Martin Compart


DER GOLDSCHÜRFER: Anmerkungen zu NICK TOSCHES by Martin Compart

Nick Tosches ist tot. Gestorben mit 69 Jahren. Eine Würdigung von Alex Flückinger findet sich auf https://krimiautorena-z.blog/2017/03/03/tosches-nick/

Um meinen Respekt zu erweisen, hier noch einmal mein Text über den großen Tosches:

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Seit Jahrzehnten taucht Nick Tosches nach einem Wrack namens „amerikanischer Traum“.

Geortet hat er ihn im stürmischen Meer des Showbizz. Und egal, was er hebt – ob Rock’n’Roll oder Hollywood – immer klebt das Organisierte Verbrechen an dem Fund. „Als einzige unter den Nationen definiert Amerika sein Schicksal als einen Traum.“

Tosches wurde 1949 in Newark, New Jesey geboren. Sein italienischstämmiger Vater betrieb eine Bar, seine Mutter war irischer Herkunft. Mit 14 arbeitete er bereits in Bars, beendete die High School und weigerte sich trotz des väterlichen Drängens aufs College zu gehen. Deshalb musste er wieder die Schulbank drücken, um für seinen Dante-Roman Latein zu lernen, damit er die Quellen studieren konnte.
„Wo ich aufwuchs, gab es kaum Bücher, aber jede Menge Buchmacher. Als Kind stahl ich Bücher. Fünf meiner eigenen Bücher habe ich auf einer gestohlenen Schreibmaschine geschrieben. Mittelmäßige Autoren kopieren, große Autoren stehlen.

In den 60ern gehörte er nicht zur Love & Peace-Fraktion. „Meine Kumpels und ich waren voll auf Drogen. Wir schlugen Hippies nieder und raubten sie aus.“

Er stand auf Rock-Musik. Bis heute ist er besessen von früher Pop-Musik. Er stand eigentlich auf alles, was ein Spießer abartig zu nennen pflegt. Auch Literatur war immer sein Ding. „Mein MOBY DICK war Hubert Selbys LAST EXIT TO BROOKLYN. Das Buch weckte den Autor in mir, befreite und inspirierte mich. Neben Peter Matthiessen und Philip Roth gehört er zu den drei großen Gegenwartsautoren. Aber Hubert respektiere ich am meisten – als Autor und Mensch.“

Als die 60er Jahre endgültig ihre Geschäfte einstellten, verkaufte er seinen ersten Text. In New York überlebte er nur durch die täglichen Partys, auf denen er sogar feste Nahrung fand. Er schrieb für legendäre Musikmagazine wie CREEM und FUSION.

1972 ging er nach Florida und wurde Schlangenfänger. Nachdem er gebissen worden war, beschloss er selber Gift zu verspritzen und wurde ernsthafter Autor und Rock-Kritiker. Mit Richard Meltzer und Lester Bangs gehörte er zu den Noise Boys, die mit ihrer Gonzo-Schreibe den Rock-Journalismus veränderten.

Tosches war der vielseitigste und schrieb nicht nur wichtige Musikbücher, sondern auch Gedichte, Biographien (etwa über den Mafia- und Vatikanbankier Michele Sindona, in der er den Vatikan als bedeutendste Verbrecherorganisation aller Zeiten erkennt) und Romane.

Zu seinen Förderern gehörte Ed Sander, der ihn auf die Klassiker brachte. Zitate der alten Griechen und Römer finden sich oft in seinen Texten über Pop-Kultur und ermöglichen ungewöhnliche Perspektiven. In seinen Pop-Archäologien wühlt er sich durch alle kulturellen Mülltonnen und verändert den Musik-Kanon, indem er die großen Vergessenen zurückholt: In WHERE DEAD VOICES GATHER exhumiert er mit Emmett Miller den Musiker, in dem nach Tosches erstmals schwarze und weiße Musik zur modernen amerikanischen Musik verschmolzen. Dabei bleibt er natürlich immer seinem Bad Boy-Image treu: „Wir verdanken der Mafia viel. Hätten sie nicht die Discjockeys bestochen, wäre der Rock’n’Roll nie ein Erfolg geworden.“ HELLFIRE, seine Jerry Lee Lewis-Biographie, bezeichnete Greil Marcus als „amerikanischen Klassiker“.

