Martin Compart


ES WAR EINMAL IN WASHINGTON: GEORGE P. PELECANOS by Martin Compart

Mein Nachwort zu Dumont Noir Bd.6: DAS GROSSE UMLEGEN.

Im ersten Noir-Roman seiner historischen Washington-Trilogie, THE BIG BLOWDOWN (DAS GROSSE UMLEGEN), beschreibt George P.Pelecanos die amerikanische Hauptstadt der 40er- und 50er Jahre. Damals wurden für eine Reihe Entwicklungen die Weichen gestellt, die bis heute richtungweisend sind. Der Hass der ethnischen Gruppen untereinander, die alle auch kriminelle Fraktionen bilden, ist natürlich über das historische Washington hinaus aktuell. Genauso das Abgleiten perspektivloser Jugendlicher, die ihre neue Welt noch nicht richtig verstehen, in Gangs, um sich gegen reale wie vermeintliche Bedrohungen von Außen zu verteidigen.

Pelecanos schreibt über die Stadtteile der amerikanischen Hauptstadt, vor denen uns die Reiseführer warnen, falls sie überhaupt erwähnt werden.

Er ist Washingtoner griechischer Herkunft, hat die US-Klassiker des proletarischen Romans wie THIEVES LIKE US von Edward Anderson oder THIEVES MARKET von A.I.Bezzerides genauso studiert wie Hammett und Chandler. Seine Romane beleuchten die Machtzentrale Washington D.C., wie man diese Stadt bisher noch nicht in der Literatur gesehen hat. Es ist die Welt der Immigranten und Sklavennachkommen, die sich mehr schlecht als recht durchbeißen, um einen Stück vom Kuchen des amerikanischen Traumes herunterschlucken zu können.

Der 1957 geborene Pelecanos hat eine eigene originelle Stimme und ein eigenes Thema, von dem er geradezu besessen scheint. „Meine Idee war, als ich begann, über die Arbeiterklasse Washingtons zu schreiben in der Form des Kriminalromans. Meines Wissens hat das bisher keiner getan. Wenn Washington das Thema von Romanen oder Thrillern ist, dann geht es nur um hohe Politik oder einen verrückten Militär, der den roten Knopf drücken will. Es ist meine Lebensaufgabe geworden, über das wahre Washington vor den verschlossenen Türen zu schreiben. Durch alle Jahrzehnte unseres Jahrhunderts hindurch.“

Pelecanos Vater kam als Kleinkind in die USA. Die ganze Familie arbeitete in der Billiggastronomie, und George wuchs in den Küchen, Bars und Coffeshops der griechischen Einwandererszene auf. Ab dem zehnten Lebensjahr half er seinem Vater in den Sommerferien. „Ich tat dies mein ganzes Leben, bis ich Schriftsteller wurde.“ Nach seinem Kunststudium nahm er eine Reihe unterschiedlicher Jobs an.

1989 kündigte er seinen Job als Manager einer Kette von Haushaltsgeschäften, um einen Roman zu schreiben. Für den Lebensunterhalt arbeitete er nachts in einer Bar im Nordwesten Washingtons. Der Roman erschien 1992 unter dem Titel „A Firing Offense“ und war der erste einer Trilogie um den Washingtoner Privatdetektiv Nick Stefanos.

Ihm gelang mit den drei Stefanos-Romanen, was inzwischen zu den schwierigsten schriftstellerischen Aufgaben gehört: neue Funken aus einem Klischee strotzenden Subgenre zu schlagen. Die Private-Eye-Novel stand Jahrzehnte unter dem übermächtigen Einfluss von Raymond Chandler und war schon fast in Stereotypen erstickt als Ende der 1970er Jahre und in den 80er Jahren Autoren wie Robert.B.Parker, Lawrence Block, Loren D.Estleman, Marcia Muller, James Crumley, Joe Gores, Joseph Hansen und einige andere neue Wege gingen. Aber ob Regionalismus-Trend, neuer Realismus oder harte weibliche Privatdetektive, in den 90er Jahren schien der Privatdetektivroman wieder in einer Sackgasse gelandet zu sein. Pelecanos schrieb mit der Stefanos-Trilogie einen im Regionalismus verwurzelten Entwicklungsroman, dessen Hauptperson jenseits abgedroschener Klischees angesiedelt war.

„Ich liebe das Genre. Ich wurde an der Universität, ich war an der University of Maryland, durch einen Lehrer damit bekannt gemacht. Von da an las ich mehrere Bücher pro Woche zehn Jahre lang. Und dann dachte ich mir, ich könnte selbst einen Privatdetektivroman schreiben. Aber ich hatte natürlich keine Ahnung von der Arbeit als Privatdetektiv. Also besann ich mich auf meine proletarischen Wurzeln und die Milieus, die ich kenne. Ich hatte auch eine ganze Reihe Romane gelesen, die eher an der Peripherie des Genres angesiedelt sind: THIEVES LIKE US von Edward Anderson, THIEVE’S MARKET von A.I.Bezzerides und die Bücher von Horace McCoy. Ich kannte diesen proletarischen Moment in der Hard boiled novel. Ich wollte nicht irgendwas Originelles erfinden oder konstruieren, ich schrieb nur aus einer anderen Perspektive über bisher literarisch nicht beachtete Milieus.“

Damit gab Pelecanos die Perspektive der Mittelklasse, die den Privatdetektivroman von Chandler bis Sue Grafton, Parker oder Sarah Paretsky beherrschte, auf. Aber Pelecanos sagt auch: „Heute nicht zuzugeben, dass Chandler die Standards vorgab, wie es einige Autoren tun, ist völliger Unsinn. Jeder von uns PI-Autoren schuldet oder verdankt ihm etwas.

Anders als bei den üblichen Privatdetektivromanen schrieb Pelecanos nicht dasselbe Buch mehrmals: in jedem der drei Stefanos-Romane macht der Protagonist eine radikale Veränderung durch, die aus seinen Erfahrungen rührt. „Wenn ich ein Buch in die Hand bekomme, dessen Klappentext behauptet, der Autor sieht sich als geistiger Nachfolger von Chandler, möchte ich es am liebsten an die Wand schmeißen. Ich bin sicher, Mr. Chandler würde von einem jungen Autor erwarten, dass er etwas neues, anderes wagt, selbst mit dem Risiko zu scheitern. Ich achte die Regeln des Genres, aber genauso ist es mir wichtig, diese Regeln zu verändern, ich will die Konventionen solange zusammenpressen, bis Blut herausläuft.

Den Kosmos, den Pelecanos in seiner Stefanos-Trilogie, entwickelt hat, nutzt er auch für spätere Bücher: Im GROSSEN UMLEGEN etwa taucht Nicks Großvater Big Nick Stefanos auf, und Nick selbst ist ein Baby. Das gibt seinem Gesamtwerk eine zusätzliche Dimension epischer Breite und seinem Jahrzehnte überspannenden Sittenbild glaubwürdige Geschlossenheit.

Über DAS GROSSE UMLEGEN sagt er:
„Der Anfang ist eigentlich die Geschichte meines Vaters. Er kam aus Griechenland und lebte in Washingtons Chinatown. Damals kein reines Chinesenviertel, sondern der übliche Ort, wo sich arme Immigranten niederließen. Im 2.Weltkrieg ging mein Vater zu den Marines; er nahm an den Nahkämpfen auf Leyte teil. Peter Carras im Roman kehrt aus dem Krieg zurück und schlägt dann einen anderen Weg ein als mein Vater, der seine Familie hatte. DAS GROSSE UMLEGEN wurde mein Big Book, mein großer Gangsterroman. Es schrieb sich von selbst und ist immer noch mein Lieblingsbuch. Naja, ganz von selbst schrieb es sich natürlich nicht. Ich verbrachte Monate im Washingtonraum der Martin Luther King-Bibliothek und fraß mich durch Zeitungen von damals. Mich interessierte natürlich alles über die Kriminalität. Es gab keine richtig große Gang, obwohl es natürlich organisiertes Glücksspiel gab und enge Verbindungen mit New York zum Costello-Syndikat. Außerdem sprach ich mit älteren Leuten, die sich noch gut an die Zeit erinnern konnten. Dann setzte ich mich hin und schrieb das Buch in vier Monaten. Der Film noir der 40er Jahre beeinflusste mich sehr stark bei diesem Roman.“

Der nächste Band der Trilogie, KING SUCKERMAN, spielt in den 70er Jahren mit Pete Karras‘ Sohn Dimitri als einen der Protagonisten.
„Das war meine große Zeit. Das Buch spielt in der Woche der großen Zweihundertjahrsfeiern 1976. Ich war 19 Jahre alt und es war mein Sommer. Ich glaube, jeder Mensch hat einen großen Sommer, in dem alles großartig ist. Ich erinnere mich an jedes Detail. Das Buch ist in einem völlig anderen Stil geschrieben als DAS GROSSE UMLEGEN. Viel lockerer, weil es eine Zeit darstellt, in der ich gelebt habe und die ich nicht mühselig recherchieren musste. Mich haben besonders diese radikalen Veränderungen in der Kultur innerhalb von dreißig Jahren fasziniert. Ein Mann in den 40er Jahren band sich einen Windsorknoten und setzte einen Fedora auf, bevor er aus dem Haus ging. Man muss sich mal vorstellen, er ginge aus dem Haus und würde in den 7oer Jahren landen. Alleine wie die Leute gekleidet waren, wäre ein Schock für ihn gewesen. Wie bei dem GROSSEN UMLEGEN der Film noir ein Einfluss war, schlugen sich bei KING SUCKERMAN das schwarze Actionkino der 70er Jahre, die blaxploitation movies nieder. Der letzte Band der Trilogie heißt THE SWEET FOREVER und spielt 1986.“ In diesen Büchern vermittelt Pelecanos neben der crime story auch die Tragödie, dass keine Generation der nächsten ihre Erfahrungen wirklich vermitteln kann. „Ja, es ist ein Moment der Tragödie, denn man ahnt oder weiß, was passieren wird, weil die eine oder andere Person nicht zuhört, was ihm der Ältere zu vermitteln versucht.“

Neben seiner Karriere als Schriftsteller arbeitet Pelecanos noch in der Filmbranche. „Auf einem Hongkong-Festival am American Film Institute hatte ich THE KILLER von John Woo gesehen und war tief beeindruckt. Als ich erfuhr, daß Jim und Ted Pedas die amerikanischen Vertriebsrechte für Circle Films gekauft hatten, meldete ich mich bei ihnen. Ich wollte eigentlich nur die Promotion für diesen einen Film machen, blieb aber dann bei Circle Films.“ Circle Films vertrieb BLOOD SIMPLE der Coen-Brüder und produzierte für die Coens RAISING ARIZONA, MILLER’S CROSSING und BARTON FINK. „MILLER’S CROSSING ist im Grunde eine Adaption von Dashiell Hammetts RED HARVEST und THE GLASS KEY. RED HARVEST ist oft für das Kino adaptiert oder geklaut worden:von Kurosawas YOYIMBO bis zu Sergio Leones EINE HANDVOLL DOLLAR und Walter Hills LAST MAN STANDING.“ Pelecanos war Co-Produzent bei Bob Youngs Film CAUGHT mit Edward James Olmos, „eine Art James M.Cain-Geschichte mit der Musik von meinem alten Idol Curtis Mayfield“. Zuletzt produzierte er WHATEVER, der von Sony Pictures gekauft wurde. Es liegt nahe, daß Pelecanos Romane selbst als Filmvorlage dienen könnten. „Meine Agentin trommelt dafür. Mein non-serie-Roman SHOEDOG ist unter Option, aber ob er wirklich verfilmt wird, steht in den Sternen. Ich habe das Drehbuch geschrieben, und ich schrieb die Drehbuchadaption von DAS GROSSE UMLEGEN. Ich wollte nicht, daß ein anderer das macht. Das Buch steht mir und meiner Familie zu nahe. Es geht um echte Menschen, nicht um Stereotype.“

P.S.: Pelecanos hat 2000 mit SHAME THE DEVIL noch einen Band nachgelegt und somit wurde aus der Trilogie eine Tetralogie.

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QUENEAU IN DEN MEAN STREETS: JAMES SALLIS by Martin Compart

(Nachwort zu DEINE AUGEN HAT DER TOD; DuMont Noir Bd.7., 1999)

Für Verleger – und mehr noch Übersetzer – ist James Sallis die Herausforderung oder schlechthin ein Alptraum! Der Mann, der einen der faszinierendsten und schwierigsten Stile in der zeitgenössischen amerikanischen Literatur schreibt, kann einem Übersetzer das Leben zur Hölle machen. „Das weiß ich“, grinst der Autor, „schließlich habe ich mir selbst als Übersetzer aus dem Französischen an Raymond Queneau die Zähne ausgebissen. Er war der erste französische Autor, in den ich mich verliebte. Seine Bücher sind sehr seltsam und schwebend. Er treibt eine Menge Scherze auf Kosten der Leser, deren Erwartungshaltungen und sich selbst. Es gibt nichts ähnliches in der englischen Literatur. Er hat mich sehr beeindruckt.

Ein Teil von Sallis‘ Originalität begründet sich bestimmt in der tiefschürfenden Beschäftigung mit Queneau und dem nouveau roman. Der „New Orleans Time“ ist zuzustimmen, wenn sie schreibt: „Sallis trifft präzise jedes Detail und jede Nuance, jeden Schritt, jedes ölige Krabbensandwich und jede ausgebrannte Neonreklame… Sein Schreibstil ist elegant und sparsam – einfach atemberaubend.“ Sallis ist keine simple Lektüre, aber wenn man sich erst einmal auf ihn eingelassen hat, wird man auf einzigartige Weise dafür belohnt. Sallis ist mit Sicherheit einer der vielseitigsten Autoren, die man in der schier unerschöpflichen, vitalen angelsächsischen Literatur findet.

Geboren wurde er am 21.Dezember 1944 in Helena, Arkansas.
Als Kind schon war er ein begeisterter Science Fiction-Leser; seine erste Lektüre war THE PUPPET MASTERS von Robert A. Heinlein.
Er studierte in New Orleans und an der Universität von Texas in Arlington russische und französische Literatur. 1964 bis 1966 war er Lyrikredakteur der renommierten kanadischen Literaturzeitschrift „Riverside Quarterly“. 1964 heiratete er zum ersten Mal. Damals verkaufte er auch seine ersten Kurzgeschichten: Science Fiction-Stories.

Während eines Schriftsteller-Workshops traf er den britischen SF-Autor Michael Moorcock, der einige seiner Geschichten gekauft hatte und Herausgeber des avantgardistischen britischen Science Fiction-Magazins „New Worlds“ war.

