung hin zu den Francis Iles-Romanen erscheint folgerichtig.
Bereits 1930 hatte Cox im Vorwort zu THE SECOND SHOT geschrieben: „Ich bin davon überzeugt, dass die Tage des alten Krimi-Puzzles, rein und einfach, das nur von der Grundsituation ausgeht und bei dem es keine attraktiven Charaktere, Stil, ja nicht einmal Humor gibt, ihrem Ende entgegen gehen. Ich bin davon überzeugt, dass sie Detektivgeschichte dabei ist, sich in einem Roman mit detektivischen oder kriminallistischen Interesse zu entwickeln, wobei der Leser mehr durch psychologische als durch mathematische Probleme gefesselt wird. Das Puzzle-Element wird zweifellos bleiben, aber es wird eher ein Rätsel des Charakters als ein Rätsel der Zeit, des Ortes, des Motivs oder der Gelegenheit sein.“
Heute nennt ihn die Sekundärliteratur hauptsächlich wegen seiner Romane, die er unter dem Pseudonym Francis Iles schrieb. Mit MALICE AFORETHOUGHT, 1931, und BEFORE THE FACT, 1932, entwickelte er aus der „inverted story“ den modernen psychologischen Kriminalroman. Ohne seine Pionierarbeit wären z.Bsp. Patricia Highsmith, Boileau/Narcejac oder F.J.Bardin nicht denkbar. Dies war wohl seine wichtigste Innovation. Der erste Roman ist aus der Täterperspektive geschrieben, der zweite aus der des Opfers. Die Opfer/Heldin ist so dämlich, dass der Leser sie am liebsten selber umbringen würde. Joy Fielding & Co verdanken diesem Roman alles – bis hin zu den unerträglich blöden Heldinnen, die wohl nur noch von der Blödheit ihres Publikums übertroffenen werden.
Der Snob Berkeley verachtete sein Publikum. Er lässt seinen Roger Sherinham, der wie sein Erfinder zum Bestsellerautor aufstieg, sagen, er verdanke seinen Erfolg lediglich der Dummheit seiner Leser.
Alfred Hitchcock ruinierte die Verfilmung von BEFORE THE FACT als SUSPICION durch ein völlig anderes Ende, da er Cary Grant nicht als psychopathischen Mörder vorführen wollte. Der völlig überschätzte Alfred hatte zuvor bereits John Buchans 39 STEPS in den Sand gesetzt.
1939 erschien ein dritter Iles-Roman, AS FOR THE WOMAN, mit einer vergleichbaren Ausgangsidee wie DOUBLE INDEMNITY. Nur zeigte Cox dem guten James Malahan Cain, wie man alles aus einem Plot rausquetscht. Sein Verleger lehnte das Buch mit der Begründung ab, es sei zu „sadistisch“.
Einschränkend zu der Iles-Innovation durch MALICE AFORETHOUGHT muss man sagen, dass C.S.Forester, bevor er Hornblower erfand, mit PAYMENT DEFERRED dessen Plotstruktur schon 1926 vorweg nahm. Und das mit beeindruckender Konsequenz.
Man sollte auch Marie Belloc Lowndess erwähnen, die bereits 1913 mit ihrem berühmtesten Werk, THE LODGER (DER UNTERMIETER), auf den modernen Psychothriller hinwies.
Das Pseudonym „Francis Iles“ basierte auf einem von Cox Vorfahren mütterlicherseits, der seinen Lebensunterhalt als Schmuggler bestritt.
Boileau/Narcejac würdigten MALICE in ihrem Buch DER DETEKTIVROMAN (Luchterhand, 1967) als ersten organisch vollkommenen Kriminalroman: „Weil er uns ein Schicksal erzählt; weil sich Intelligenz und Fatalität so eng miteinander vermischen, dass der Autor wie ausgeschlossen von den Ereignissen scheint, die er berichtet.“
…sich also nicht der Formelhaftigkeit des klassischen Detektivromans unterwirft.
Der große Erfolg von Berkeley in den 1930ern begründet sich auch auf seinen freizügigen Umgang mit Sexualität. Nach heutigen Maßstäben ist das alles harmlos, aber im Gegensatz zu den meisten Golden Age-Autoren steckte er nicht bis zur Kinnlade im Sumpf viktorianischer Sexualmoral.
Auffällig ist eine Parallele zu den amerikanischen Hardboiled-Vettern, die in ihren Geschichten gerne Männer der Mittelklasse unter der Lust und Sexualität destruktiver Frauen leiden ließen. Bei Berkeley sind es natürlich Männer der Oberschicht. Aber auch sie sind den Gemeinheiten bösartiger Frauen ausgesetzt, die Berkeley als ruchlose Erpresserinnen brandmarkt (und ihr tödliches Schicksal verdienen; daran lässt er keinerlei Zweifel).
Deutsche Ausgaben erschienen bei Heyne und Diogenes.
