Martin Compart


THRILLER, DIE MAN GELESEN HABEN SOLLTE: CITY OF THE DEAD/NEKROPOLIS von Herbert Lieberman by Martin Compart

10 Tage im Leben des New Yorker Chef-Pathologen Dr.Paul Konig und 10 Tage im Leben der Stadt New York 1974.

Die Cops befragen die Lebenden, aber Paul Konig findet die Antworten, indem er die Toten befragt. Nach einem Leben voller grauenvoller Verbrechen denkt er, er habe bereits alles gesehen. Falsch gedacht. Vor ihm liegen zehn Tage, in denen er an mehreren Fronten gleichzeitig kämpfen muss:

Gegen politische Korruption in der Verwaltung;

gegen das Unmögliche, an Hand unzureichender Leichenteile aus einem Serienkiller-Friedhof den Täter zu identifizieren, der mit seinen Sexmorden eine blutige Schneise durch das ohnehin schon gewaltgeschüttelte New York zieht;

und gegen die Zeit, um seine Tochter rechtzeitig aus den Händen einer irren Militia zu retten.

Klingt überkandidelt und nicht wirklich originell?

Dem sei entgegnet, dass dieses Buch völlig einzigartig in der Kriminalliteratur dasteht, denn es kommt ja immer darauf an, WIE die Geschichte erzählt wird.
Das Buch erschreckt in seinem Zynismus und seiner Brutalität noch heute. Das geschilderte New York gibt es nicht mehr, aber der Roman liest sich, als wäre er gerade erst geschrieben worden.

Dazu noch im Präsenz, was immer eine extreme Herausforderung ist, die sehr leicht misslingt. Ich kann mich nicht erinnern, eine überzeugendere Nutzung dieser Form gelesen zu haben.

Die Spannung ist von der ersten Seite an da, was an Liebermans süchtig machendem Stil liegt. Aber die Handlungsstränge bauen sich erst allmählich auf bis das Tempo fast unerträglich wird. Der Leser kann sich nicht ausruhen, denn dies ist ein großer Roman, der viele Geschichten erzählt, viele Charaktere erleben lässt, die alle Poren der Stadt sind. Wie nur wirklich großen Autoren, gelingen ihm Szenen, die zuvor noch nie geschrieben wurden und sich ins Gedächtnis einbrennen.

Der Roman ist gleichzeitig psychologischer Thriller, Forensik-Procedural, Sittengemälde und schwarzer Thriller. Eine Besonderheit dieser Geschichte ist ihre unbestimmte Identität, ihre Vermischung von polizeilicher Untersuchung, psychologischem Drama und sozialer Destabilisierung.

Wie an Dantes Eingang zur Hölle müsste dem Roman nach der Titelei vorangestellt sein: Ihr, die ihr dieses Buch öffnet, lasst alle Hoffnung fahren“

Und dann ist das Buch auch noch einer der ganz großen New York-Romane. Eines New York, bevor Spekulanten und Banker alles Leben aus der Stadt saugten und aus ihr ein Refugium für superreiche Langweiler machten. Es ist das New York von 1974, als die Stadt noch gefährlich, tödlich und frei war. Im Vergleich zu Liebermans Roman wirken sogar TAXI DRIVER oder DEATHWISH wie Tourismus-Spots.

In den 1970ern war New York noch interessant, eine Stadt, in der wirklich was los war – zu jeder Jahreszeit:

„April again. Burgeoning spring. Tax time and the month of suicides. Gone now are February and March, seasons of drowned men, when the ice of the frozen rivers melt, yielding up the winter’s harvest of junkies, itinerants, and prostitutes. Soon to come are July and August–the jack-knife months. Heat and homicide. Bullet holes, knife wounds, fatal garrotings, a grisly procession vomited out of the steamy ghettos of the inner city. Followed by September–early fall–season of wilting vegetation, self guilt, and inexplicable loss. Battered babies with the subdural hematomas and petechial hemorrahages. Then October–benign, quiescent; the oven pavements of the city cooling while death hangs back a little while, prostrate from all the carnage. Only to rush headlong into November and December. The holiday season. Thanksgiving and the Prince of Peace. Suicides come forth again.“

Es ist eine halluzinatorische Reise ins schwarze Herz des „Big Apple“. Die Stadt verursacht den Tod und repräsentiert alle menschliche Grausamkeit. Liebermans Kaleidoskop zeigt auch die Gewinner und ihre Ruchlosigkeit in sozialen Dimensionen. Sein Universum ist dunkel, abrupt und ohne Illusionen.

HerbertLieberman dämpft diese pessimistische Weltanschauung mit ätzendem Humor.