Dieses Magazin hatte wesentlich die stilistische Weiterentwicklung des Genres zur sogenannten New Wave der sechziger Jahre vorangetrieben. Nicht mehr Edgar Rice Burroughs mit seiner Fantasy-SF oder Isaac Asimov und Robert Heinlein mit ihrer meist soziale Strömungen negierenden Hardcore-SF bestimmten die Richtung des Magazins, sondern Autoren, die sich eher auf William Burroughs und H.G.Wells beriefen. New Wave-Autoren wie James Ballard, Thomas Disch oder Norman Spinrad befreiten die erstarrte Science Fiction von technologischen Träumen und Pulp-Klischees und überschritten durch stilistische Experimente und neue Themen die verkrusteten Grenzen des damals vielgeschmähten Genres.

Moorcock stützte auch finanziell das Magazin, indem er als Lohnschreiber Fantasy-Zyklen für andere Verlage verfasste. Er wollte das Magazin nicht in Personalunion als Herausgeber und Redakteur führen und sich mehr auf seine schriftstellerischen Arbeiten konzentrieren. Also suchte er einen Seelenverwandten für die redaktionelle Tätigkeit. Nachdem er nächtelang mit Sallis über Science Fiction diskutiert hatte, bot er ihm den schlechtbezahlten Job als Redakteur von „New Worlds“ an. „Ich wusste nichts über die redaktionelle Arbeit an einem solchen Magazin. Außerdem hatte ich kein Geld. Also nahm ich an.“

Er zog nach London und betreute „New Worlds“ bis 1968. Damals kam er erstmals mit Kriminalliteratur in Berührung: „Mike Moorcock gab mir seine Raymond Chandler-Bücher. Ich las das komplette Werk in drei Tagen und Nächten. Danach war ich nicht mehr derselbe. Chandlers Werk ist für die Literatur von größerer Bedeutung als viele Autoren, die von Akademikern in den Pantheon gestellt werden. Chandler ist mindestens so wichtig wie Hemingway oder Fitzgerald. Ich begann mich für das Genre ernsthaft zu interessieren und versuchte alle wichtigen Autoren zu lesen. Vor allem Jim Thompson, David Goodis, Chester Himes und Horace McCoy beeindruckten mich neben Hammett und Chandler.“

Sallis lebte in einem kleinen Appartement in der Nähe der Portobello Road und teilte das pulsierende Leben der Swinging Sixties im damaligen Nabel der popkulturellen Welt. Die Freundschaft mit Mike Moorcock hält bis heute an.

Neben Crime-Autoren und Science Fiction verschlang Sallis vor allem französische Literatur. Eine Leidenschaft, die ihn die bis heute nicht loslässt und ihn 1993 SAINT GLINGLIN von Raymond Queneau ins Amerikanische übersetzen ließ.

Michael Moorcock

Als 1967 Auszüge aus Norman Spinrads Roman BUG JACK BARRON – eine bitterböse Geschichte über Medienmacht und Machtpolitik – in „New Worlds“ erschienen, befasste sich das Unterhaus mit dem Magazin, strich wegen Verbreitung angeblicher Obszönität die überlebenswichtige Kulturförderung und nannte Spinrad einen „Degenerierten“.
Als dann auch noch W.H.Smith, der größte Zeitschriftenverteiler „New Worlds“ aus dem Vertrieb nahm, stand dem Magazin, das eine so wichtige Rolle in der Entwicklung der modernen SF gespielt hatte, das Wasser bis zum Hals.

„Damals ging ich in die Staaten zurück, um meine Ehe zu retten. Es klappte nicht, und ich war zu arm, um wieder nach London zu gehen. Das bereue ich bis heute.“

Er schrieb weitere SF-Stories und gab zwei Anthologien heraus: THE WAR BOOK (1969) und THE SHORES BENEATH (1970). Daneben arbeitete er eine Weile als Kunst-, Literatur und Musikkritiker für „Boston After Dark“ und „Fusion“.

Eine seiner großen Leidenschaften ist die Jazzmusik, und seine legendären Besprechungen in „Texas Jazz“ führten zu den Büchern THE GUITAR PLAYERS (1982), JAZZ GUITARS (1984) und THE GUITAR IN JAZZ (1996). Er selbst spielt Waldhorn, Violine, Gitarre, Mandoline und Dobro und nennt seine musikkritischen und historischen Untersuchungen musicology. Einige Zeit spielte Sallis an Wochenenden in Clubs, um sein bescheidenes Gehalt als Lehrer aufzubessern. Er unterrichtete zeitgenössische Lyrik und Europäische Literatur am Clarion College in Pennsylvania und an den Universitäten in Washington, Tulane und Loyola, New Orleans, bevor er sich in Phoenix, Arizona niederließ, wo er heute mit seiner zweiten Frau Karyn lebt.

Die 70er Jahre waren sehr unstet, und Sallis ließ sich treiben, arbeitete in Krankenhäusern, kümmerte sich um Sterbende, schrieb Lyrik und soff die halben Alkoholvorräte des Südostens weg.

Ende der 80er Jahre beschäftigte er sich intensiver mit der Noir-Literatur und schrieb Essays über Jim Thompson, David Goodis und Chester Himes (sie wurden in dem Bändchen DIFFICULT LIVES, das 1993 im kleinen Brooklyner Verlag Gryphon erschien, gesammelt und werden auf Deutsch als Anhang der Griffin-Romane und in NOIR 2000 erscheinen).

Als er Anfang der 70er Jahre in New York lebte, entdeckte er Chester Himes, dessen absurd-realistische Romane ihn tief beeindruckten und zwei Jahrzehnte später Sallis Imagination für eine Noir-Serie aufladen sollten. „Meine Kenntnis von New Orleans und das Leben von Chester Himes inspirierten mich zu meinem Held Lew Griffin. Lews Passivität, die Art, wie er von Krise zu Krise getrieben wird und seine ausschließliche Liebe für weiße Frauen ist Chester Himes. Genauso sein Alkoholismus. Es gibt eine Menge Überschneidungen. Vieles ist von Himes‘ Roman THE PRIMITIVE (1955) inspiriert. Es ist das Buch von ihm, das ich am meisten bewundere. Ich kaufe jedes gebrauchte Exemplar in Secondhand-Shops, um sie zu verschenken. Ich wuchs im Süden auf und kenne die Welt der Schwarzen. Ich liebe schwarze Literatur und schwarze Musik. Als Kind spielte ich ausschließlich mit schwarzen Kindern. Bis ich zehn Jahre alt war und man mir sagte, dass das nicht mehr ginge.“

Natürlich bekommt Sallis heute öfters zu hören, dass es schon sehr merkwürdig sei, dass ein weißer Autor über einen schwarzen Protagonisten schreibe. Aber da ist Sallis nicht der erste: Zuvor taten die schon Ed Lacey, John Ball (die beide mehr oder weniger für dieses Unterfangen mit dem Edgar Allan Poe-Award ausgezeichnet wurden) und Shane Stevens.

Mit dem ersten Lew Griffin-Roman begann sein Durchbruch. Nun wurde er als Romancier und Erneuerer des Privatdetektivromans ernst genommen.

„Als ich begann, geschah in der Science Fiction ungeheuer viel neues. Michael Moorcock mit New Worlds und Damon Knight mit Orbit ermöglichten plötzlich tiefe, eigene Erfahrungen in phantastische Literatur umzusetzen, jenseits von Space Operas. Heute, denke ich jedenfalls, ermöglicht die Noir-Literatur diese innovativen Visionen bei einer eingeweihten Leserschaft. Die großen zeitgenössischen Kriminalliteraten sind großartige Schriftsteller, die auch außerhalb des Genres zu den besten zählen würden. Autoren wie Stephen Greenleaf, James Lee Burke oder George P.Pelecanos. Mit meinen Griffin-Romanen versuche ich die Energie und den klassischen Rahmen des Genres Private Eye-Novel mit intensiver Sprache und Charakteren zu verbinden. Damit das klar ist: Ich will das Genre nicht auflösen oder diskriminieren, ich nutze seine Kraft.“

Trotzdem sind diese Genre-Romane weniger Privatdetektivromane als Romane über einen Privatdetektiv. „Ich lese PI-novels Wegen der Atmosphäre und des Tons. Der Plot interessiert mich kaum.“ Die weiteren Charaktere, alles ausgereifte, dreidimensionale Persönlichkeiten, sind meistens Angehörige gesellschaftlicher Außenseitergruppierungen: Drogensüchtige, Homosexuelle, Prostituierte und Nachtarbeiter. „Ich selbst habe fast immer eine Randgruppenexistenz geführt und kenne diese Menschen am besten. Vielleicht mache ich es mir damit zu einfach, aber meine Werte – und die in meinen Büchern – sind mit Sicherheit nicht die der Mittelschicht. Eines meiner größten Vergnügen in diesen Romanen ist das Brechen von Klischees. Ich nehme ein Stereotyp wie etwa einen Privatdetektiv, um dann die gewohnten Vorstellungen zu brechen. Mit DEINE AUGEN HAT DER TOD habe ich dasselbe für den Agententhriller versucht.“

Neben den Romanen nehmen Literaturkritik und Essays weiterhin breiten Raum in seinem Schaffen ein. Er schreibt regelmäßig für die „Washington Post“, „New York Times Book Review“ und die „L.A.Times“. Als begeisterter Kriminalliterat hat er trotz seines Erfolges aber nie seine Verbundenheit mit dem Fandom verloren, und so schreibt er weiterhin unentgeltlich für „Mystery Scene“, „Crime Time“ und andere Magazine hochkarätige Besprechungen und Kritiken. Seine jüngsten Essays über George P.Pelecanos‘ DAS GROSSE UMLEGEN (DuMont Noir Band 6) und James Lee Burke (die in dem DuMont-Noir Reader NOIR 2000 auf Deutsch erscheinen), gehören zum Intelligentesten, das in jüngster Zeit über das Genre geschrieben wurde.

DEINE AUGEN HAT DER TOD war vielleicht ein einmaliger Ausflug von Sallis in die Welt der Geheimagenten. Aber der beklemmende, aufwühlende Roman ist – typisch Sallis – nur insofern ein Roman über Spionage und Agenten wie Graham Greenes BRIGHTON ROCK ein Roman über Jugendkriminalität in Südengland ist.

Es ist ein existentielles Katz-und-Maus-Spiel auf dem gigantischen Spielbrett der amerikanischen Landschaft und führt durch Diners und Motels, die das Schlachtfeld sprenkeln wie Plastikhäuschen ein Monopolybrett. Eine metaphysische Reise durch das Herz der Finsternis des amerikanischen Traumes.
Jonathan Lethem verglich das Buch mit Borges und Trevanians Klassiker SHIBUMI.

Sein Hauptwerk bleibt nach wie vor die Geschichte von Lew Griffin, die er, beginnend mit DIE LANGBEINIGE FLIEGE (DuMont Noir Band 11), in bisher fünf Romanen erzählt, die man als nouveau Privatdetektivroman bezeichnen kann.
Wie Queneau bricht Sallis die Erwartungen, die der PI-Genre-Leser den Büchern gegenüber hat. Als Queneau der Mean Streets ist sich Sallis der Künstlichkeit der Genrestruktur bewusst und lässt trotz aller Ernsthaftigkeit keinen Zweifel am fiktionalen. „Wenn Sie nicht wissen, daß Ihnen in diesen Seiten eine Geschichte erzählt wird, dann frage ich mich, wo zum Teufel Sie in den letzten vierzig Jahren gelebt haben? Schließlich geht es darum im Roman.“

Weiterhin überträgt er Rimbauds ästhetisches Konzept auf die Genre-Literatur: Pop-Literatur und populäre Kunst ist gemeinhin bestätigend. Sie sagt dem Rezipienten, dass alles, was er glaubt, richtig ist, bestätigt seine Sozialisation. „Man ist ein braver Junge, wenn man an die Normen glaubt. Wahre Kunst behauptet das Gegenteil: Woran du glaubst, ist nicht richtig. Nicht einmal annähernd. Also sollten wir mal ein bisschen nachdenken.“

THE LONG-LEGGED FLY wurde für den Shamus-Awar nominiert, ebenso MOTH; BLACK HORNET für den Golden Dagger Award der britischen Crime Writers Association und EYE OF THE CRICKET für den Anthony Award. Er erweitert das in Agonie dahinvegetierende Genre mit stilistischen Innovationen.
Dasselbe taten in den 60er Jahren die New Wave-Autoren James Ballard, Brian Aldiss, Mike Moorcock, Sam Delaney (über den Sallis einen Essay geschrieben hat) und andere in New Worlds für die Science Fiction.

Der Kreis schließt sich.

Bibliographie bis 1999:

A Few Last Words, 1972 (Kurzgeschichten)
The War Book, 1972 (Anthologie)
The Shores Beneath, 1973 (Anthologie)
The Guitar Players, 1973 (Musicology; Anthologie)
Jazz Guitars, 1982 (Musikkritik)
Difficult Lives, 1993 (Essays über Jim Thompson, Chester Himes und David Goodis)
The Guitar Players, 1994 (Erweiterte Neuauflage)
Limits of the Sensible World, 1994 (Mainstream-Kurzgeschichten)
Renderings, 1995 (Roman)
The Guitar of Jazz, 1996 (Musicology)
Ash of Stars, 1996 (Essays)
Death Will Have Your Eyes, 1997 (Thriller. Deine Augen hat der Tod, DuMont Noir Band 7)
Chester Himes: A Life, 1999 (Biographie)

Lew Griffin-Serie:
1. The Long-Legged Fly, 1992 (Die langbeinige Fliege, DuMont Noir Band 11)
2. Moth, 1993
3. Black Hornet, 1994
4. Eye of the Cricket, 1997
5. Bluebottle, 1999.



MAX ALLAN COLLINS – CRIME-DA VINCI AUS IOWA by Martin Compart

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Kürzlich ist auf Cinemax die Crime-Serie nach Max Allan Collins Killer-Serie QUARRY angelaufen.

QUARRY war die erste Serie über einen Berufskiller und seit langem kult.

Jemand wie Max Allan Collins ist im Genre völlig einmalig-er schreibt nicht nur grandiose Romane, er hatte auch eine Single in der Hit-Parade, drehte, schrieb und produzierte Filme (in einem spielt Spillane eine Hauptrolle), schrieb Comics (sein ROAD TO PERDITION wurde 2002 zu einem erfolgreichen Kinofilm mit Tom Hanks) und Movie-und TV-Tie-Ins, er arbeitete auch theoretisch und drehte u.a. das definitive Mickey Spillane-Portrait.5387105341 Kein anderer mir bekannter Autor ist so produktiv in unterschiedlichen Medien unterwegs! Und dabei hält er ein ungeheures Niveau.  Max ist sein eigenes Multiversum und sein Platz in den verschiedensten Kapiteln der Genres und Medien längst sicher.