Filed under: Bücher, Crime Fiction, Geoffrey Household, George V.Higgins, Golden Age, Ian Fleming, James Bond, Jim Thompson, Krimis, Krimis,die man gelesen haben sollte, Noir, Rezensionen, tim willocks | Schlagwörter: 007, Agatha Christie, Crime Fiction, Eric Ambler, Geoffrey Household, George V.Higgins, H.C.Bailey, Ian Fleming, Irvine Welsh, James Bond, James Hadley Chase, Jim Thompson, Krimis, Len Deighton, Nicholas Blake, Noir, Rex Stout, Thriller, Tim Willocks
In Zeiten von Corana hat man Zeit genug, um mal wieder einige Genre-Klassiker zu lesen (oder sie gar zu entdecken). Deshalb hier nochmals meine kleine Auswahl von Büchern, die in der Kriminalliteratur tiefe Spuren hinterlassen haben und außerdem höchst unterhaltsam sind.
Klassiker, die jeder Krimi-Fan in seiner Basis-Bibliothek haben sollte. Zwar sind einige Titel nicht mehr lieferbar (Schande über die Verlage), aber im Internet oder Antiquariaten sind sie leicht auffindbar, da sie meist in verschiedenen Ausgaben und hohen Auflagen veröffentlicht wurden. Es geht quer durch alle Subgenres der Kriminalliteratur.
DIE MASKE DES DIMITRIOS von Eric Ambler
Dimitrios hat es endlich erwischt!
Keiner weint dem Gangster und Terroristen eine Träne nach, als man seine Leiche aus dem Bosporos zieht. Lang genug grub sich seine blutige Spur quer durch den Balkan. Der englische Krimiautor Latimer ist von Dimitrios‘ Lebensgeschichte so fasziniert, dass er sie rekonstruieren will und damit eine Reise durch die politische Hölle Osteuropas in den 1920er- und 30er Jahre beginnt.
Ambler verschachtelt komplexe Handlungen, zeitgeschichtliche Dokumente und Rückblenden zu einer atemberaubenden Menschenjagd. Seine Prosa ist ungemein modern in ihrer Effektivität. Aber dem Leser bleibt keine Zeit, die Qualität des Stils zu bemerken, denn die Story jagt mit hohem Tempo auf ihr dramatisches Finale zu.
„Ich hatte Schwierigkeiten mit Dimitrios. Ich wußte, dass es etwas ganz Neues sein würde und dass ich nur das Beste abliefern dürfte“, schrieb der 1998 verstorbene Autor in seinen Memoiren.
Großkaliber wie John LeCarré, Gavin Lyall, Len Deighton oder Ross Thomas wären ohne die Innovationen von Ambler nicht vorstellbar. Er verband den Spionageroman mit politischer Aufklärung und machte zeitgleich mit Graham Greene ein eigenes Genre daraus. Und da sein politisches Bewusstsein immer auf Weitwinkel eingestellt war, erklärte er in seinen 19 Romanen dem Leser die Welt hinter den Schlagzeilen. Immer nach der Devise: Es kommt nicht darauf an, wer die Pistole abfeuert, sondern darauf an, wer die Schützen bezahlt.
Amblers Romane sind auch Handbücher für Putsche, Revolutionen oder Kriege. Die perfekte Synthese aus Roman und Sachbuch. Darüber hinaus wüssten wir ohne seine Osteuropa-Thriller noch weniger über den Balkan – was ihn gerade heute wieder aktuell macht. Mehr als einmal stockt man bei der Lektüre des 1939 erschienen Romans und erkennt Parallelen zur Gegenwart.
Eric Ambler: Die Maske des Dimitrios. Erstmals ungekürzte Neuübersetzung. Diogenes Verlag.
DIE HOTTENTOTTEN-VENUS von H.C.Bailey
Wenn man bei uns an die großen Detektive des Golden Age denkt, fällt den wenigsten der Name Reggie Fortune ein. Obwohl einer der wahren Giganten des Genres, wurde er bei uns lediglich durch eine inzwischen viel gesuchte Publikation in der frühen
Rowohlt-Thrillerreihe veröffentlicht
Bailey (1878-1961) war einer der Großmeister der klassischen Detektivgeschichte um den Great Detective und sein Held Reggie Fortune steht ganz in der Tradition der exzentrischen Amateurdetektive. Er ist dick, gemüt-humorvoll und faul.
Er liebt große Autos, gutes Essen, gute Getränke und Varieteegirls. Er kann ungeheuer sentimental sein, aber auch wütend und bösartig.
Baily hetzte das Dickerchen durch 85 Kurzgeschichten und neun Romane. Dabei erschrieb er der Form eine menschliche, ethische und moralische Dimension, die einigen Kritikern sogar als Chesterton überlegen gilt.
Daneben verdient Bailey auch für einige der ausgeklügelsten und spannendsten Geschichten gepriesen zu werden, die zusammen mit der Dreidimensionalität der Charaktere und dem feinen Gespür für Atmosphäre zum Allerbesten der Gattung zählen.