„Der Pathologe steht vor dem geschundenen und nackten Leichnam wie ein alter Zauberpriester, der aus den Eingeweiden von Opfertieren wahrsagt.“

Der erste Thriller mit einem Forensiker als Protagonisten Kein anderer Roman vermittelt intensiver Bewusstsein und Arbeit eines Pathologen. Bevor ich ihn gelesen hatte, wusste ich nicht, dass mich das überhaupt interessiert. Denn im Gegensatz zu Patricia Cornwell, Kathy Reich, Jefferson Bass und wie die langweilige Forensiker-Bagage heißt, ist Lieberman ein wahrer Literat und weiß, wie man Spannung erzeugt, die von der ersten bis zur letzten Seite allgegenwärtig ist – auch wenn sich die Handlungsebenen verschieben.

Die Vielzahl an Details zu dieser speziellen Arbeit zeigt uns, dass der Autor viel recherchiert hat, um die Hauptfigur glaubwürdig zu machen. Um dieses Buch schreiben zu können, recherchierte Lieberman über ein Jahr lang beim Team des Manhattan Forensic Institute. Jedenfalls erscheinen Cornwell oder Reich im Vergleich zu Lieberman recht oberflächlich und weniger mitreißend und schockierend. Liebermans Autopsien sollte man nicht mit vollem Magen lesen.

Sein Paul Konig ist keine durchwegs sympathische Figur. Seit dem Krebstod seiner Frau noch unangenehmer und zynischer, hadert er mit seinem Schicksal:

„Manchmal dachte er daran, dass alles gut würde, wenn er an Magier und Hexenmeister glauben könnte, an Rosenkränze oder Talismane. Er könnte zu einem Astrologen gehen, sich makrobiotisch ernähren, mit den Zen-Meistern meditieren, alles mögliche. Wenn er damit nur diesen zersetzenden Zynismus überwinden, sich lossagen könnte von der Hybris von vierzig Jahren Wiegen und Messen, um irgendeine segensreiche kleine Oase grünender Hoffnung zu finden, könnte er sich vielleicht retten.“

Konigs Selbstmitleid erreicht seinen Höhepunkt nachdem die vernachlässigte Tochter ausgezogen und verschwunden ist. Der befreundete Detektiv, der heimlich nach ihr sucht, stellt dann ihre Entführung fest und nach etwa 80 Seiten schaltet Lieberman den Turbo zu und der Roman beherrscht den Tagesablauf des Lesers.

Herbert Lieberman ist wohl eines der bestgehüteten Geheimnisse der Noir-Literatur im Besonderen, und der Pop-Literatur im Allgemeinen.

Herbert Henry Lieberman wurde am 22 September 1933 in New Rochelle, New York geboren. Seine Mutter war eine Waise, die aus Rumänien mit der „Lusitania“ in die USA kam. Herbert besuchte die Columbia Universität und arbeitete in New York für Reader’s Digest, bevor er Theaterstücke und Romane zu schreiben begann. Später ging er mit seiner Frau Judith und ihrer Tochter nach Kalifornien.

Über seine Horror-Romane sagte er einmal, sie würden auf seinen Alpträumen basieren.

Neben Horror- und Noir-Romanen schrieb er auch Conspiracy-Thriller (THE CLIMATE OF HELL über Nazis in Südamerika), einen Serienkillerroman (NIGHTBLOOM), Fantasy (SANDMAN, SLEEP), Wirtschaftsthriller (NIGHT CALL FROM A DISTANT TIME ZONE), einen ungewöhnlichen Backwood (THE EIGHT SQUARE), den Psychothriller CRAWLSPACE (1972 verfilmt als ABC-Movie oft he Week) und anderes. Da gibt es noch einiges zu entdecken!

Sein bisher letzter Roman wurde 2003 veröffentlicht.

CITY OF THE DEAD oder NEKROPOLIS ist ein Klassiker, den kaum einer kennt; das gilt auch für Großbritannien oder die USA (wo er aber von einem kleinen Kreis widerentdeckt wird). Es ist einer dieser seltenen Romane, deren Texte die Leser absorbieren.

In Frankreich sieht es anders aus.

Da ist als Autor relativ bekannt  – oder sagen wir lieber: zumindest nicht ganz unbekannt – und NEKROPOLIS wurde 1977 mit dem Grand Prix de Littérature Policière’s International ausgezeichnet. Zu den vielen französischen Bewunderern gehört auch der Bestsellerautor Maxim Chattam, der NEKROPOLIS als seinen Lieblingsroman nennt.

Eine wenig beachtete deutsche Ausgabe erschien 1977 im Lübbe-Verlag.