Und Max kann sehr witzig und scharfsinnig zugleich sein:

„Some of you know that I’m a Democrat or a liberal or a progressive or something. I think of myself as slightly left of center, but my father thought of himself as slightly right of center, when he was slightly right of Genghis Khan. So who knows? I do know that I veer left when the right is getting out of hand, which they frequently do. I despise Fox News, because it isn’t news, it’s opinion labeled news, and you can always tell when you’re “talking” (i.e, arguing) politics with somebody whose news and info comes from Fox, because it’s always the same bite-size talking Points.“

Im deutschsprachigen Raum wird er zur Zeit nicht veröffentlicht. Das sagt mal wieder so einiges über die Branche aus.

Spillane war und ist er besonders verbunden: Seit 2007 beendet und bearbeitet er die Fragmente von Spillane zu neuen Büchern.

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Max gehört zu den Giganten der zeitgenössischen Kriminalliteratur und mein Nachwort zu BLUT UND DONNER (Dumont Noir 17; 1999) hier als kleine Würdigung gedacht:

DAS MULTITALENT AUS DEM MITTELWESTEN

Wie die Zeit vergeht… Es kommt mir wie gestern vor, als Max Allan Collins Anfang der 80er Jahre als  der Geheimtip und  Newcomer genannt wurde. Ein Multitalent, das gleichermaßen erfolgreich und anspruchsvoll in unterschiedlichen Medien arbeitete: max-2012-3001Er schrieb Comics (u.a. führte er den langlebigsten Crime-Strip DICK TRACY fort), machte mit seiner Garagenband die fetzigsten Songs in Iowa und schrieb Noir-Romane. Später kamen Film-Novilizations (Collins Bücher zu den jeweiligen Filmen sind mehr als hingeklatschte Drehbucherweiterungen) und Filmarbeit als Produzent, Autor und Regisseur dazu. Ganz nebenbei gibt er Anthologien heraus und schreibt auch noch Texte zu populärkulturellen Themen (sein umfangreicher und großformatiger Prachtband über den Pin-Up-Künstler Gil Elvgren ist nicht nur eine Augenweide, sondern auch eine brillante Analyse). Collins ist eine der kreativsten und produktivsten Autoren der zeitgenössischen Pop- und Noir-Kultur.

Collins wurde am 3.März 1948 in Muscatine (die Welthauptstadt der Perlmuttknöpfe!), Iowa geboren. Diese faszinierende Stadt mitten in den großen Getreidefeldern, direkt am Mississippi gelegen, hat etwas – sonst würde Max wohl nicht immer noch dort leben. Er war ein Einzelkind und entdeckte früh Comics und andere fiktionale Welten, die ihn schnell zu kreativen Aktivitäten anregten.

Seine Eltern Max Allan und Patricia Ann unterstützten die künstlerischen Neigungen von Collins jr. „In den Ferien mußte ich keinen Job annehmen. Sie ermutigten mich stattdessen, mein erstes Buch zu schreiben.“ Nach der Schule ging er 1968 auf die Universität in Iowa City, die er 1972 mit einem Bachelor of Arts und einem Master of Arts abschloß. Von 1968 bis 1970 war er Reporter für das Muscatine Journal.Im selben Jahr, als er auf die Universität ging, heiratete er seine Kindergartenliebe Barbara Jane, geborene Mull, mit der er zusammen den Sohn Nate hat.max_barbara-tn1

Von 1971 bis 1977 unterrichtete Collins Englisch am Muscatine Community College. Seitdem ist er freier Schriftsteller.

Max ist ein echtes Kind der 50er- und 60er Subkultur und nach wie vor ein Fan. Sein Interesse an Comics, TV, Film, Good Girl Art und Crime Fiction schlägt sich in einer Reihe von sekundärliterarischen Artikeln und Büchern nieder. Aber auch in seinen Romanen greift er populärkulturelle Themen immer wieder auf: Jon, der Sidekick von Nolan, ist ein Rockmusiker und Comic-Sammler, der sich in jedem Roman mit einem anderen Aspekt oder Genre des Mediums beschäftigt.

maxallancollins1Noch stärker finden sich Bezüge in seinen Mallory-Romanen: In A SHROUD FOR AQUARIUS setzt er sich mit der Gegenkultur der 60er Jahre auseinander und beschreibt melancholisch den Werteverlust der Hippie-Generation.

Mit Joe Lansdales SAVAGE SEASON, Campell Armstrongs CONCERT OF GHOSTS (KONZERT DER SCHATTEN; Bastei 13553, 1994), David Debins NICE GUYS FINISH DEAD (NETTE TYPEN STERBEN SCHNELLER; Goldmann 5816, 1995), Michael Dibdins DARK SPECTRE (INSEL DER UNSTERBLICHKEIT; Goldmann 1996) und George R. Martins ARMAGEDDON RAG (ARMAGEDDON ROCK; Fantasy Prod.1986; Heyne TB) eine der gelungensten Meditationen über diese Zeit – aus gegenkultureller Perspektive.

Die Krimi-Szene mit ihren Fans, Autoren und Cons machte er zum Mittelpunkt des Romans KILL YOUR DARLINGS, und in NICE WEEKEND FOR A MURDER beschäftigt er sich mit Rollenspielen.

MUSIK

Mitte der 60er Jahre grassierte ein Fieber quer durch die Vereinigten Staaten. Das Fieber hieß Garagenbands. Angeregt durch die Musik der britischen Invasoren – wobei für US-Garagenbands Rolling Stones, Animals oder Kinks immer wichtiger waren als die Beatles – gründeten Jugendliche in jeder kleineren und größeren Stadt Beatbands.collins1

Einige dieser Pre-Punk-Bands sind heute Klassiker; etwa die Electric Prunes, We the People, Seeds, 13th Floor Elevators, Brogues, Standells, Bad Seeds usw. Dabei bildeten sich oft erstaunliche regionale Unterschiede heraus. Aber eine Band aus Texas hatte neben den britischen R&B-Invasoren eben noch andere Einflüsse als eine Band aus Florida oder Iowa. Die meist nur regional, bestenfalls im ganzen Staat, veröffentlichten Singles (wenige dieser Bands durften/konnten ein oder gar mehrere Alben machen) sind heute gesuchte Raritäten und ernähren eine ganze Industrie von auf Rereleases spezialisierten CD-Firmen.

Die Plattenindustrie nahm schockiert dieses anarchische Ausleben des Rock’n Roll wahr und betrieb schleunigst die Zerstörung oder den Aufkauf kleiner Labels, mit dem bekannten Erfolg, die Pop-Musik endgültig zu standardisieren und von den großen Companys abhängig zu machen.

Auch Max verfiel 1966 dem Garagenphänomen und gründete seine erste Band, die Daybreakers, für die er auch Songs schrieb, oft lead vocals sang und die Keyboards spielte. Der Singleknaller PSYCHEDELIC SIREN von 1967, damals erschienen auf einem Label von Atlantic Records, genießt unter Garagen-Fans Kultstatus (zu finden auf der Vinyl-LP HISTORY OF EASTERN IOWA ROCK Vol.1). Nach dem Ende der Daybreakers gründete der bekennende Bobby Darin-Fan Cruisin, mit denen er bis 1979 harten Garagenrock und wunderbare Balladen einspielte. Seitdem gab es zu den unterschiedlichsten Gelegenheiten Reunion-Konzerte und 1986 ein echtes Reunion, das 1991 zu dem grandiosen Album BULLETS! führte.

COMICS

Von Kindheit an war Collins auch ein großer Comic-Fan. seductioncover11954, als Sechsjähriger, fing er sich diesen Virus ein, der ihn bis heute gefangen hält. „Mein Interesse an Comic Strips und fiktionalen Detektiven wurde am selben Tag geweckt. Meine Mutter (sie wußte es nicht besser) legte damals in meine kleinen, heißen Hände ein Heft voller Blut, Gewalt, Verbrechen und Detektion: ein DICK TRACY-Comic Book mit Nachdrucken der Strips.“ Collins versuchte sich selbst als kindlicher Zeichner. Seine Mutter schickte ein paar seiner Dick Tracy-Zeichnungen an Chester Gould und bat den Künstler, ihrem Sohn ein paar Zeilen zum Geburtstag zu schreiben. Gould sandte ihm den Gruß zum achten Geburtstag, und Max fiel aus allen Wolken.

„Dieser Brief änderte mein Leben. Er gab mir Selbstvertrauen. Heute hängt er gerahmt an einer Wand meines Büros. Chester schrieb mir, daß ich Dick besser zeichne als jeder andere Junge meines Alters.“

Deshalb griff er natürlich zu, als er 1977 die Chance erhielt, den großen Strip-Klassiker DICK TRACY als Texter zu übernehmen. Er schrieb den Zeitungsstrip bis 1993 und verstand es, ihm neues Leben einzuhauchen, indem er an Goulds klassische Perioden anschloss.

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Max säuberte die Serie von dem fantastischen Schrott, der sich in den 6oer Jahren eingeschlichen hatte (Abenteuer auf dem Mond, zuviele unwahrscheinliche Gadgets usw.), indem er alte Figuren neu belebte, den Schwerpunkt auf Krimi- und gelegentlich Soap-Elemente legte, und neben neuen, originellen Gegenspielern neuartige Verbrechen (Computerkriminalität, Stalker usw.) einführte.

„Das Schwierigste war, sich die Verbrechen auszudenken. DICK TRACY gibt es seit 1931, und der Strip läuft Tag für Tag. Kaum ein Verbrechen, daß in dieser Zeit nicht abgehandelt wurde. Zum Glück – oder leider – fallen dem menschlichen Gehirn aber immer neue Abscheulichkeiten ein.“

ms_tree_211Zusammen mit dem Muscatiner Zeichner Terry Beatty (der auch das CD-Cover von BULLETS! gestaltete) entwickelte Collins eine Comic Book-Serie über einen weiblichen Privatdetektiv:

MS.TREE läuft noch heute, und ist somit die langlebigste Crime Comic Book-Serie der amerikanischen Comic-Geschichte.

„Die Ausgangsidee war, was wäre passiert, wenn Velda Mike Hammer geheiratet hätte, und Mike am Hochzeitstag umgelegt worden wäre. Hätte Velda nicht die Geschäfte übernommen und Mikes Mörder gejagt?“

Auch als BATMAN-Texter trat Collins hervor (beginnend mit den Heften BATMAN No.402 und No.403).

FRÜHE SERIEN

Natürlich zählt auch Collins die großen Noir-Autoren von Hammett, Chandler über Cain, Thompson und Goodis zu seinen Einflüssen. Aber den stärksten Eindruck machten Donald Westlake (als Richard Stark) und Mickey Spillane auf ihn:

„Westlake ist der beste zeitgenössische Kriminalliterat. Ich liebe Spillane! Niemand jagt den Leser durch die Seiten wie Mickey. Ich meine die frühen Sachen, die ersten sechs oder sieben Romane, die er als junger Mann geschrieben hat. Es gibt in der gesamten Literatur nichts Vergleichbares.“ 1999 drehte Max ein Feature über seinen Freund Spillane.nolan-hush-money-by-max-allan-collins1

Während der High School schrieb der sechzehnjährige Max sechs Romane, die kein Verleger haben wollte. Aber er gab nicht auf, schrieb weiter.

Kurz vor seinem Abschluß verkaufte er einen Roman, den ersten Nolan-caper: BAIT MONEY (im Manuskript noch FIRST AND LAST TIME getitelt), der, wie Max nicht müde wird zu betonen, „viel, fast alles, Donald Westlakes Parker-Romanen verdankt“.

In der ersten Fassung des Romans stirbt Nolan, der Dieb, der von der Mafia und der Polizei gehetzt wird, am Ende. Collins hatte endlich einen Agenten gefunden: den legendären Knox Burger, der in den 50er- und frühen 60er Jahren bei Dell und Fawcetts Gold Medal Books für die Paperback Originals verantwortlich war. Dort veröffentlichte er u.a. das Werk von David Goodis, Jim Thompson, John D.MacDonald, Kurt Vonnegut und Theodore Sturgeon.ahr0cdovl2jvb2tsb29rzxiuzguvaw1hz2vzl2nvdmvyl2xvy2fsl3n0yw5kyxjklzawl0wxl1lplmpwzw1

„Nach jeder Ablehnung sagte mir Knox, ich solle das Ende ändern und Nolan am Leben lassen. Langsam zeigte das Wirkung. Aber ursprünglich hatte ich die letzte aller tough guy-Stories schreiben wollen. Tough guys last stand. Dann hatte angeblich der Lektor bei Pyramid Books Kaffee über das Manuskript geschüttet. Knox meinte, da ich ein neues Manuskript tippen müsse, könne ich jetzt auch das Ende neu schreiben.“ Collins tat es, und ließ Nolan überleben, um ihn zu einem Seriencharakter auszubauen.

Neun Jahre hatte er versucht, seine Arbeiten zu verkaufen, bevor er 1971 seinen ersten Deal gelandet hatte. Von BAIT MONEY wurden seitdem weltweit über 250 000 Exemplare verkauft. Die weiteren Nolan-Romane waren ein ganz ordentlicher Erfolg, aber bald gab es ein Problem, von dem sich die Serie nicht mehr erholen sollte:

1981 übernahm der Verlag Harlequin Books von Pinnacle, bei dem Nolan jetzt erschien das Imprint Gold Eagle, in dem Don Pendletons Executioner-Serie über den Mafia-Killer Mack Bolan (diese Serie hatte in den 70er Jahren die Vigilantenwelle in den Paperback Original-Serien ausgelöst) erschien. Harlequin drohte Pinnacle einen Prozeß an. Sie behaupteten, Nolan sei eine juristisch nicht zulässige Kopie von Pendletons Executioner, und das die Namensähnlichkeit von Bolan und Nolan nicht zufällig sei. Größeren Schwachsinn kann man sich kaum vorstellen. Bolan war ein Söldner, jung, gutaussehend, ein Frauenheld und eiskalter Killer im Dienste seiner eigenen Gerechtigkeit. Nolan ein fünfzigjähriger Dieb, der einen Comic Fan als sidekick hatte. Wenn irgendjemand gegen die Nolan-Serie hätte klagen können, wäre es Donald Westlake gewesen, der aber dieses rip-off seiner Parker-Serie mochte und dem Autor Erfolg wünschte. Collins hatte ihn nach dem ersten Band sogar gefragt, ob er Nolan als Serie fortsetzen könne, oder Westlake sich plagiiert fühle. Westlake hatte ihm damals geantwortet, daß Nolan anders als Parker sei, und die Beziehung „zwischen Nolan und Jon menschlicher ist als alles, was ich je in den Richard Stark-Büchern geschrieben habe“. quarrymiddle1

Aber das interessierte die Idioten bei Harlequin nicht, die keine Gelegenheit scheuten, ihre ins Schlingern gekommene Mafiakiller-Serie vor gefährlicher Konkurrenz zu schützen.