Anders als seine zeitgenössischen Kollegen, verachtet Fortune, bzw. Bailey, den Snobismus der Oberschicht, die Klassenstrukturen der britischen Gesellschaft zwischen den Weltkriegen. Durch seine starke Empathie wird er oft emotional in die Fälle verwickelt – für die großen Detektive des Golden Age meist etwas unvorstellbares. Und der kleine Fettsack Reggie hat natürlich auch seine eigenen Vorstellungen von Gerechtigkeit, die sich nicht unbedingt mit dem Strafgesetzbuch decken müssen.
Um all seinen literarischen Ansprüchen zu genügen, schrieb Bailey relativ lange Kurzgeschichten, da er weder auf sorgfältige Charakterisierung, noch auf Atmosphäre verzichten wollte.
Es war dem Diogenes Verlag mal wieder zu danken, dass er diesen Klassiker ausgegraben hat. Aber leider hat das auch Wermutstropfen: dies ist der einzige Band mit Fortune-Geschichten und Bailey ist noch weit von seiner Bestform entfernt (allerdings zwingt sich beim Lesen auch manchmal der Verdacht auf, dass man die Stories etwas flüssiger hätte übersetzen können).
Dieser Klassiker macht deutlich, was wir heute beim Lesen zeitgenössischer Kriminalliteratur zu oft vergessen: welch ungeheures Vergnügen die wirklichen Meister des Golden Age bereiten können! Leider blieb es bei dem einen Band im Diogenes Verlag. H.C.Bailey wartet nach wie vor auf eine gepflegte deutsche Veröffentlichung. Die besseren Geschichten findet man im Rowohlt-Band, der Bailey auf der Höhe seines Könnens zeigt.
H.C.Bailey: Die Hottentotte-Venus (CallMr.Fortune,1920).Diogenes Verlag.
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MEIN VERBRECHEN von Nicholas Blake
„Ich will einen Menschen töten. Ich weiß nicht, wie er heißt, ich weiß nicht, wo er wohnt, ich habe keine Ahnung, wie er aussieht. Aber ich werde ihn finden und ihn töten…“
So beginnt der 1938 erschienen Kriminalroman THE BEAST MUST DIE von Nicholas Blake, der neue Akzente setzte, von Claude Chabrol verfilmt wurde und noch heute gierig verschlungen werden kann.
Blake wich mit diesem Buch von seinen sonstigen Detektivromanen über Nigel Strangeways, die voller literarischer Anspielungen sind, ab. Indem er die Perspektive eines rächenden Vaters, der den Mörder seines Sohnes sucht um ihn zu töten, wählte, schrieb er einen psychologischen Thriller und keinen klassischen Detektivroman.
Auf die Idee kam er, als sein kleiner Sohn fast überfahren wurde.
Der erste Teil wird von Felix Lane erzählt, einen Krimiautor, dessen Sohn tödlich überfahren wurde. Brillant ist die Detektivarbeit von Lane, mit der er die Identität des Fahrerflüchtigen ermittelt.
Cecil Day Lewis(1904-72), der Vater des Schauspielers Daniel Day Lewis, war Kommunist und ein bewunderter Lyriker, als er 1935 unter dem Pseudonym Nicholas Blake Kriminalromane zu schreiben begann.
Der Grund?
Er brauchte Geld um sein Dach reparieren zu lassen. Es folgten 15 höchst originelle Kriminalromane, die oft die Formel des klassischen Detektivromans durchbrachen und originelle Milieus und Charaktere in den Mittelpunkt stellten.
Nicholas Blake: Mein Verbrechen. Diogenes Verlag, 1995.
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KEINE ORCHIDEEN FÜR MISS BLANDISH von James Hadley Chase
Das Geburtsjahr des britischen Noir-Romans war 1939. In diesem Jahr debütierte Rene Raymond, alias James Hadley Chase (1906-85), mit seinem ultrabrutalen, in einem mythischen Amerika angesiedelten, Noir-Thriller NO ORCHIDS FOR MISS BLANDISH.
Die Entführung einer Millionenerbin durch eine perverse Gangsterbande, die an Ma Barkers Gang erinnert, wurde für damalige Verhältnisse geradezu schockierend brutal erzählt.
Angeblich war der Roman von William Faulkners SANCTUARY (1931) inspiriert. Die Realität ist eine andere: Chase arbeitete Mitte der 30er Jahre als Buchhandelsvertreter und erlebte den sensationellen Erfolg von James Malahan Cains Roman WENN DER POSTMANN ZWEIMAL KLINGELT hautnah mit. Er besorgte sich ein amerikanisches Slanglexikon, eine Schreibmaschine und legte los. Innerhalb von sechs Wochenenden schrieb er das Buch. Innerhalb von fünf Jahren wurden eine Million Exemplare verkauft.
Obwohl Chase später auch brutale Geschichten aus der Londoner Unterwelt erzählte, kehrte er immer wieder in sein mythisches Amerika zurück. Wie andere große Autoren schuf er sich einen eigenen Kosmos. Chase, der die USA nur von einem einzigen Kurztrip kannte, ließ seine besten Romane in diesem „Chase Country“ spielen, in dem er den gesellschaftlichen Sozialdarwinismus ungeschminkt vorführte.