„Dean Martin war ungefähr der letzte Typ, über den ich schreiben wollte. Bis ich mich genauer mit ihm beschäftigte – und natürlich mit den Mächten im Hintergrund: Mafia und Politik.“ Ausserdem ist Dino – was in Deutschland nicht hinreichend bekannt sein dürfte – eine der größten Pop-Ikonen überhaupt: Er schaffte etwas, was vor und nach ihm niemand geschafft hatte: sich gleichzeitig als Bühnen-, Film-, Fernseh- und Schallplattenstar durchzusetzen. In den USA haute er sogar die Beatles von der Hitparadenspitze!

Für seine brillante Boxerbiographie – „wahrscheinlich, das düsterste Buch, das ich bisher geschrieben habe.“ – gilt ähnliches. Es ist das Organisierte Verbrechen, dem Sonny Liston gehörte und das über das Leben des stärksten Mannes der Welt verfügte. Nach der Lektüre wird auch der Dümmste Boxkämpfe nicht länger als sportliche Veranstaltungen betrachten.

Papst Nick, wie er unter Eingeweihten genannt wird, ist nicht gerade der Liebling der Emanzen. In jedem Artikel positioniert er einen Machismo, der ihn den Ehrennamen „phallokratischster Rock-Kritiker“ einbrachte. Das macht ihm Spaß und ermuntert ihn zu Szenen, die jedem Porno zur Ehre gereichen würden. Sex, Rock’n’Roll – da dürfen die Drugs natürlich nicht fehlen. Die spielen immer mit. In THE LAST OPIUM DEN durchsucht Tosches Südostasien nach der letzten Opiumhöhle. Das kurze Gonzo-Buch basiert auf einem Artikel für VARIETY, Tosches Hausblatt in dem heute seine hochbezahlten Edelreportagen gedruckt werden.

In seinen Mafia-Epen, die Macchiavelli lektoriert haben könnte, gewinnt der Leichenbestatter als Einziger immer. Die Gewalt ist alltäglich, Bestandteil des Geschäftslebens. „Zivilisation ist eine alte Hure und sie wird mit jedem Tag hässlicher. Es ist die Zivilisation Kains; sie wurde auf einem Mord aufgebaut. Männer, die das Töten ablehnen, haben unsere Zivilisation einfach nicht begriffen. Die sind unzivilisiert“, heisst es in TRINITIES, dem apokalyptischen Noir-Roman, für den Tosches 250 000 Dollar Vorschuss kassierte und der vollgestopft ist mit illegalen Informationen. Und wenn es einen Roman gibt, der die TV-Serie SOPRANOS inspiriert hat, dann CAT NUMBERS. Bevölkert mit bösen, hungrigen alten Männern und ausgenutzten bösen, jungen und hungrigen Männern. Fehlt nur Dantes knochenbrechender Ugolino (Tosches Dante-Besessenheit beschert uns seinen Roman:IN THE HANDS OF DANTE). Entmythologisiert dampfen mit Kleingeld rappelnde Straßenganoven neben amoralischen Dons mit verwesten Seelen in denselben miesen Kneipen und Hinterhöfen Schulter an Schulter und lassen ihren explosiven Kräften freien Lauf. In die Hölle wird man nicht geholt, darin wird man geboren. Aber selbst in seiner Noir-Welt gibt es Lichtblicke: „Doch Gott in seiner unergründlichen Weisheit hatte die Revuetänzerin erschaffen“.

BIBLIOGRAPHIE:

COUNTRY, 1977.

HELLFIRE, 1982.
Hellfire: Die-Jerry-Lee-Lewis-Story; Ullstein, 1991.

UNSUNG HEROES OF ROCK’N’ROLL, 1984.

POWER ON EARTH, 1986.
Geschäfte mit dem Vatikan; Doemer Knaur, 1989.

CUT NUMBERS, 1988.
Kopf um Kopf; Ullstein, 1990.

DINO, 1992.
Dino. Heyne, 2002.

TRINITIES, 1994.
Die Meister des Bösen; Heyne, 1997.

CHALDEA (Gedichte), 1999.

THE DEVIL AND SONNY LISTON, 2000.
Der Teufel und Sonny Liston; Heyne, 2000.

THE NICK TOSCHES READER, 2001.

WHERE DEAD VOICES GATHER, 2001.

THE LAST OPIUM DEN, 2002.

IN THE HANDS OF DANTE, 2002.

King of the Jews, 2005

Never Trust a Loving God, Art Stock Books, 2009

Save the Last Dance for Satan, Kicks Books, 2011
Me and the Devil, Little, Brown, 2012

Johnny’s First Cigarette, Vagabonde, 2014

Under Tiberius, Little, Brown, 2015