Dabei wandten sich beide Serien an verschiedene Lesergruppen: Pendleton mit seinen primitiven Pulps, die von einer Legion von Autoren geghostet wurden, war eher Fernfahrerlektüre und für Leute, die beim Lesen die Lippen bewegen. Collins war schon damals ein sorgfältiger Autor, der jedem Buch eine individuelle Note verlieh. Jedenfalls knickte Pinnacle ein, obwohl es nicht zu einer rechtlichen Auseinandersetzung kam, die Pinnacle und Collins leicht gewonnen hätten. Der Verlag nahm Nolans Namen bei den Bänden fünf und sechs vom Cover, was zu dramatischen Einbrüchen bei den Verkaufszahlen führte. Es kam zwar nicht zum Prozeß, aber die Serie war erledigt und wurde eingestellt. Erst 1987 veröffentlichte Max einen weiteren Nolan. Seine zweite Noir-Serie hatte den Vietnamveteranen und Kontraktkiller Quarry als Protagonisten. Über die beiden frühen Serien sagte Max: „Ihre Amoralität spiegelt die Zeit wieder, in der sie geschrieben wurden.“

9783404131044-de-3001NATE HELLER

1975 trat Rick Marshall, der Comic-Redakteur des Field Enterprise Syndicate, an Collins heran. Collins war ihm als Autor und Comic-Kenner aufgefallen und sollte nun einen neuen Strip für Field entwickeln. Ein neuer Crime-Strip, der in den 30er Jahren spielen sollte, um so den Anschluß an die klassischen Abenteuerstrips dieser Epoche (Terry & Pirates, Prinz Eisenherz, Dick Tracy, Tarzan, Secret Agent X-9 usw.) zu suggerieren.

Collins erfand den Detektiv Nate Heller und siedelte ihn im Chicago der 30er Jahre an; Titel der Serie sollte HEAVEN AN HELLER sein. Aber bevor das Projekt realisiert werden konnte, verließ Marshall das Syndikat. Obwohl er mehrfach versuchte, den Strip unterzubringen, fand er kein Vertriebssyndikat. Ähnliches war Spillane passiert: MIKE HAMMER war ursprünglich auch als Comic geplant gewesen.

Es war die Zeit des großen Sterbens der Adventure-Strips. Selbst Klassiker wie TARZAN oder STEVE CANYON verloren immer mehr Zeitungen, in denen sie veröffentlicht wurden, und TERRY AND THE PIRATES und andere wundervolle Serien aus dem Golden Age wurden völlig eingestellt. Fast nur noch Funnys, also komische Strips mit abgeschlossenen Gags, bevölkerten die Comic Strip-Seiten der Tageszeitungen. Max kehrte zurück zum Romanschreiben (zwei Jahre später sollte er dann als Texter DICK TRACY übernehmen und diesen Dinosaurier revitalisieren).

„Ich habe Privatdetektiv-Romane immer geliebt. Aber alle Versuche, solche Geschichten zu schreiben, scheiterten. Für mich war der Privatdetektiv ein Anachronismus, aktuell nur erträglich in einer so wundervollen TV-Serie wie DETEKTIV ROCKFORD. Dann kam ich drauf: Der Privatdetektiv war vielleicht Geschichte, aber er existierte auch in der Geschichte. Hammett hatte den Archetypen Sam Spade 1929 erfunden, als Zeitgenosse von Al Capone. Der Privatdetektiv als literarische Figur ist offenbar alt genug, diese historische Variante zu rechtfertigen. Das war mein Ausgangspunkt. Außerdem wollte ich ein genaues Zeitbild beschreiben, nicht einfach eine weitere nostalgische Privatdetektivserie absondern. Um all das unterzubringen, braucht man schon etwas mehr Platz. Deshalb sind meine Nate Heller-Romane auch doppelt- oder dreifach so lang wie meine sonstigen Romane.“

TRUE DETECTIVE hielt lange Zeit den Rekord als längster Privatdetektivroman, der je in der ersten Person geschrieben worden war. Collins stellte diesen Rekord selbst ein mit STOLEN AWAY über die Entführung des Lindbergh-Babys.

Der Noir-Roman entdeckte die historische Perspektive relativ spät über den Umweg des Polit-Thrillers, der historische Ereignisse oder Persönlichkeiten in den Mittelpunkt stellt (etwa Frederick Forsyths DAY OF THE JAKAL oder Ken Folletts EYE OF THE NEEDLE).

Drehbuchautor Andrew Bergman schrieb 1974 mit THE BIG KISS-OFF 1944 den ersten von zwei Romanen, die im Hollywood der 4oer Jahre spielen. Stuart M.Kaminsky begann ein Jahr später mit seiner Serie um den Hollywood-Privatdetektiv Toby Peters, der es in jedem Fall mit einem anderen Hollywood-Star aus den 40ern zu tun hat. 1975 veröffentlichte Joe Gores seine Hommage an den Urvater: HAMMETT. Ed Mazzaro schrieb in dieser Zeit ebenfalls einige Romane, die in den 30er Jahren spielten.

Der erste Heller-Roman, TRUE DETECTIVE, wurde 1984 mit dem Shamus-Award der Private Eye Writers of America ausgezeichnet.

Die Heller-Romane sind mehr als unterhaltsame period pieces à la Andrew Bergman oder Stuart Kaminsky; sie sind Rekonstruktionen einer Epoche. Die auftretenden historischen Personen sind keine Staffage, sondern integraler Bestandteil der Plots. „Bergman und Kaminsky schrieben im Grunde Romane, die ich als Epochenschilderungen bezeichnen würde; sie bedienen sich zwar geschickt realer Personen und Schauplätze, doch sie gehen nicht von realen Ereignissen jener Zeit aus.“

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DEUTSCHE AUSWAHL-BIBLIOGRAPHIE (stand 1998; da Max so produktiv ist, dass man als Bibliograph kaum hinterher kommt, empfehle ich die immer aktualisierte Homepage: http://www.maxallancollins.com/books/).

Nicht aufgeführt sind Comics und nur wenige Tie-ins, die bei uns veröffentlicht wurden (z.Bsp.: Der Soldat Ryan, CSI usw.).

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Nate Heller-Serie:

True Detective (Chicago 1933; Bastei 13015, 1985); St.Martin’s Press, 1983.

collins-heller01-chicago-1933-cover-klein1True Crime (Gangsterbräute 1934; Bastei 13036, 1986); St.Martin’s Press, 1985.

The Million-Dollar Wound (Gangsterkrie 1942; Bastei 13104, 1987); St.Martin’s Press, 1986.

Neon Mirage (Las Vegas 1946; Bastei 13261, 1990); St.Martin’s Press, 1988.

Stolen Away (Kidnapping; Bastei 13460, 1993); Bantam, 1991

Blood and Thunder (Blut und Donner; DuMont Noir 17, 1999); Dutton, 1995.

 

Nolan-Serie:

Bait Money (Köder für Nolan; Bastei 19087, 1990); Curtis, 1973.

Blood Money (Bußgeld für Nolan; Bastei 19093, ?); Curtis

Quarry-Serie:

The Broker (auch: Quarry. Quarry u.d.Makler d.Todes; Bastei 19061, 1988); Berkley, 1976.

The Broker’s Wife (auch: Quarry’s List. Quarry u.d.Liste d.Todes; Bastei 19064, 1988); Berkley, 1976.

The Dealer (auch: Quarry’s Deal. Quarry u.d. Killer; Bastei 19066. 1988); Berkley, 1976.

The Slasher (auch: Quarry’s Cut. Quarry gibt nicht auf; Bastei 19079, 1990); Berkley, 1977.

Primary Target (Quarry u.d.Millionenkontrakt; Bastei 19071, 1989); Countryman, 1987.

Mallory-Serie:

The Baby Blue Ripp-Off (Ein Veteran kehrt heim; Bastei 19103, 1987); Walker, 1983.

No Cure for Death (Der Einäugige; Bastei 19105, 1987); Walker, 1983.

Kill Your Darlings (Mordkongress; Bastei 19106, 1987); Walker, 1984.

A Shroud For Aquarius (Auch Blumenkinder sterben; Bastei 19115, 1987); Walker, 1985.

A Nice Weekend for a Murder (Wochenendmorde; Bastei 19123, 1988); Walker, 1986.

 

Eliot Ness-Serie:

The Dark City (Die dunkle Stadt; Bastei 19129, 1989); Bantam, 1987.

Butcher’s Dozen (Killer in der dunklen Stadt; Bastei 19139, 1990); Bantam, 1988.

 Non-Series:

Dick Tracy (Filmbuch. Dick Tracy; Bastei 13311, 1990)); Bantam, 1990.

NYPD-Blue: Blue Beginning (TV-Buch. Ein Bourbon zuviel; VGS, 1996); Signet, 1995.

Waterworld (Filmbuch); Arrow, 1995.

Private Ryan (Filmbuch. Der Soldat James Ryan; Knaur 61263, 1998); Signet, 1998.

 

Sekundärliteratur:

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Jim Thompson: The Killers Inside Him (mit Ed Gorman); Fedora Press, 1983.

 

One Lonely Knight: Mickey Spillane’s Mike Hammer (mit James L.Traylor);Bowling Green State University Popular Press, 1984.

 

The Best of Crime and Detective Television (mit John Javna); Crown, 1988.

 

The Mystery Scene Movie Guide: A Personal Filmography of Modern Crime Pictures; Borgo Press, 1995.

 

Elvgren: His Life & Art (mit Drake Elvgren); Collectors Press, 1998.

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NOIR-WESTERN: JOE R.LANSDALEs DAS DICKICHT by Martin Compart
30. Juni 2016, 8:03 am
Filed under: DUMONT NOIR, Joe R.Lansdale, Noir, Rezensionen, Western | Schlagwörter: , , , ,
Das Dickicht von Joe R Lansdale

Das Dickicht von Joe R Lansdale

 

 

Das hat man doch alles schon x-Mal gelesen oder gesehen:

Die Schwester des Helden wird von Schurken entführt und der Held stellt daraufhin ein Wild Bunch zusammen, mit dem er die bösen Jungs verfolgt bis zum Showdown in einer möglichst schaurigen Umgebung.

Denkt man.

Und dann kommt Joe R.Lansdale daher und erzählt diese Geschichte, wie man sie eben doch noch nie gelesen oder gesehen hat. Es ist seine Version von TRUE GRIT, einem Schlüsselroman des Noir-Westerns.

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Angefangen beim Ich-Erzähler. es ist ein weiterer Spät-Western oder Heimatroman (er spielt ca.915), dessen Held ein Junge an der Schwelle zum Erwachsenwerden ist. Lansdale hat wieder seine „Mark Twain-Stimme“ und berichtet, wie zuvor in THE BOTTOMS, EDGE OF DARK WATER oder A FINE DARK LINE, über die Vergangenheit seiner Heimat Ost-Texas als Western. Authentisch, noir und mit einer berauschenden Sprache beschreibt er die Düsternis der glorreichen Vergangenheit eines Teilstaates der USA, der eher zum Süden, wie Louisiana gehört, als zum Südwesten wie Texas. Damit streift er auch immer wieder „Gothic-Themen“ (nicht von Ungefähr schrieb Lansdale Weird Western wie die Comic-Serie JONAH HEX). „A glory that costs everything and means nothing“, wie Steve Erickson sagte.

Die Schurken des Buches gehören zu den übelsten der jüngeren Noir-Literatur. Ihre Bösartig erwächst genau daraus, was der Western als amerikanische Ideologie so gerne verkündet: die rücksichtslose Durchsetzung eigener Interessen, die weder vor Tötung noch Sabotage des Allgemeinwesens zurück schreckt.  Wobei das hier geschilderte Allgemeinwesen auch nicht gut davon kommt .Die Lynch-Szene, die der junge Protagonist beobachtet, zeigt die Stadtbewohner kaum weniger barbarisch als die Outlaws,

Lansdale gehört zu den kraftvollsten Stimmen der US-Literatur und nur wenige andere haben ein ähnlich breites Spektrum: SF, Fantasy, Crime, Western, Horror. In allen von ihm gewählten Genres schreibt er Herausragendes.

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Dieser Roman gehört zu seinen besten. Alles ist da, was man von Lansdale erwartet: Knallige Dialoge, aberwitzige Charaktere, beängstigende Naturbeschreibungen und ein flüssiger Stil, dessen Feinheit leicht erscheint, da er das rasante Tempo voran treibt. Nebenbei lässt er seine Figuren anregend und charakteristisch über Gott und die Welt philosophieren. Für seinen intelligenten Witz ist der Autor hinreichend bekannt. Cormac McCarthy behält immer eine gewisse Distanz zum Leser; Lansdale saugt ihn auf und zwingt ihn in seinen Kosmos, gibt ihm keine Chance, aus dem Buch auszusteigen.

Eine der Wurzeln der Noir-Literatur ist die Hard-boiled Novel, Diese hat wiederum einiges dem Western-Genre zu verdanken. Eine Beziehung zwischen Noir und Western ist naheliegend und gibt es schon länger, auch wenn das außerhalb des Medium Films seltener geschah. Neuere Autoren wie Tom Franklin oder James Carlos Blake haben den Noir-Western neue Popularität verschafft – dazu demnächst mehr.

 

Als Anhang mein altes Lansdale-Nachwort aus DUMONT NOIR Bd.23 SCHLECHTES CHILI. Einiges ist inzwischen veraltet, und die Bibliographie natürlich nicht auf dem neuesten Stand.