Der Graham Greene- Freund (man scheint inzwischen zu wissen, dass Greene ihm bei Krankheitsfällen als Ghostwriter aushalf) Chase erzählte schmutzige, schnelle Geschichten über wenig sympathische Menschen, die für Sex, Macht und Geld alle gesellschaftlichen Normen brechen. Er zeichnete ein düsteres Bild der westlichen Zivilisation, in der jeder der Wolf des Anderen sein muss, wenn er nicht untergehen will.
Chase war in Vevey Nachbar von Graham Greene (und sie hatten denselben Steuerberater, was sie auch noch zu Komplizen machte; aber das wäre ein eigener Chase-Roman).
James Hadley Chase: Keine Orchideen für Miss Blandish; Amsel Verlag 1955. Zuletzt bei Ullstein. Vergriffen.
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ALIBI von Agatha Christie
Es ist leider modisch geworden, über Agatha Christie die Nase zu rümpfen. Sie sei altmodisch, verkörpere die Ideologie einer fast untergegangenen Gesellschaftsschicht und schreibe nur Pappcharaktere, sind nur einige Vorwürfe. Dabei übersieht man, dass ihr spröder Charme und die Eleganz ihrer Handlungsführung immer wieder neue Lesergenerationen in den Bann ziehen.
Und man vergisst, dass Dame Agatha mehr innovative Rätsel erfand als jeder andere Autor des klassischen Detektivromans.
Einen guten Eindruck von ihrem schier unendlichen Einfallsreichtum bietet der Miss Marple-Band DER DIENSTAGABEND-KLUB (Scherz) mit ausgefuchsten Kurzgeschichten. Ihre bis 1945 geschriebenen Bücher sind von höherer Qualität als die späteren. Mrs. Christies Welt der idyllischen Morde – falls es so etwas gibt – versank in den Stahlgewittern des 2.Weltkrieges, und das beeinträchtigte ihren Einfallsreichtum ein wenig (für gelegentliche Geniestreiche, wie etwa DAS FAHLE PFERD, war sie aber noch immer gut).
ALIBI (THE MURDER OF ROGER ACKROYD) war Christies 7.Roman und erschien 1926.
Mit einem Schlag gehörte sie zu den besten Autoren des Genres. Es ist der Roman, den die Krimitheoretiker nach wie vor für ihr cleverstes Buch halten. Am Anfang steht der für sie so charakteristische Mord in einem anheimelnden Dörfchen auf dem Lande. So erfand sie für diesen Hercule Poirot-Roman eine Lösung, die den unvorbereiteten Leser noch heute verblüfft.
Kopiert wurde diese Struktur selten (zum Beispiel in A.D.G.s großartigem Roman DIE NACHT DER KRANKEN HUNDE). Denn um mit diesem Trick durchzukommen, verlangt es all die schriftstellerischen Fähigkeiten, die verschiedene Kritiker ihr so gerne absprechen.
Agatha Christie: Alibi; Scherz Verlag
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IPCRESS – STRENG GEHEIM von Len Deighton
Als 1962 THE IPCRESS FILE herauskam, war er auf Anhieb die Sensation des boomenden Spionagegenres. Einigen Kritikern galt Deighton „besser als Ian Fleming“, dessen das Publikum enttäuschender, aber experimenteller Bond-Roman THE SPY WHO LOVED ME im selben Jahr erschienen war.
IPCRESS zeichnete sich durch einen faktischen Realismus aus, den man zuvor im Genre nicht gekannt hatte. Len Deighton war immer auf der Höhe der technischen Entwicklungen und setzte sie realistisch in seinen kompliziert geplotteten Spionage-Epen ein. Wenn man so will, war er der Vorläufer der heute so erfolgreichen Techno-Thriller. Tatsächlich gilt einigen Theoretikern sein 1966 erschienener Roman DAS MILLIARDEN-DOLLAR-GEHIRN (zuletzt bei Knaur, 1988) um einen Supercomputer, der für einen faschistischen texanischen Ölbaron einen Angriff auf Lettland lenkt, als erstes Exemplar des Subgenres High-Tech-Thriller.
Harte Schnitte, extreme Szenenüberblendungen und abrupte Perspektivenwechsel machen es dem Leser nicht leicht, sich ein Bild von der komplizierten Handlung in IPCRESS zu machen. Aber sie erzeugen ein Gefühl der Authentizität, die den Realismusanspruch des Autors unterstreicht.
Deightons Ich-Erzähler ist ein Antiheld, der nur in den drei ausgezeichneten Filmen mit Michael Caine den Namen Harry Palmer trägt. Ein echter Typ der 6oer Jahre: Sein Kampf gegen die Hierarchien und die Intrigen des eigenen Dienstes waren oft anstrengender als der Krieg gegen den kommunistischen Gegner.