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DER MANN AUS TEXAS

„Das Blöde ist, die Leute denken, wenn sie meine Bücher lesen: So läuft das also in Texas. Aber das stimmt nicht. Es sind Romane. Wenn ich über Maine schriebe, würde ich über die dortigen bösen Buben schreiben. Verdammt nochmal, ich bin Kriminalschriftsteller und kein Angestellter des Touristenverbandes. Ich suche mir die Bereiche der menschlichen Natur aus, die ich beleuchten will. Das heißt doch nicht, daß in Texas an jeder Ecke ein Rassist oder ein brutaler Redneck lauert. Aber man kann es natürlich auch nicht verschweigen. Das Böse lauert überall in den USA“, sagt Joe R.Lansdale und sieht dabei aus wie die Idealbesetzung für sein alter ego Hap. Kein Kerl, der sich von einem Dorfschläger ungestraft ein Bier über den Kopf schütten läßt. Lansdale ist ein echter tough guy, der in seinem Leben oft die dornigen Straßen gewählt hat, und für den Überleben auch Kampf ist. Und er ist ein Mann von Ehre: „Wenn es keine Guten in dieser Welt gäbe, die aufstehen und sich gegen das Böse stellen, wäre alles noch schlimmer. Die paar Aufrechten sorgen dafür, daß der Scheck nicht platzt.“ Dabei hilft dem Schwarzgurt natürlich auch, daß er seit über dreißig Jahren Kampfsport betreibt. Wenige andere Autoren in der zeitgenössischen amerikanischen Literatur haben das Ohr so dicht am bösen Herzen Amerikas.

image004[1]Kaum ein Autor zeigt so unsentimental und konsequent wie sich das Böse in God’s Own Country eingeschlichen und festgesetzt hat. Und das erschreckendste dabei: Seine Figuren sind dreidimensional, absolut lebenswirklich und keine dumpfen Horrorgestalten. Lansdale läßt den Leser zwar nicht unbedingt an jeder Entwicklung seiner Schurken teilhaben, aber er verharmlost sie auch nicht als Comic-Bösewichter. „Das Böse besteht für mich darin, wie Menschen miteinander umgehen. Dummheit und sogar Gemeinheit müssen nicht unbedingt wirklich böse sein. Gemeinheit kann natürlich tief böse sein. Selbst dumme Menschen können böse Handlungen begehen. Das Böse kommt von innen, und die Art und Weise, wie man als Kind behandelt wurde, hat viel damit zu tun. Ich denke aber auch, daß eine bestimmte genetische Disposition genauso wichtig ist. Durch eine bestimmte Sozialisation kann die aktiviert werden. Wenn man einem Kind kein Mitgefühl vermittelt, wird es nie mitfühlen lernen. Ich bin davon überzeugt, daß es Menschen gibt, die ohne die Fähigkeit zum Mitfühlen geboren werden. Ihnen fehlt die genetische Disposition. Manche Leute sind so intensiv Ich-bezogen, daß sie andere nicht mal als Lebewesen wahrnehmen. Schlecht gepolt. Und die können sehr, sehr böse sein.“

An Gerechtigkeit glaubt er sowieso nicht mehr; jedenfalls nicht, was ihre Durchsetzung durch staatliche Strukturen, die er als verrottet analysiert, angeht. „Klar ist da auch Vigilantismus in meinen Romanen. Hap und Leonard überschreiten diese Grenzen zur Selbstjustiz. Ich bin aber kein Anhänger des Vigilantentums. Eher ein Anhänger simpler alttestamentarischer Moral. Es ist nun mal so, daß korrupte Bullen oder einflußreiche Gangster über dem Gesetz stehen. Bei mir geht es um Fegefeuer und Verdammnis. Naja, Pistolenfeuer und Verdammnis.“

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Joe Richard Lansdale wurde am 28.Oktober 1951 in Gladewater, Texas geboren. Eine ehemalige Öl-Stadt, die nach dem Boom völlig herunterkam. „War ein verdammt harter Ort zum Leben.“ Dort und in Mount Enterprise wuchs er auf. Sein Vater hatte während der Depression als Kirmesboxer den Lebensunterhalt verdient und vermittelte dem Sohn eine eiserne Arbeitsethik. Obwohl seine Eltern keine gebildeten Leute waren, ermutigten sie den Sohn, der sich zu einer Leseratte entwickelte und als Junge schon Geschichten schrieb. „Ich saß rum und las im Wörterbuch. Ich las die Bibel und die Werke Shakespeares. Natürlich auch Lone Ranger- und Superhelden-Comics. Edgar Rice Burroughs, und ungefähr mit vierzehn entdeckte ich die Noir-Romane der Gold Medal-Reihe.“ Noch auf der High School arbeitete er nebenher als Müllmann. Er studierte in Austin und Nacogdoches an der University of Texas mit Unterbrechungen, in denen er mit allen möglichen und unmöglichen Jobs Geld verdiente, unter anderem als Ziegenzüchter und Feldarbeiter. Wie Hap schlug er sich mit den unterschiedlichsten Jobs durch: Saisonarbeiter auf den Farmen, Industriearbeiter oder als Handlanger für Klempner und Teppichleger. „Ich habe alle Jobs gemacht, die auch Hap hatte. Er hat viel von mir. Er ist so wie ich, wenn ich etwas weniger ambitioniert wäre und ein paar blöde Fehler mehr gemacht hätte. Natürlich hat auch Leonard Aspekte von meiner Persönlichkeit. Man kann nicht über jemanden schreiben, der nichts von einem selbst hat. Egal ob es ein Ganove oder eine Frau ist. Aber Leonard basiert auch auf einigen Leuten, die ich kenne.“lansdale_joe_r[1]

Neben seinen miesen Jobs schrieb er. Lansdale war ein aktiver Gegner des Vietnamkrieges und wollte eher ins Gefängnis gehen, als für die Interessen des militärisch-wirtschaftlichen Blocks in Südostasien Leute zu ermorden oder selbst ermordet zu werden. Ein wohlmeinender Arzt schrieb ihn untauglich, so blieb ihm im Gegensatz zu Hap das Gefängnis erspart. „Eigentlich war das ein harter Knochen. Aber vielleicht hatte er zuviele Jungs rübergeschickt und in Leichensäcken zurückkommen sehen.“ 1970 heiratete er zum ersten Mal und wurde zwei Jahre später geschieden. 1973 heiratete er Karen Ann Morton, die er an der Universität kennengelernt hatte. Gemeinsam mit ihr gab er die Kurzgeschichtensammlung DARK AT HEART heraus. Mit Sohn und Tochter leben die Lansdales in Nacogdoches, 32260 Einwohner.

Pulpmaster_Berlin_06[1]Schon als Kind hatte er Schriftsteller werden wollen, und 1981 machte er seinen Traum war und wurde hauptberuflicher Autor. „Ich war ein Hausmann. Wenn meine Frau als Dispatcher der Feuerwehr arbeitete, saß ich daheim, hütete meinen Sohn und schrieb. Er schlief kaum, und ich konnte nur in zwanzig Minuten Intervallen schreiben. Einiges von dem Zeug war wirklich fürchterlich, und ich bekam tausend Ablehnungsschreiben.“ Wie Kollege Loren D.Estleman einmal richtig bemerkte: „Erfolg ist eine Frage des Portos.“ Im selben Jahr erschien sein erster Romasn ACT OF LOVE. Es war sein erster Noir-Thriller und ein Blick in die Psyche eines Serienkillers, lange bevor Serial killer-novels zu einem breitgetretenen Subgenre wurden. Das Buch ist hart, rücksichtslos und gilt einigen Fans, wie Bill Crider, als Lansdales am besten konstruiertes Buch. „Ich will den Tod nicht trivialisieren. Manche Szenen sind so brutal, weil ich die Gewalt nicht verharmlose. Ich war früher in einige Schlägereien verwickelt und weiß, was Gewalt bedeutet. Das heißt nicht, daß ich mich gerne prügele. Ganz im Gegenteil: Ich hoffe, ich werde nie wieder eine gewalttätige Auseinandersetzung erleben.“grlg[1] Zuvor hatte er bereits zahlreiche Kurzgeschichten in semi-professionellen Magazinen, sogenannten Fanzines, veröffentlicht. Berühmt wurde er in den 80er Jahren aber vor allem durch seine Kurzgeschichten, besonders seine Horror-Stories. „Wenn der Kontostand sich bedenklich senkte, lieh ich mir ein billiges Horror-Video aus. Meine Frau machte Popcorn, und ich setzte mich damit vor den Rekorder. Jedesmal, wenn ich das Popcorn aß und einen miesen Film sah, bekam ich die unglaublichsten Wachträume und Ideen für Stories. Wahrscheinlich lag es an dem Fett.“

Lansdale schrieb eine große Anzahl von Horrorgeschichten, die wirklich Angst machen. Seine besten gehören zum Allerbesten was in diesem Genre je geschrieben wurde. Da hat er wohl gelernt, wie man eine Atmosphäre aufbaut, die dem Leser Schweißperlen auf die Stirn treibt und den Herzschlag erhöht. Mit traumwandlerischem Gespür weiß er genau, was er beschreibt und – oft noch wichtiger – was er weglassen muß, um den Leser an der Gurgel zu packen und durchzuschütteln. Lansdale-Lektüre ist eine gute Diät: Man verliert Gewicht dabei. Für Furore sorgte er am Anfang seiner Karriere in der Splatter-Punk-Szene, für die er ultrabrutale und gnadenlos geschmacklose Stories schrieb, die jeden Vergleich mit Clive Barker aushalten. Aber es wäre zu kurz gegriffen, ihn auf den reinen Splatter-Punk zu reduzieren. Lansdale experimentierte schon früh mit cross-overs und schrieb einige beeindruckende Synthesen aus Western und Horror wie den Roman THE MAGIC WAGON. Lovecraft meets Louis L’Amour.

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1988 erhielt er für THE NIGHT THEY MISSED THE HORROR SHOW den Bram Stoker Award, ein Jahr später für die Novelette (Kurzroman oder Novelle) ON THE FAR SIDE OF THE CADILLAC DESERT WITH DEAD FOLKS ebenfalls. Lansdale, der ein typisches Multimedia-Kind der Swinging Sixties ist, interessierte sich immer auch für Comics (darin ist er Max Allan Collins ähnlich) und nahm begeistert das Angebot des DC-Verlages (SUPERMAN, BATMAN) an, für die mit Horrorelementen durchsetzte Serie JONAH HEX zu schreiben. Für die Episode TWO GUN MOJO wurde er 1994 ebenfalls mit dem Bram Stoker Award ausgezeichnet. 1997 dann nochmals für die Novelle THE BIG BLOW. Außerdem erhielt der ehemalige Vizepräsident der Horror Writers of America noch den British Fantasy Award und den American Mystery Award. Die JONAH-HEX-Geschichte RIDERS OF THE WORM AND SUCH verursachte eine rechtliche Auseinandersetzung: Die Bluesmusiker Johnny und Edgar Winter verklagten den DC-Verlag, weil in dem Comic zwei „halb-menschlich, halb Wurm“-Albino-Bösewichter mit den Namen Johnny und Edgar Autumn ihr Unwesen trieben. Der Comic Book Legal Defense Fund kam zu Hilfe und berief sich auf das Recht auf freie Rede. „War eine Satire über Gestalten aus der Öffentlichkeit“, grinst Lansdale, der damit einmal mehr die Grenzen des guten Geschmacks hinter sich gelassen hatte. 1994 drehte James Cahill auf Video eine 20 Minuten lange Version von DRIVE-IN DATE, zu der Lansdale das Drehbuch schrieb.

Zu den Autoren, die ihn beeinflußt haben, zählt er Richard Matheson, Dean R.Koontz, Evan Hunter und Flannery O’Connor. „Von Edgar Rice Burroughs habe ich gelernt, wie wichtig das Tempo für einen Roman oder eine Novelle ist. Auch Kipling, Jack London, Mark Twain, Conan Doyle oder Max Brand wußten das. Eine ganze Reihe von Autoren haben mir etwas gegeben. Darunter William Goldman, T.V.Olsen, Ray Bradbury, Jack Finney, William F.Nolan, Robert Bloch, Harry Crews, Raymond Chandler, Hammett, James M.Cain, Gerald Kersh, Harlan Ellison, Pete Hamill, William Kotzwinkle… Ich könnte die Liste endlos fortsetzen. Außerdem bin ich natürlich vom Kino, Radio, Fernsehen und Comics beeinflußt.“ 1996 beendete Lansdale ein Fragment seines Idols Burroughs zum Roman TARZAN: THE LOST ADVENTURE.

„Ich bin ein Regionalist. Ich schreibe fast ausschließlich über Osttexas. Ich sehe mich aber auch in der Tradition von Jack London und Mark Twain: als Unterhaltungsautor, der auch etwas über die Welt zu sagen hat. Ich meine damit nicht, daß ich in derselben Liga wie London oder Twain spiele, aber ich eifere ihnen nach und habe dieselbe Zielsetzung. Ich sehe mich nicht als Nihilist oder Existentialist. Das interessiert mich gar nicht. Aber eher bin ich existentialistisch orientiert als nihilistisch, obwohl ich natürlich nihilistische Charaktere beschreibe. Ich sehe mich als eine Kombination aus Realismus und Humanismus.“

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Der erste Hap & Leonard-Roman SAVAGE SEASON ist eine Abrechnung mit den 60er Jahren. „Ich wollte in einem Buch darstellen, was aus den Idealen dieses Jahrzehnts geworden ist. Es gab damals einen Moment, als wir glaubten, wir könnten Utopia errichten. Wahrscheinlich war das immer nur eine mythische Vorstellung, aber wir waren jung genug, um zu glauben, daß alles möglich sei und wir wirklich die Welt verändern könnten.“ Der Roman ist ein harter, schwarzer Thriller und eine Meditation über den langsamen Tod des 60er Jahre-Idealismus. Hap ist den Idealen der 60er treu geblieben, aber kein blauäugiger Idealist. Der Pragmatiker Leonard, geprägt durch die Black Experience, hat als Vietnamveteran die Swinging Sixties aus einer weniger romantischen Perspektive erlebt und neigt nicht im geringsten zur Verklärung. Daß Leonard Pine ein schwarzer Homosexueller ist und Hap hetero, macht die Freunde zu einem der ungewöhnlichsten Duos des modernen Noir-Romans. „Ich habe immer gegen die Trends im Buchgeschäft gearbeitet. Und jedesmal nach einigen Jahren festgestellt, daß sich das Klima in meinem Sinne geändert hat. Leider habe ich nie davon profitiert. Heute sieht man schwule Charaktere ganz selbstverständlich und nicht diskriminiert in Büchern, Comics, Filmen oder Fernsehserien. Eine Menge schwuler Leser haben mir geschrieben, daß sie Leonard mögen, weil er keine Stereotype ist. Ich bin sehr stolz auf dieses Urteil.“

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Hap und Leonard waren nicht als Serienprotagonisten geplant. „Ich wollte kein weiteres Buch über Hap und Leonard schreiben. Als ich MUCHO MOJO begann, funktionierte das Buch nicht. Erst als ich Hap und Leonard in die Geschichte einbaute, klappte es. Meine Agentin meinte, ich solle nicht weiter über diese Typen schreiben und das Buch nicht veröffentlichen. Also legte ich es zehn Monate in die Schublade und schrieb irgendeinen Mist. Dann sagte ich mir: So läuft das nicht. Ich schreibe, was ich schreiben will. Ich feuerte meine Agentin und schrieb das Buch fertig.“51p3KTB2FbL._AC_UL320_SR206,320_[1]

Während SAVAGE SEASON noch sehr stark plotorientiert war, lehnte sich Lansdale bei diesem Buch entspannt zurück und ließ Hap übernehmen. James Crumley sagte über den Roman: „Nicht nur ein großartiger Kriminalroman voller unerwarteter Wendungen, sondern auch der beste Roman, den ich über die Freundschaft zwischen einem Schwarzen und einem Weißen gelesen habe.“ Der dritte Roman, THE TWO-BEAR MAMBO, wurde von David Lynch unter Filmoption genommen und „brachte mir mehr Geld, als ich in fünf Jahren zusammen verdient hatte“. Auch sein Horror-Western DEAD IN THE WEST wurde unter Filmoption genommen: von Dark Horse Entertainment (THE MASK). COLD IN JULY wurde von Regisseur John Irvin gekauft. „Ich weiß nicht, ob sie je einen Film daraus machen. Erst werden sie eine Yankee-Story daraus machen und dann die Handlung nach Kalifornien verlegen. Und dann stellen sie fest, daß dieses Ding nicht funktioniert, denn es kann nur in Texas funktionieren.“ Der Roman ist – wenn man überhaupt einen Vergleich wagen will – eine Art Höllenversion von John D.MacDonalds THE EXECUTIONERS (CAPE FEAR). In TWO-BEAR MAMBO führt Hap und Leonard der Weg ins fiktive Grovetown, die wahrscheinlich übelste Rassistenstadt der amerikanischen Kriminalliteratur. „In Texas gibt es einen Ort namens Vidor, der dafür ein bißchen Modell gestanden hat. Da gibt es sogar eine Buchhandlung des Ku Klux Klan. Der Ort ist nicht typisch für Texas. Die Leute denken oft, wir fahren hier mit pick-ups und Gewehren durch die Gegend. Stimmt nicht. Heute ist der Klan nur noch eine kleine Gruppe und selbst durchschnittliche Rassisten halten die Klan-Mitglieder für Feiglinge. Aber Vidor ist eine Ausnahme. Als ich dort war, war ich wirklich erstaunt. Es gibt keine Schwarzen in Vidor. Ich konnte kaum glauben, daß es so einen Ort gibt.“

Lansdale arbeitet jeden Tag fünf bis sechs Stunden als Schriftsteller (immer nur ein Projekt, nie gleichzeitig an verschiedenen), bevor er abends in seinem vom Honorar für TWO-BEAR MAMBO gekauften Studio Kampfsport unterrichtet.

DieInspiration für seine Romane und Erzählungen kommt aus den unterschiedlichsten Quellen. Die Initialzündung für SCHLECHTES CHILI lieferten die lokalen Nachrichten: „Es gab in Texas einige Schwulenmorde. Einer passierte in Tyler, eine Gegend, in der ich aufwuchs. Ich verfolgte im Fernsehen die Berichterstattung und mir kamen einige Ideen… Klar, Hap und Leonard brauchen Geschichten, die in Texas spielen. Sonst funktionieren sie nicht.“ Trotz des überragenden Erfolges seiner Hap & Leonard-Romane will Lansdale auch künftig in unterschiedlichen Genres arbeiten: „Ich habe nicht vor, ausschließlich Kriminalromane zu schreiben. Ich habe auch nicht vor, sogenannte literarische Sachen zu schreiben. Ich glaube, daß – egal was für ein Genre – jedes gute Buch automatisch gute Literatur ist.“

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Bibliographie (bis 1998):

ACT OF LOVE (deutsch bei Mass Verlag, Berlin), New York: Zebra, 1981.

TEXAS NIGHT RIDERS (als Ray Slater), New York: Leisure, 1983.

DEAD IN THE WEST, New York: Space and Time, 1986.

THE MAGIC WAGON, New York: Doubleday, 1986.

THE NIGHTRUNNERS (deutsch als rororo 22224, 1998), Illinois: Dark Harvest, 1987.

THE DRIVE-IN: A B-MOVIE WITH BLOOD AND POPCORN (deutsch bei Pulp Master, Berlin), New York: Bantam, 1988.

COLD IN JULY (KALT BRENNT DIE SONNE ÜBER TEXAS, rororo 13768, 1997), New York: Bantam, 1989.

BY BIZARRE HANDS (Stories), Kalifornien: Ziesing, 1989.

SAVAGE SEASON, Kalifornien: Ziesing, 1990.

THE DRIVE-IN 2: NOT JUST ONE OF THEM SEQUELS, New York: Bantam, 1990.

STORIES BY MAMA LANSDALE’S YOUNGEST BOY (Stories, Oregon: Pulphouse, 1991.

ON THE FAR SIDE OF THE CADILLAC DESERT WITH THE DEAD FOLKS (Stories), Colorado: Roadkill Press, 1991.

THE STEEL VALENTINE (Stories), Oregon: Pulphouse, 1991.

BATMAN: CAPTURED BY THE ENGINES, New York: Warner, 1991.

STEPPIN‘ OUT, SUMMER ’68. (Stories) Colorado: Roadkill Press, 1992.

BATMAN: TERROR ON THE HIGH SKIES (Kinderbuch), Boston: Little Brown, 1992.

TIGHT LITTLE STITCHES ON A DEAD MAN’S BACK (Stories), Pregon: Pulphouse, 1992.

DRIVE-BY (mit Andrew Vacchs und Gary Gianni), Massachusetts: Crossroads Press, 1993.

MUCHO MOJO (TEXAS BLUES, rororo 13767, 1996), New York: Mysterious Press, 1994.

WRITER OF THE PURPLE RAGE (Stories), Baltimore: CD Publications, 1994.

ELECTRIC GUMBO (Stories), Quality Paperback Book Club, 1994.

THE TWO-BEAR MAMBO (MAMBO MIT ZWEI BÄREN, rororo 13958, 1997), New York: Mysterious Press, 1995.

TARZAN’S LOST AVENTURE (mit Edgar Rice Burroughs), Dark Horse, 1996.

A FISTFUL OF STORIES (Stories)

ATOMIC CHILI: THE ILLUSTRATED LANSDALE (Stories)

THE GOOD, THE BAD, AND THE INDIFFERENT (Stories)

BAD CHILI (SCHLECHTES CHIL, DuMont Noir 23, 2000), New York: Mysterious Press, 1997.

RUMBLE TUMBLE , New York: Mysterious Press, 1998.

https://www.amazon.de/s/ref=nb_sb_noss_2?__mk_de_DE=%C3%85M%C3%85%C5%BD%C3%95%C3%91&url=search-alias%3Dstripbooks&field-keywords=joe+Lansdale

 

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BRIT-NOIR: THRILLER, DIE MAN GELESEN HABEN SOLLTE: UNDERGROUND von RUSSELL JAMES by Martin Compart

FINDEN SIE POLIZISTEN TATSÄCHLICH INTERESSANT?
– Anmerkungen zu Russell James und der Tradition des britischen Noir-Romans

I.
„Nachdem mein drittes Buch erschienen war und ich am vierten arbeitete, merkte ich, was kein Kritiker bisher bemerkt hatte: Niemand außer mir schrieb in Großbritannien crime stories. Man schrieb Detektivromane, Privatdetektivgeschichten, Polizeiromane. Alle schrieben anti-crime-stories – Gesetzeshütergeschichten. Warum? Finden sie Polizisten tatsächlich interessant?“ James scheint sich der Aussage des Philosophen Peter Sloterdijk nahe zu fühlen, der bemerkte, daß in einer nihilistischen Gesellschaft der Gangster der Einzige ist, der weiß, was er will. Inzwischen sind die Gangsterromane – soweit dieser etwas angestaubte Terminus wirklich zutrifft – von Russell James auch in England kein Geheimtipp mehr, obwohl das GQ-Magazine vor ein paar Jahren noch behauptete: „Er ist das große unbekannte Talent der britischen Kriminalliteratur“, sagte die Times und nannte ihn „einen Kult“. John Williams definierte ihn in The Face als „unheilige Allianz aus Len Deighton und David Goodis“ bezeichnete. Mit etwa einem halben Dutzend Romanen hat sich James als führender Stilist der British Fresh Blood-School etabliert. James konzentriert sich auf die Gangster und ihre Opfer. Die Polizei kommt nur am Rande vor und hat kaum Zugang zu dieser geschlossenen Unterwelt. Es sind die eindrucksvollen Charaktere und die stimmungsvollen wenn auch düsteren Schauplätze, die den Reiz seiner Romane ausmachen. Was man über Chandler sagte, gilt auch für James: Man würde seine Bücher weiterlesen, auch wenn das letzte Kapitel fehlte. „Ich mochte die meisten zeitgenössischen britischen Thriller nicht, als ich mit meinen Noir-Romanen begann. Die meisten neuen Autoren änderten lediglich Details: Statt eines Mannes nahm man eine Frau als Helden und ähnliches. Ich dachte, man müsse auch konzeptionell mehr wagen. Der durchschnittliche Protagonist ist rechts, ein Verteidiger von Ordnung und Autorität. Nicht bei mir. Mein Held in UNDERGROUND ist anders. Er ist links, antiautoritär und gegen die Gesellschaft eingestellt. Er ist gegen alles, an das durchschnittliche Leser und Helden glauben.“

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Russell James wurde als Russell Logan am 5.Oktober 1942 in Gillingham, Kent geboren. Er war ein intelligentes Kind, hatte aber eine unglückliche Kindheit: Sein Vater beging Selbstmord. Nachdem seine Mutter erneut geheiratet hatte, schickte man Russell auf eine Kadettenschule. Aber statt sich auf eine militärische Karriere zu stürzen, brach er aus, um sich durch die 6oer Jahre treiben zu lassen. Ohne feste Jobs zog er herum und arbeitete u.a. für einen Radiosender auf Zypern. Dann entdeckte er seine Liebe zum Theater und machte bei einer britischen Theatergruppe so ziemlich alles: Lichtsetzer, Schauspieler, Regisseur. Er schrieb auch Sketche und kleine Stücke, die „heute zum Glück vergessen sind“. In den 70ern wurde er respektabel, heiratete und arbeitete als Manager für IBM. Den Job hielt er sieben Jahre durch, bevor er ihn 1979 hinschmiss und sich selbstständig machte. Er sieht sich als einen einsamen Wolf, der nicht in Organisationen arbeiten kann. Das hat er mit seinen Helden gemeinsam. Als Consulting Manager arbeitet er erfolgreich im direct marketing und hat eine gutgehende Firma in Cheltenham.

Als er Ende der 80er Jahre zu schreiben begann, wusste er genau, daß er nicht gängige Thriller schreiben wollte. Ihn interessierten die Außenseiter und die wenig bekannten Londoner Milieus. „Der größte Teil der Kriminalliteratur langweilt mich. Ich mag keine Polizeiromane (police procedurals), Detektivgeschichten oder Amateurdetektive. Ich bin mehr interessiert am Stil als am Plot. Was für ein Bekenntnis! Der erste Kriminalliterat, der mich begeisterte – ich war damals allerdings erst zwölf Jahre alt – war Peter Cheyney, besonders die Lemmy Caution-Romane. Als Erwachsener beeinflussten mich besonders David Goodis und Cornell Woolrich. Von den jüngeren Autoren mag ich James Sallis. Derek Raymond ist mir manchmal zu deftig – aber ich habe 1989 eine denkwürdige Nacht mit ihm durchgetrunken.“

Seine ersten drei Romane sind von Filmproduktionen unter Option genommen. Sein genauer, filmischer Stil hat die Branche natürlich sofort auf ihn aufmerksam werden lassen. „Portobello Pictures hat ein so entsetzliches Drehbuch aus PAYBACK gemacht, daß es mich nicht wundert, daß das Projekt auf Eis liegt. Elmgate will aus UNDERGROUND eine dreiteilige TV-Serie machen. Tracy Hoffman von Screenage Pictures hat DAYLIGHT unter Vertrag und – das Buch spielt 1990 in Leningrad – wollte es mit einer russischen Firma und russischem Kapital machen. Aber leider ist der Rubel ziemlich abgestürzt. John Malkovich scheint sich für SLAUGHTER MUSIC zu interessieren. Also nichts Greifbares bisher. Ich liebe Noir-Filme, jedenfalls die guten. Ich finde es nicht schlimm, wenn sich Romane wie Filme lesen. Das heißt natürlich nicht, daß ich Bücher schätze, die nur auf eine Verfilmunhin geschrieben wurden. Aber ich liebe visuelle Prosa.“3770148517[1]

II.
Wenn man an britische Kriminalliteratur denkt, meint man meistens die klassischen Detektivgeschichten. Übermächtig überschatten Sherlock Holmes, Agatha Christie oder Dorothy L.Sayers dieses Genre und verstellen den Blick auf unabhängige Strömungen, die als Subgenre mit diesen Klassikern nichts zu tun haben. Trotz verschiedener „Revolutionen“, von Francis Iles Transformation der inverted story bis hin zum Psychothriller der angry young men Anfang der 50er Jahre, wird die britische Kriminalliteratur entweder mit klassischen Detektivromanen oder bestenfalls noch Spionageromanen gleichgesetzt. Diese Betrachtungsweise war immer schon verkürzt und ist heute besonders unzutreffend: Um 1990 begannen neue britische Autoren die kriminalliterarische Landschaft ihrer Heimat zu verändern.

derek-raymondcardinaldocu[1]Der Schock, den Derek Raymond in den 80er Jahren der britischen Kriminalliteratur verpaßt hatte, zeigte Wirkung und rüttelte das Genre aus der Lethargie – eine zweifellos kommerziell erfolgreiche Lethargie, wie die Auflagen von P.D.James, Martha Grimes, Ruth Rendell, Len Deighton oder John LeCarré zeigten. Aber die neuen Autoren wollten jenseits von klassischen Detektivromanen, Psychothrillern oder Polit-Thrillern die Mean Streets Britanniens wiederentdecken. Derek Raymond hatte mit seiner Factory-Serie an eine Tradition erinnert, die trotz gelegentlicher Einzelleistungen keine Bedeutung zu haben schien: an die höchst eigenwillige britische Noir-Tradition, die zwar einige Meisterwerke hervorgebracht hatte, aber nie so stilprägende Autoren wie die amerikanischen Vettern mit Dashiell Hammett, James M.Cain, Raymond Chandler, W.R.Burnett, Mickey Spillane, Jim Thompson, David Goodis oder Ross Macdonald. Der britische Noir-Roman, wenn nicht einfach nur kommerzieller Epigone der Amerikaner, war ein im Schatten blühendes Pflänzchen, das von wenigen Autoren gepflegt wurde und von wenigen Lesern, die sich damit als wahre Afficionados erwiesen, in eine Tradition eingeordnet wurde. Selbst der große Kriminalliteraturtheoretiker Julian Symons hat in seinem verdienstvollen Standardwerk BLOODY MURDER diesen Teil der britischen Kriminalliteratur unterschlagen oder einzelne Autoren nur isoliert betrachtet. Folgerichtig waren es weniger die eigenen Traditionen, die die Fresh-Blood-Autoren Ende der 80er Jahre inspirierten. Es waren die zeitgenössischen Amerikaner wie Elmore Leonard, Carl Hiaasen, Charles Willeford, James Crumley oder James Ellroy, die den Wunsch auslösten, eine ähnliche Literatur zu produzieren.