Außerdem stammte er aus der Arbeiterklasse und war dem Establishment gegenüber mehr als misstrauisch: „Ich hatte keine Chance zwischen dem Kommunismus auf der einen Seite und unserem Establishment auf der anderen.“
Als gesellschaftlicher Außenseiter, der seinen Job illusionslos und ohne ideologische Befangenheit verrichtet, ist er dem namenlosen Continental-Detektiv von Dashiell Hammett näher als James Bond. Im Laufe der Zeit wurde Deightons Erzähltechnik immer konventioneller und gefälliger. Auch der freche Dialogwitz der frühen Romane ist inzwischen fast ganz verschwunden.
Politisch entwickelte er sich gegen die Zeit: Während er in den frühen Büchern ideologiefrei seinen Antihelden Bündnisse mit sympathischen Russen eingehen ließ, wurde er mit jedem weiteren Bestseller mehr zum kalten Krieger.
Len Deighton: Ipcress streng geheim; Knaur, 1994.
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IM GEHEIMDIENST IHRER MAJESTÄT von Ian Fleming
John LeCarré bringt es auf den Punkt: „Ich habe Bond nie wirklich als Spion gesehen. Ich halte ihn eher für ein Wirtschaftswunderkind mit der Lizenz, sich im Interesse des Kapitals extrem schlecht zu benehmen.“
Bond ist natürlich mehr: Eine unsterbliche Pop-Ikone mit immensem Einfluss auf Moden und Wunschvorstellungen, Symbolfigur des Kalten Krieges und des modernen Hedonismus.
1953 erschien CASINO ROYAL, Ian Flemings erster Bond-Roman, der sofort bewies, dass hier ein absoluter Meister des Thrillers schrieb. Zu seinen Fans gehörte sogar Raymond Chandler. Über Nacht waren die Geheimagenten alter Schule, John Buchans Richard Hannay oder die Clubland-Heroes von Dornford Yates, Schnee von gestern. Es folgten elf Romane und acht Kurzgeschichten. Der Ruhm der Figur überstrahlte den des geistigen Vaters.
IM GEHEIMDIENST IHRER MAJESTÄT ist ein perfektes Beispiel dafür, wie Fleming die wahnwitzigsten Handlungen völlig glaubwürdig schilderte. Wie in GOLDFINGER wird die Fleming-Formel perfekt umgesetzt: Ein Profi kämpft mit Hilfe technischer Tricks, physischer Kraft und Intelligenz gegen einen furchtbaren Feind, der England vernichten will. Dabei hat er noch Zeit für amouröse Abenteuer und gutes Essen.
Bonds Feinde waren Kommunisten und frühe Globalisierer wie das multinationale Gangstersyndikat SPECTRE oder Hugo Drax‘ Wirtschaftskonzern.
Fleming war vor Uwe Johnson der erste Literat, der Markenartikel als Realismusinseln einführte.
Aber sein Bond war auch ein Rassist und Chauvinist. Ihm galten alle Völker als den Briten unterlegen. Bonds rassistische Äußerungen wurden aus den Übersetzungen teilweise getilgt. Fleming legt ein Tempo vor, dass dem Leser keine Pausen gönnt. Gemessen an ihm sind die modernen Bestsellerautoren lahme Enten. Flemings Qualität beweist die Lektüre seiner weniger talentierten Nachfolger John Gardner oder Raymond Benson, die neue Bond-Romane vorlegten.
Nachdem sich Präsident Kennedy 1961 im LIFE-Magazin als Bond-Fan outete, jagten die Umsätze von Flemings Büchern in ungeahnte Höhen und machten ihn zu einem der meistverkauften Schriftsteller aller Zeiten.
Und dann kam auch noch das Kino…
Ian Fleming: Im Dienst Ihrer Majestät. Zuletzt bei Heyne. Die „ungekürzten Neuübersetzungen“ kenne ich nicht.
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DIE FREUNDE VON EDDIE COYLE von George V.Higgins
Eddie Coyle ist eine echte Ratte, ein kleiner Gangster, der ständig zwischen den Fronten hin- und her wieselt, um seine schmutzigen Geschäfte durchzuziehen. Mal dient er als Polizeispitzel, mal dreht er mit den Freunden ein Ding. Ganz spezielle Freunde sind das: Bankräuber, Waffenhändler und kleine Ganoven wie Eddie selbst. Bei seinem Doppelspiel muss er schwer aufpassen.
Und dann spitzt sich die Situation so zu, dass man von ihm verlangt, seine Freunde ans Messer zu liefern.
Niemand schrieb Dialoge wie der Bostoner Jurist George V.Higgins, der 1999 nur 59jährig starb. Er konnte eine ganze Geschichte fast völlig in Dialogen erzählen, die die Story vorantrieben und gleichzeitig die Personen charakterisierten.
Mit seinem Debut verpasste er 1972 dem Crime-Genre eine neue Dosis literarischen Realismus. Selbst Norman Mailer war fassungslos über die Qualität dieses Erstlings, der 1985 von einer Buchhändlervereinigung zu einem der 25 wichtigsten Romane des 20.Jahrhunderts gewählt wurde. Die gelungene Verfilmung von Peter Yates mit Robert Mitchum, ein seltener Glücksfall für einen Autor, wurde ebenfalls zum Klassiker.