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Ursprünge der britischen Noir-Literatur lassen sich auf die Thriller von Autoren wie Leslie Chateris, Sidney Horler oder Peter Cheyney zurückführen, die alle bezeichnenderweise in dem englischen Pulp-Magazin The Thriller in den 20er- und 30er Jahren Geschichten um gesellschaftliche Außenseiter veröffentlichten. Natürlich waren diese Autoren keine Noir-Autoren im heutigen Sinne. Aber ihre atmosphärische Darstellung der Vorkriegszeit hatte etwas Beklemmendes und Düsteres. Robin Cook alias Derek Raymond sieht die Urväter des Noir-Romans durchaus in Autoren wie Shakespeare, der wie kein anderer die dunklen Gefilde der Seele ausleuchtete, William Godwin, dessen CALEB WILLIAMS wohl die erste hard-boiled novel ist und die Pulp- oder Black-Mask-Revolution vorwegnahm, Henry Fielding mit seiner Gangsterbiographie JONATHAN WILDE und natürlich Charles Dickens, der den Horror der urbanen Industriegesellschaft wie kein anderer einfing. Interessierte sei Derek Raymonds autobiographisches Buch, das gleichzeitig eine brillante Betrachtung der Noir-Literatur ist, empfohlen: DIE VERDECKTEN DATEIEN ist als erster Band der DUMONT NOIR-Reihe erschienen.

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Das Geburtsjahr des modernen britischen Noir-Romans war 1939. In diesem Jahr debütierte Rene Raymond alias James Hadley Chase (1906-85) mit seinem ultrabrutalen, in einem mythischen Amerika angesiedelten Roman NO ORCHIDS FOR MISS BLANDISH (KEINE ORCHIDEEN FÜR MISS BLANDISH; zuletzt im Ullstein Verlag 1989). Obwohl er später harte Geschichten aus der Londoner Unter- und Halbwelt erzählte, kehrte er immer wieder in sein fiktionales Amerika zurück. Wie andere große Autoren schuf sich Chase einen eigenen Kosmos um die fiktive Stadt Paradise City. Chase, der die USA nur von einem einzigen Kurztrip kannte, ließ seine besten Romane in Chase County spielen, in dem er den Sozialdarwinismus der kapitalistischen Gesellschaft ungeschminkt vorführen konnte. Chase erzählte schmutzige, schnelle Geschichten über wenig sympathische Menschen, die für Sex, Macht und Geld alle gesellschaftlichen Normen brechen. Er zeichnete ein düsteres Bild der westlichen Zivilisation, in der jeder der Wolf des Mitmenschen ist, wenn er nicht untergehen will. Initialzündung für seinen Kosmos war James M.Cains THE POSTMAN ALWAYS RINGS TWICE (WENN DER POSTMANN ZWEIMAL KLINGELT; Heyne 1987). Später schrieb Chase manch besseren Cain-Romane als Cain selbst. Autoren wie Jackson Budd, Gerald Kersh, David Craig, James Barlow, Jack Monmouth und andere schrieben finstere London-Novels über die Unterwelten der Metropole bis in die 60er Jahre hinein.

1941 erschien ein weiterer Meilenstein: A CONVICT HAS ESCAPED von Jackson Budd, einem Pseudonym von William John Budd (1898- ?). Der Roman zeigt ein beeindruckendes Bild der Londoner Eastend-Unterwelt während des Krieges. Dem Helden werden Schiebereien und Schwarzmarktgeschäfte zum Verhängnis. Das Buch wurde 1947 von Alberto Cavalcanti mit Trevor Howard unter dem Titel THEY MADE ME A FUGITIVE verfilmt. Ein harter und düsterer Film ohne Happy End, der die Handlung in die Nachkriegszeit verlegte. Budd hatte bereits in den frühen 30er Jahren Kriminalromane zu schreiben begonnen, aber keines seiner Bücher übertraf diesen Noir-Klassiker.

Anfang der 60er Jahre nahm die Öffentlichkeit stärker davon Notiz, dass es Gangster oder zumindest eine Halbwelt in London gab. Immer öfter tauchten Geschichten über die Krays-Zwillinge in den Zeitungen auf, die vom Eastend aufgebrochen waren, um auch im Nachtklubgeschäft des Westends Fuß zu fassen. Der 1962 veröffentlichte Roman DEATH OF A BOGEY (TOD EINES GREIFERS; Heyne 1963) von Douglas Warner ist wohl der erste Kriminalroman, der den Krays-Mythos thematisiert. Die Informationen über die Krays-Gang, hier Lane-Bande genannt, die indirekt in den Roman einfließen, sind zwar aus heutigem Kenntnisstand manchmal naiv, scheinen aber nicht nur aus der Zeitungslektüre zu stammen. Gut beschrieben ist vor allem die Mauer des Schweigens im Eastend, die die Krays so lange schützte und deren Zerstörung erst ihre Festnahme ermöglichte. Douglas Warner war ein Pseudonym für Desmond Currie und Elizabeth Warner, die bis 1968 sechs harte Krimis über die Schattenseiten Londons veröffentlichten.

Eine besondere Position kommt dem 1921 in Leeds geborenen Ex-Polizisten John William Wainwright zu. Gemeinhin gilt er seit seinem ersten Buch, das 1965 erschien, als ein herausragender Autor des britischen Polizeiromans. Im Gegensatz zu den police procedural-Autoren und seinem Lieblingsautor Ed McBain behandelt Wainwright in seinen Polizeiromanen immer nur einen einzigen Fall. Bemerkenswert ist auch die frühe Betonung des Organisierten Verbrechens. Seine Helden stehen in ihren Extremsituationen den schwarzen Thrillern näher als den durchschnittlichen Polizeiheroen. Beispielsweise scheut sich einer seiner Serienhelden, der ein Anhänger der Todesstrafe ist, nicht, einen jugendlichen Mörder sofort hinzurichten. Die Methoden der Polizei und die der Gangster sind bei Wainwright fast identisch. Er treibt die erstmals bei John Bingham auftauchende Negativdarstellung der britischen Polizei noch weiter. Das scheint angesichts der beruflichen Vergangenheit des Autors noch beängstigender. Seine bisher überzeugendste Leistung im Schwarzen Roman ist seine Tetralogie um den Ex-Polizisten Davis, der die Fronten wechselt. Stilistisch überzeugend zeigt Wainwright Intimes aus der Unterwelt und Charaktere, die der Leser so schnell nicht vergißt.

Mitte der 50er Jahre erschien James Henry Stanley Barlow (1921-73) auf der kriminalliterarischen Bühne und wurde mit einer Handvoll bösartiger, schwarzer Romane zum Geheimtip. Die Kritik haßte (oder ignorierte) Barlow mit ebensolcher Vehemenz wie schon zuvor Chase. Sein großer Wurf war der 1968 erschienene Roman THE BURDEN OF PROOF, der gleichzeitig sein letztes Buch war. In diesem Roman befaßte sich Barlow auf ganz eigene Art mit den Krays-Mythos, indem er Ronnie Kray in der Figur des psychopathischen Gangsterboßes Vic Dakin ein Denkmal setzte (in der Verfilmung wurde er von einem umwerfenden Richard Burton gespielt). Nicht von ungefähr erschien der Roman in dem Jahr, als sich die Schlinge des Gesetzes um die Terrible Twins zuzog. Auch Barlow zeigt ein realistisches Bild der Londoner Unterwelt. Dem Sadisten Dakin gelingt es dank der herrschenden Korruption, genau wie den Krays, lange Zeit vom Gesetz unangetastet seine Terrorherrschaft über das Eastend auszuüben.

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Der 1929 geborene Allan James Tucker schrieb unter dem Pseudonym David Craig einige Kriminalromane mit großer thematischer Spannbreite. In Erinnerung geblieben sind den Thriller-Fans vor allem seine Spionageromane. Aber er unternahm 1974 auch einen gelungenen Ausflug in den Noir-Roman mit WHOSE LITTLE GIRL ARE YOU? (JILL UND DIE BOYS; Goldmann, 1974) und schuf einen englischen Klassiker des Genres. Die Geschichte um die entführte Tochter und die Ex-Frau eines geschiedenen Ex-Kriminalbeamten und Alkoholikers, der sich mit der Londoner Unterwelt und dem neuen Gatten seiner Frau anlegt, wurde 1977 erfolgreich von Michael Apted mit Stacy Keach und David Hemmings als THE SQUEEZE (DER AUS DER HÖLLE KAM)verfilmt. Die Adaption gehört zusammen mit GET CARTER und VILLAIN (DIE ALLES ZUR SAU MACHEN), der Verfilmung von THE BURDEN OF PROOF, zu den drei großen britischen Noir-Filmen des Jahrzehnts und zu den Klassikern des Noir-Kinos überhaupt. Natürlich hatte auch Craig die Prozesse gegen die Krays-Zwillinge und die südlondoner Richardson-Gang verfolgt. Spätestens nach dem großen Gerichtsverfahren gegen die Krays-Zwillinge und ihre „Firma“, die als Gangsterimperium das Eastend Londons und mehrere Klubs im Westend umspannte, wußte man, daß diese Autoren keine Spinner waren, sondern das Großbritannien über eine organisierte und funktionstüchtige Unterwelt verfügte. Was Al Capone für Autoren wie W.R.Burnett, Armitage Trail und den amerikanischen Gangsterroman war, sind die Krays für den britischen Noir-Roman: Seit den Romanen von Douglas Warner aus den frühen 60er Jahren beeinflußt ihr Mythos bis heute die Literatur.

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Die Krays waren bereits ein Jahr hinter Gittern, als ein Mann im schwarzen Roman debütierte, der heute zu Recht als einer der Giganten gefeiert wird: Ted Lewis (1940-80). Der geniale Trinkkumpan von Derek Raymond griff auf eigene Erfahrungen zurück, als er 1970 in dem all-time-classic JACK’S RETURN HOME (JACK CARTERS HEIMKEHR; Bastei 1987) seinen Unterweltstroubleshooter Jack Carter in eine völlig verrottete nordenglische Industriestadt, der Lewis‘ Heimatort Newcastle als Vorbild diente, schickte, um für richtigen Ärger zu sorgen. Derek Raymond billigte dem Meisterwerk eine Schlüsselstellung zu und weist darauf hin, daß in „dem Buch kein falsches Wort steht“. Darüberhinaus meinte Raymond, daß jede Episode des Romans authentisch ist und nichts von Lewis erfunden wurde. Mike Hodges verfilmte den Roman mit Michael Caine unter dem Titel GET CARTER; ein Kultfilm, der in den letzten Jahren in England wiederentdeckt und geradezu hysterisch gefeiert wird. Russell James‘ dritter Roman PAYBACK – DIE RÜCKKEHR DES FLOYD CARTER ist eine direkte Reminiszenz an diesen Klassiker. Aber James wäre natürlich nicht James, wenn er nicht seine eigene Stimme im Roman unverwechselbar erklingen ließe. „Meine Bücher spielen unter den armen Schluckern im Südosten Londons. Ich schreibe über Punks und Außenseiter, über harte Burschen und miese Geschäftemacher. Diejenigen, die das Verbrechen bekämpfen – Polizisten und Detektive – kommen so gut wie nicht in meinen Büchern vor – auch wenn sie peripher natürlich existent sind.“ Eine detaillierte Bestandsaufnahme des britischen Noir-Romans und seiner verzweigten Traditionen (etwa zur London Novel oder zum britischen Privatdetektivroman) kann hier nicht geleistet werden, wird aber Bestandteil des ersten DUMONT NOIR-READERS sein, der in dieser Reihe folgen wird. Aber die genannten Autoren und Werke machen deutlich, daß Russell James der Erbe eines faszinierenden Subgenres der Noir-Literatur ist.

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III.
James ist unter den neuen britischen Autoren der schärfste Beobachter der gesellschaftlichen Verhältnisse. Er beschreibt genau den sozialen Niedergang Englands und die Hörigkeit der politischen Klasse gegenüber dem Großkapital. UNDERGROUND, entstanden noch in der Ära John Major, führt den Alptraum vor, den die Schwachen und sozial an den Rand gestellten durchleben. Der Horrortrip durch die weiten Maschen des sozialen Netzes scheint dem Ich-Erzähler mehr zuzusetzen als die lebensgefährlichen Auseinandersetzungen mit seinen professionellen Gegnern. „Ich gehe nicht soweit zu sagen, das Kriminalität verschwindet, wenn man das Big Business säubert. Aber durch Wirtschaftskriminalität werden mehr Werte zerstört als durch alle anderen Verbrechen zusammen“, sagt der Autor, der den Gangstermythos wiederbelebt hat und weiter: „Gangster sind soziale Anarchisten. Sie teilen nicht unser kleinbürgerliches Wertsystem. Sie haben nicht denselben Gesellschaftsvertrag unterschrieben, der für uns brave Bürger bindend erscheint. Sie glauben an andere Regeln. Und es gibt diese Regeln. Die wichtigste lautet: Betrüge nie einen anderen professionellen Gangster. In der vermeintlich nicht-kriminellen Welt unserer Gesellschaft gibt es jeden Tag Beweise für gnadenlose Brutalität und Betrug: Familien verlieren ihre Wohnungen, kleine Geschäfte müssen schließen, weil sie von großen Konzernen fertig gemacht werden, den Menschen werden ihre Jobs gestohlen usw. Gleichzeitig werden riesige Summen verteilt, freiwillig oder als Bestechungsgelder, nur um die sogenannte legale Macht zu festigen oder zu erobern.“ Russell James glorifiziert dasselbe Wertesystem einer mythischen Unterwelt, das auch schon der genialste Noir-Filmer, Jean-Pierre Melville, in seinen Kultstreifen von BOB LE FLAMBEUR (DREI UHR NACHTS) bis UN FLIC (DER CHEF) ausgebreitet hat. Zweifellos wären Russell James‘ Romane ganz weit oben auf Melvilles Adaptionsliste, wenn er noch leben würde. Bevor James mit seinem dritten Roman PAYBACK wieder nach Deptford zurückkehrte, schrieb er DAYLIGHT. In diesem Buch zeigte er scharfsinnig die unterschiedlichen Unterweltskonzepte von russischen und westlichen Kriminellen. „Die Art Bücher, die ich schreibe, sind das Äquivalent zu den Warner Brothers-Filmen der 30er Jahre. Schwarzweißfilme, die das ganze Gegenteil der Hollywood-Musicals waren. Noir-Themen sind so erfrischend wie ein gutgesungener Blues.“

https://www.youtube.com/user/booksmatter

https://russelljamesbooks.wordpress.com/

Der Text ist mein Nachwort des Dumont-Noir-Romans UNDERGROUND.
https://www.amazon.de/Underground-DuMont-Noir-Russell-James/dp/3770148517?ie=UTF8&*Version*=1&*entries*=0



THRILLER, DIE MAN GELESEN HABEN SOLLTE: DIE LOVEJOY-SERIE VON JONATHAN GASH by Martin Compart

Als 1977 mit THE JUDAS PAIR (LOVEJOYS DUELL) der erste Lovejoy-Roman von Jonathan Gash in England veröffentlicht wurde, ahnten sicherlich die wenigsten Kritiker und Leser, daß hier eine der erfolgreichsten Serienfiguren der britischen Pop-Kultur ihr Debut gab.