Der moderne Gangsterroman verdankt ihm mehr als jedem anderen Autor. Elmore Leonard bezeichnete ihn als den Meister, von dem er alles lernte (einer der Hauptcharaktere in Higgins Roman heißt übrigens Jackie Brown – ein Name, den Leonard später aufgriff, um seine Reverenz zu erweisen).
Bevor er Anwalt wurde, arbeitete Higgins als Kriminalreporter und lernte die Unterwelt der Ostküste kennen. Später wurde er Staatsanwalt, dann Anwalt, der so illustre Charaktere wie den Watergate-Einbrecher G.Gordon Liddy und den Black Panther-Führer Eldridge Cleaver verteidigte. Als Schriftsteller von der Kritik verehrt, konnte er den Erfolg seines Erstlings mit den späteren Büchern nicht wiederholen.
George V.Higgins: DIE FREUNDE VON EDDIE COYLE.Hoffmann & zuletzt im Antje Kunstmann Verlag.
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EINZELGÄNGER – MÄNNLICH von Geoffrey Household
1939 veröffentlichte Geoffrey Household einen Schocker, der heute noch unter die Haut geht: ROGUE MALE. Ein Klassiker und eine der drei besten Jagd- und Fluchtgeschichten überhaupt.
Im Roman berichtet ein namenloser Erzähler, der bei einem scheinbaren Attentat auf einen mitteleuropäischen Diktator erwischt und von der Geheimpolizei schlimm gefoltert wird. Scheinbar tot kann er seinen Peinigern in einer nervenzerfetzenden Flucht nach England entkommen. Durch unglückliche Umstände wird er von der Polizei und den Agenten des Diktators durch die grandiose Landschaft von Dorset gehetzt.
Auch wenn keine Namen fallen und Deutschland nicht erwähnt wird, bleibt keine Sekunde unklar, dass es sich bei dem mitteleuropäischen Diktator um Hitler handelt.
Der literarische Thriller reicht über die Jagdgeschichten John Buchans hinaus. Wie Buchan ist Household am besten, wenn er physische Aktion beschreibt, besonders Fluchtszenen in der Natur.
Obwohl Household seinen Figuren ein anspruchsvolleres Innenleben gibt und seine Romane insgesamt mehr intellektuelle Substanz haben, ist er nie dem Einfluss Buchans entwachsen. Household geht in seiner Zivilisationskritik aber weit über ihn hinaus. Die bürokratische Konsumgesellschaft ist ihm ein Graus. Er verachtet Politik und Politiker und sieht das Heil in einer Art „Anarchismus des Adels“, ein Leben auf dem Land, in der Natur, ohne die Akzeptanz staatlicher Autorität.
Seine Helden sind oft Angehörige der upper class, Landlords, die vom Leben in der Wildnis geprägt sind. Die Rückkehr zur Natur war bereits 1939 für Household die einzige Hoffnung für die Menschheit.
Wieder einmal sollte ein Roman auch Auswirkungen auf die Realität haben: General Sir Noel Mason Macfarlane studierte das Buch genau, als er ein Attentat auf Hitler ausarbeitete. Es kam zwar nie zur Durchführung des Anschlags, aber Macfarlane unterließ es nie darauf hinzuweisen, dass Households Roman die Inspiration für eine derartige Option war.
Household nahm aktiv am 2.Weltkrieg teil. Er diente als Einsatzleiter im Militärischen Geheimdienst und wurde hochdekoriert entlassen. Als Militärattaché in Rumänien jagte er Ölfelder in die Luft, um sie nicht den Nazis und ihren Verbündeten in die Hände fallen zu lassen.
Geoffrey Household: Einzelgänger, männlich. Haffmanns Verlag, 2000. Kein & Aber; 2009.
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KALT WIE GOLD von Marcel Montecino
Das kriminalliterarische Subgenre des Polizeiromans hat inzwischen eine lange Tradition – und erfreut sich größter Beliebtheit. Der Polizeiroman, oder police procedural, begann in den 50er Jahren durch Autoren wie Lawrence Treat, Hillary Waugh oder Ed McBain und seinen Geschichten über das 87. Polizeirevier. Vorher dominierte die Figur des großen Einzelgängers das Genre, etwa der intellektuelle Detektiv à la Sherlock Holmes oder der harte Privatdetektiv.
Es ist kein Wunder, dass der Polizeiroman nach dem 2.Weltkrieg immer populärer wurde: Für die moderne Industriegesellschaft wurde das Individuum unwichtig und musste sich aus ökonomischen Gründen ins Team eingliedern. Das Polizeiteam und die Faszination an der neuen Technik lösten die Heroisierung des Einzelgängers ab. Durchbrochen wurde dieses Muster in den 70er Jahren von Joseph Wambaugh, der die Polizisten nicht mehr als gut geölte Maschinen zeigte, sondern als Psychopathen, die in einer immer brutaleren Gesellschaft ihren Job mehr schlecht als recht erledigen. Autoren wie James Ellroy griffen die Lektion auf und führten sie weiter. Seitdem jagen unangenehme Polizisten noch unangenehmere Serienkiller durch bluttriefende Buchseiten voller Gewaltpornografie.
Ganz anders der vielleicht beste Polizeiroman der 1980er: Marcel Montecinos erstaunlicher Erstling THE CROSSKILLER erzählt die Geschichte des abgeklärten jüdischen Polizisten Jack Gold, der im Inferno von Los Angeles seine Sisyphusarbeit erledigt. Von korrupten Vorgesetzten strafversetzt, wird er zum Gegenspieler eines rassistischen Psychopathen, der als „arischer“ Kreuzkiller eine blutige Spur durch die Stadt zieht.
Im Gegensatz zu Ellroy und Konsorten dämonisiert Montecino nicht antiaufklärerisch diesen Serienmörder. Er zeigt genau auf, wie ein ungebildeter Weißer durch persönliche und ökonomische Frustrationen zum Ungeheuer wird. Wie er all sein persönliches Versagen auf Sündenböcke – hier Juden und Schwarze – abwälzt.
Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Montecino erklärt uns diese traurige Figur, entschuldigt nichts und lässt keine Sympathie aufkommen. Daneben beschreibt er unsentimental die Zustände in der jüdischen Gemeinde der „Stadt der Engel“ und die furchtbare Situation einer schwarzen Familie. Ihm ist ein fast 600 Seiten langer Krimi gelungen, bei dem keine Zeile zuviel ist.
Marcel Montecino: Kalt wie Gold, Goldmann; zuletzt SZ-Krimibibliotheck
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DIE LIGA DER FURCHTSAMEN MÄNNER von Rex Stout
Mit seinen Nero Wolfe und Archie Goodwin-Geschichten schuf Rex Stout die perfekte Synthese aus klasschischer Detektivgeschichte und hard-boiled-school: Nero Wolfe ist die typische Denkmaschine in der Tradition von Sherlock Holmes. Er verlässt so gut wie nie sein Haus und löst die kompliziertesten Rätsel zwischen gutem Essen und Orchideenzucht im Lehnstuhl. Der fette und faule Meisterdetektiv hatte sein Vorbild in Sherlock Holmes‘ Bruder Mycroft.
Um an die nötigen Informationen zu gelangen, schickt er seinen Helfer Archie Goodwin hinaus in die böse Welt. Archie ist ein Charakter wie aus einem typischen Privatdetektivroman: Er prügelt sich, steigt den Frauen hinterher und hat immer einen lockeren Spruch auf den Lippen. Der große Unterhaltungswert und die stilistische Brillanz von Stouts Geschichten kommt durch die Erzählperspektive: Als Ich-Erzähler berichtet der schnoddrige Archie über die Fälle, die Nero Wolfe am Ende jeder Geschichte in seinem Haus in Manhattans 35.Strasse durch scharsinnige Gedankenarbeit klärt. Dazu werden dann in klassischer Manier alle Tatverdächtigen zusammen gerufen.
Stout war bereits 48 Jahre alt, als er sein Duo erfand. Er schrieb bis zu seinem Tod 1975 insgesamt 73 Novellen und Romane über Wolfe. Alle sind unterhaltsam, aber DIE LIGA DER FURCHTSAMEN MÄNNER von 1935 ist sein absolutes Meisterstück: Ehemalige Harvardstudenten bitten Wolfe um Schutz vor einem einstigen Kommilitonen, an dessen Verkrüppelung sie schuld waren. Der Plot ist genial (was man über die wenigsten Wolfe-Geschichten sagen kann) und die Charaktere ausdrucksstark.
Die Stout-Fans, die sich in der Organisation Wolf Pack zusammengeschlossen haben, halten PER ADRESSE MÖRDER X (THE DOORBALL RANG) für Nero Wolfes besten Fall.
Rex Stout: Die Liga der furchtsamen Männer. Heyne.
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DER MÖRDER IN MIR von Jim Thompson
Lou Ford scheint ein netter, menschenfreundlicher Deputy Sheriff zu sein und ist doch in Wirklichkeit ein psychopathischer Killer. Außerdem ist er der Ich-Erzähler in Jim Thompsons Klassiker THE KILLER INSIDE ME.
Niemand, der die Geschichte von Sheriff Lou Ford gelesen hat, wird diesen düsteren Roman je vergessen können. Thompson schrieb den Roman in zwei Wochen und bekam 2000 Dollar dafür. Erstmals wurden in diesem Buch Elemente der hard-boiled-novel mit der Psychoanalyse verbunden. Dass die Erzählung vom psychopathischen Täter selbst vorgetragen wird, ist heute natürlich nichts Ungewöhnliches mehr, war aber 1952 ein innovatives Wagnis.