41msDJA-RPL._SL500_SS500_Zwar konnte man sofort erkennen, welche Potenz der liebenswerte Mistkerl hat, aber würde der bisher unbekannte Autor Jonathan Gash auch das Stehvermögen haben, auf diesem hohen Niveau regelmäßig weitere Abenteuer vorzulegen?

Zu unser aller Glück gelang das Mr.Gash bis 2008 mit 23 Fortsetzungen (wobei nicht verschwiegen werden soll, dass auch die Lovejoy-Serie Höhen und Tiefen mit besseren und schlechteren Romanen durchläuft).

Das Lovejoys erstes Auftreten gleich den John Creasey Award der Crime Writers Association als bester Erstling des Jahres erhielt, war nur noch eine Formsache. In den nächsten Jahren erschienen in immer höheren Auflagen weitere Romane und machten aus dem Antiquitätenhändler einen der populärsten fiktionalen Helden der angelsächsischen Literatur. Vielleicht nicht in derselben Liga wie Sherlock Holmes, James Bond, Phil Marlowe, Tarzan oder Flashman – aber sein Ruhm wächst ja noch. Nachdem er die Länder des Commonwealth erobert hat, ist sein Erfolg in den die USA, wo die TV-Serie äußerst erfolgreich im Kabel ausgestrahlt wurde und die Romane im renommierten Verlag Mysterious Press erscheinen, eher begrenzt.

Die bisherigen Versuche, die Serie auch bei uns zu etablieren, sind leider gescheitert: Scherz veröffentlichte den ersten Lovejoy in der damaligen Krimi-Reihe (ohne weitere folgen zu lassen), und ich die ersten drei Romane in der DuMont-Noir-Reihe. Vielleicht ist die Mischung aus hartem Thriller, höherem Bildungsniveau und Zynismus nichts für das deutsche Publikum, das sich eher mit flachen Regionalkrimis oder tumben Serienkiller-Blutorgien erfreut. Gash ist eher etwas für Leser mit einem gewissen Anspruch (und die lesen wahrscheinlich sowieso nur die Originale).

Gash

Lovejoy war eine neue Form des Antihelden, der einiges den angry young men der 50er Jahre verdankt. Ein Frauenheld, immer etwas schmuddlig, skrupellos und tierlieb. Ein Ich-Erzähler, der den Leser von der ersten Zeile an in den Bann schlägt und nicht mehr los lässt.

Auch wenn die Plots des Autors Gash manchmal ziemlich schräg sind und gelegentlich auch schon mal weniger originell, legt man die Romane befriedigt aus der Hand. Denn letztlich liest man Lovejoys haarsträubende Abenteuer vor allem wegen des Tons und der Stimme des Ich-Erzählers, der einen mit Witz und Sarkasmus durch die Seiten jagt und dem es trotzdem gelingt atemlose Thrillerspannung aufzubauen. Es gibt zwar immer deduktive Elemente in den Romanen, aber sie sind doch eher dem Thriller als dem Detektivroman zuzuordnen. Gash ist großartig, wenn er Lovejoy durch physische Ausnahmesituationen hetzt.

Jonathan Gash ist ein Pseudonym des britischen Autors John Grant (ein weiteres ist „Graham Gaunt“, unter dem er 1981 den Thriller THE INCOMER veröffentlichte).

Er wurde am 30.September 1933 in Bolton, Lancashire geboren. Er studierte Medizin in London und absolvierte seinen Wehrdienst im Sanitätscorps, das er im Rang eines Majors verließ. Als Pathologe arbeitete er u.a. von 1962 bis 1965 in Hannover und Berlin. Anschließend führte ihn ein Lehrauftrag an die Universität von Hongkong. Er war von 1970 bis 1988 Mitglied der Royal Society of Medicine und war abt 1988 privater Spezialist für Infektions- und Tropenkrankheiten. 1955 heiratete er Pamela Richard, mit der er drei Töchter hat, die ihn bisher zum vierfachen Großvater machten.

Seinen ersten schriftstellerischen Erfolg feierte er am Theater: 1976 wurde in Chester, Cheshire sein Stück TERMINUS aufgeführt. Ein Jahr später betrat sein Held Lovejoy die Bühne im ersten Roman: LOVEJOYS DUELL (THE JUDAS PAIR).
205 Nach seiner Rückkehr aus Hongkong hatte Gash mit dem ersten Lovejoy-Roman begonnen. „Ich dachte an eines dieser Phantome, die durch die Literatur und Kunstwelt geistern: Shakespeares verloren gegangenes Stück oder die verschwundenen Tagebücher von Dr.Johnson. Und ich dachte an diese Antiquitätenjägerlegenden wie der zufällig auf einem Dachboden entdeckte Rembrandt. Das Judas-Paar ist so ein Mythos. Man weiß, dass Durs zwölf Paare Duellpistolen angefertigt hat, aber kein dreizehntes.“

Gash wählte bewusst ein Pseudonym, da Ärzte damals keine Werbung für sich machen durften und auch die Veröffentlichung eines Buches als unerlaubter Wettbewerbsvorteil zu seinem Ausschluss aus der Ärztekammer hätte führen können. Der Slangausdruck „gash“, der unter den Antiquitätenhändlern des Eastends viel benutzt wurde, entsprang ursprünglich der Roma-Sprache des 18.Jahrhunderts und bedeutet soviel wie „absolut wertlos“.

Gashs Interesse für Antiquitäten entwickelte sich in jungen Jahren. Als Medizinstudent arbeitete er für einen Antiquitätenhändler in der Cutler Street, um sein Studium zu finanzieren. Hier traf er viele der merkwürdigen Typen, die später verschlüsselt als Charaktere in den Romanen wieder auftauchten.

„In den 5oer Jahren war das Business in den Händen einiger wirklich harter Jungs. Ich nenne keine Namen, aber einige sind heute noch bekannt und berüchtigt. Wenn man für die arbeitete, musste man schnell lernen und durfte keinen Fehler machen. Sonst bekam man Ärger, schlimmen, lebensgefährlichen Ärger.“ Einige der brutalsten Szenen in den Büchern sind nicht der Phantasie des Autors entsprungen, sondern der Realität entlehnt.

Er begann sich auch dafür zu interessieren, wie Kunstwerke hergestellt werden, welche handwerklichen Voraussetzungen nötig sind. Er nahm Malunterricht bei Tom Keating, und er entwickelte ein Talent zum Aufspüren von Antiquitäten. Sein Doppelleben faszinierte ihn: „In der Medizin muss man einfach stur gewisse Dinge lernen. Weiß ist weiß und schwarz ist schwarz. Es gibt Gesetze, auf die man sich verlassen kann. Im Antiquitätengeschäft gilt das nur teilweise. Vieles hat mit Instinkt zu tun. Es gibt Leute, die brauchen einen Gegenstand nur anzusehen und wissen, ob er echt ist. Die machen keine Untersuchungen oder Spektralanalysen. Die wahren Könige der Szene. Ich wurde oft mit einem Stück zu so einem Kerl, Divvie genannt, geschickt. Manchmal sah er nur kurz aus den Augenwinkeln hin und schüttelte den Kopf. Das war’s dann. Er fasste es nichtmal an. Bis zu einem gewissen Grad verfüge ich ebenfalls über diese Fähigkeit. Aber sie läßt mit dem Alter nach.gashrag

Jonathan Gash nimmt seine Lovejoy-Romane nicht besonders ernst. Das heißt nicht, dass er sich nicht sehr viel Mühe mit ihnen gibt. Aber das zunehmende Interesse durch Akademiker an der Figur verwundert ihn. „Es ist reine Unterhaltung. Aber heutzutage kann man ja schon eine Doktorarbeit schreiben, wenn man herausfindet, wo G.K.Chesterton seinen Tabak gekauft hat.“ Da fröhnt ein großartiger englischer Autor dem typisch britischen understatement. Schließlich verlangt es einem Schriftsteller ein hohes Maß an Können ab, sich in eine Figur wie Lovejoy konsequent über hunderte von Seiten zu versetzen und die Welt durch seine Augen zu betrachten, den oft kunstvollen Handlungsaufbau gar nicht berücksichtigt. Gash erreicht, was nur den wirklich großen Autoren des Genres gelingt: eine völlig individuelle, unverwechselbare Figur erzählen zu lassen, die in ihrem Kosmos absolut glaubwürdig ist. Ohne Titel und Autor zu kennen, wüsste der Gash-Leser nach wenigen Sätzen, dass er einen Lovejoy-Roman vor sich hat.

Gash ist ein instinktiver Schriftsteller: „Ich plane nichts, mache keine Outline. Ich setze mich vor ein leeres Blatt Papier und weiß nicht, was dabei rauskommt“, sagt er. „Erst beim Schreiben überlege ich, was als nächstes passieren wird.“ Er schreibt seine Bücher mit dem Füllfederhalter. Dann korrigiert er das Manuskript zuerst mit roter Tinte und bei einem zweiten Durchgang mit grüner. „Am Ende sieht es aus wie der Plan der Londoner U-Bahn.“ Anschließend geht das Manuskript zum Abtippen. „Für meine medizinische Arbeit benutze ich einen Computer, aber einen Roman könnte ich nie darauf schreiben.

In seiner spärlichen Freizeit ist er ein leidenschaftlicher Leser, der sich für alles interessiert. Auch Kriminalliteratur liest er gerne, nur keine police procedural mehr. „Wahrscheinlich habe ich zulange als Pathologe gearbeitet. Ich kann diese harten Sachen von Wambaugh und seinen Epigonen nicht mehr lesen. Ich liebe William Goldman und Elmore Leonard, und ich mag Colin Dexter und Ruth Rendell. Ich mag Trevanian sehr und Adam Halls Quiller-Romane. Und ich bewundere Mario Puzo, Morris West und James Hadley Chase. Mein absoluter Favorit, auch in literarischer Hinsicht, ist der leider völlig in Vergessenheit geratene P.M.Hubbard. Er schrieb nur sechzehn Thriller. Aber die gehören zum Allerbesten. In keinem ein überflüssiges Wort. Wer lernen will, wie man einen erstklassigen Thriller schreibt, sollte Hubbard studieren.“ Der Schotte Philip Maitland Hubbard (1910-1980) konnte ähnlich schweißtreibende Menschenjagden erzählen wie Gash.

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Der Bestsellererfolg in der englischsprachigen Welt führte 1987 zu einer langlebigen Fernsehserie der BBC, in der Ian McShane bis 1994 in 90 Folgen einen gesofteten Lovejoy spielte. Selbst bei den Wiederholungen lockt die Serie in Großbritannien bis zu vierzehn Millionen Zuschauer an und ist damit eine der erfolgreichsten englischen TV-Serien. Es sagt einmal mehr negatives  über die deutsche Fernsehlandschaft mit ihren andauernden Wiederholungen der immer selben Serien aus, dass kein Sender diesen potentiellen Hit auf deutsche Bildschirme gebracht hat.

„Anfangs hat mir das nicht gefallen. Sie haben einiges verändert, aber das Fernsehen gehorcht anderen dramaturgischen Prinzipien. Außerdem sind sie erfolgreich. Man muss sich damit abfinden, dass eine TV-Adaption eben eine Interpretation der Bücher ist. McShane ist nicht schlecht. Der Charakter von Lovejoy ist da, auch wenn es eine harmlosere TV-Version ist.“

Gerade der Erfolg in den USA führte dazu, dass Lovejoys Charakter in der TV-Serie immer mehr verwässert wurde. Während er in den Büchern immer am Rande des völligen Bankrotts agiert, war der Volvo-Fahrer der Fernsehserie nie ohne Strom und Gas und nahm als anerkannter Weinkenner an den Polospielen der Windsor Castle-Elite teil. „Ich mag die Serie, weil sie das wunderschöne ländliche England zeigt. Ich mochte sie aus mehreren Gründen, aber keiner davon hat etwas mit den Originalgeschichten zu tun. Die Produzenten haben mich x-mal gebeten Drehbücher zu schreiben. Aber das ist eine Horrorvorstellung. Damit will ich nichts zu tun haben.“

Trotz aller berechtigter Kritik: Für mich wird Lovejoy immer das Gesicht von Ian McShane haben.

Merkwürdigerweise sind die meisten Fans des nicht gerade angenehmen Weiberhelden Lovejoy Frauen. Gashs Verlag hatte vor einigen Jahren eine Untersuchung gemacht. Demnach werden seine Bücher zu 63% von Frauen und zu 37% von Männern gekauft. „Ich dachte schon, ich bin ein Autor für Frauen. In der Woche nach der Veröffentlichung eines neuen Romans bekomme ich ungefähr fünfzig Briefe; sie sind immer von Frauen. Ich glaube, Frauen kriegen genau mit, dass Lovejoy kein dumpfer Macho ist, sondern ein großer Junge. Wie die meisten Kerle tief in ihrem Inneren. Frauen durchschauen uns: Sie wissen, wann wir bluffen und den starken Mann markieren. Immer wieder fragt man mich in Interviews nach Lovejoys Chauvinismus. Es ist ein beharrliches Missverständnis, das offensichtlich nicht auszurotten ist. Er ist kein Chauvi, er ist das ganze Gegenteil davon. Und es sind immer Männer, die damit anfangen.“
Seit einigen Jahren schreibt Gash auch noch historische Romane und eine weitere Thriller-Serie um die Protagonistin Dr.Clare Burtonall,

DIE LOVEJOY-ROMANE:

1. LOVEJOYS DUELL (THE JUDAS PAIR), 1977
2. LOVEJOYS GOLD (GOLD FROM GEMINI), 1978.
3. LOVEJOYS GRAL (THE GRAIL TREE), 1979.
4. SPEND GAME, 1980.
5. THE VATICAN RIP, 1981.
6. FIREFLY GADROON, 1982.
7. THE SLEEPERS OF EDEN, 1983.
8. THE GONDOLA SCAM, 1983.
9. PEARLHANGER, 1985.
10. THE TARTAN RINGERS, 1986.
11. MOONSPENDER, 1986.
12. JADE WOMAN, 1988.
13. THE VERY LAST GAMBADO, 1989.
14. THE GREAT CALIFORNIA GAME, 1990.
15. THE LIES OF FAIR LADIES, 1992.
16. PAID AND LOVIN EYES, 1993.
17. THE SIN WITHIN HER SMILE, 1993.
18. THE GRACE IN OLDER WOMEN, 1995.
19 .POSSESSIONS OF A LADY, 1996.
20. THE RICH AND THE PROFANE, 1999.
21. A RAG, A BONE AND HANK OF HAIR, 1999
22. EVERY LAST CENT, 2001.
23. TEN WORD GAME, 2003.
24, FACES IN THE POOL, 2008.