Marcel Duhamel, Herausgeber von Gallimards Serie Noire, erinnerte Thompson an Henry Miller, Erskine Caldwell und Céline: „Thompsons Werk unterscheidet sich grundlegend von mittelmäßiger Kriminalliteratur; er besitzt einen völlig eigenen Stil und eine höchst individuelle Weltsicht.“
Thompson Gesellschaftsbild ist rabenschwarz. Gewalttätigkeit, Machtstreben und Korruption wächst aus ihr geradezu zwanghaft. Sein Markenzeichen, der paranoide Schizophrene, ist nichts anderes als die perverse Konsequenz aus dem Verfassungsgrundsatz, dass jeder „Amerikaner das Recht hat, nach seinem Glück zu Streben“. Für Thompson, der kurze Zeit in der Kommunistischen Partei war, Marx gelesen hatte und von Naturalisten wie Zola, William Cunningham und Frank Norris beeinflusst war, gab es nie einen Zweifel daran, dass das System naturbedingt Millionäre genauso hervorbringt, wie es psychisch kranke Killer zeugt.
In Thompsons Welt können die Dämonen des Schicksals nicht bezwungen werden. Seine Menschen sind allesamt armselige Kreaturen, die ohnmächtig diesem Fatum und den gesellschaftlichen Machtverhältnissen ausgeliefert sind.
Als James Myers Thompson am 7. April 1977 in Los Angeles starb, war er ein vergessener Schriftsteller, und kein Buch von ihm war noch lieferbar. An seiner Beerdigung in Westwood nahmen nur wenige Menschen teil; lediglich vier Trauergäste gehörten nicht der Familie an. In Frankreich war fast Staatstrauer angesagt.
Jim Thompson: Der Mörder in mir. zuletzt bei Diogenes. Audio: Audioverlag; Potsdam, 2000.
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DRECKSAU von Irvine Welsh
„Warum ich zur Polizei gegangen bin? Oh, ich würde sagen, das hat mit polizeilichen Übergriffen zu tun. Ich bin in meiner Gemeinde Zeuge von Polizeigewalt geworden und hab beschlossen, dass ich bei so was auch mitmachen will“, erklärt der gemeine Ich-Erzähler Bruce Robertson, Polizist bei der Mordkommission von Edinburgh und der bösartigste Bulle der gesamten Kriminalliteratur.
Bruce ist nur auf seinen Vorteil bedacht, er linkt jeden (auch seinen besten Freund), pumpt sich mit Drogen voll und erpresst Frauen zu Sex. Vielleicht Irvine Welshs (TRAINSPOTTING) bestes Buch. Bestimmt sein dreckigstes. Wer gemeine Ich-Erzähler liebt, kommt hier auf seine Kosten. Gegen Bruce Robertson sind Ellroys Bullen die reinsten Pfadfinder: „Ich meine, wir wissen, dass es Scheißgesetze gibt, also hat es nicht viel Sinn, dass wir sie selbst befolgen, auch wenn es unser Job ist, sie anderen gegenüber durchzusetzen.“ Eine nette Referenz an Moravias ICH UND ER sind die Monologe des Bandwurms, der Bruce zu schaffen macht.
Nichts für Leser, die in der Kriminalliteratur Realitätsflucht suchen.
Die Verfilmung ist mehr als enttäuschend.
Irvine Welsh: Drecksau (Filth,1998). Kiepenheuer & Witsch.
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DIE GEFANGENEN VON GREEN RIVER von Tim Willocks
Wenn kein Gesellschaftsvertrag existiert, der das Zusammenleben regelt, gibt es nur noch den Krieg aller gegen alle, verkündete der Philosoph Thomas Hobbes. Der Mensch ist des Menschen Wolf.
Wie das aussieht, leuchtet Willocks in seinem Gefängnisroman DIE GEFANGENEN VON GREEN RIVER aus. Er beschreibt 24 Stunden im schlimmsten Knast der Welt. Eine unerträgliche Atmosphäre aus Gewalt und Perversion beherrscht Green River. Und der durchgeknallte Direktor, der nicht von ungefähr Hobbes heißt, tut alles, um die Bedingungen zu verschlechtern, damit die letzten zivilisatorischen Regeln zum Klo runtergespült werden. Er zieht die Repressionsschraube immer weiter an, bis die kritische Masse explodiert und es zur ultimativen Schlacht zwischen Bestie und Geist kommt.
Das Finale ist erschreckender als ein Auftritt von SILBERMOND.
Nach der Lektüre beherzigt man gerne Alfred Hitchcocks Ratschlag für Filmemacher: „Bleibt aus den Gefängnissen raus.“
Alan Pakula hatte die Filmrechte an diesem wahrscheinlich bisher besten Knastroman erworben.
Willocks‘ Psychopathen wollen die menschliche Gesellschaft überwinden, indem sie Tabus zerschmettern und in sinnlosen Blutbädern und Orgien waten, um den vor-gesellschaftlichen Naturzustand wieder herzustellen. Bis sie dann endgültig in eine der unteren Höllen auf Grund laufen. Die komplexe Handlung wird zu einem apokalyptischen Finale geführt, das Willocks‘ Markenzeichen ist. Zurück bleiben zutiefst leidende Charaktere und Leser, die noch lange grauenhafte Hieronymus Bosch-Bilder im Kopf behalten.
Die Gefangenen von Green River, Heyne 1998.