Martin Compart


SF, DIE MAN GELESEN HABEN MUSS: BLUMEN FÜR ALGERNON von DANIEL KEYES by Martin Compart
30. November 2013, 10:58 am
Filed under: Alexander Martin Pfleger, DANIEL KEYES, Porträt, Science Fiction | Schlagwörter: ,

Ich habe wieder mal das Vergnügen, in diesem Blog einen Text der großen weißen Hoffnung der Germanistik zu präsentieren. Weitere sollen folgen!

Mann und Maus
Daniel Keyes´ „Blumen für Algernon“
von Alexander Martin Pfleger

Daniel Keyes´ „Blumen für Algernon“ zählt zu den wenigen Werken der US-amerikanischen Science Fiction, die bereits kurz nach ihrem Erscheinen auch außerhalb der engen Grenzen des Genres literarische Anerkennung fanden. Die 1959 erschienene Kurzgeschichtenfassung wurde mit dem Hugo Gernsback Award ausgezeichnet, die 1966 publizierte Romanversion brachte dem Autor einen Nebula Award ein – die beiden höchsten Ehrungen innerhalb des Science Fiction Genres. Im deutschen Sprachraum wurde der in mehrere Sprachen übersetzte erfolgreichste Roman des Literaturwissenschaftlers und Psychologen Keyes bereits in den 60er Jahren positiv in Kindlers Literatur Lexikon besprochen. Die Verfilmung von Robert Nelson unter dem Titel „Charly“ aus dem Jahr 1968 brachte dem Hauptdarsteller Cliff Robertson einen Oscar ein.

Charly[1]

Erzählt wird die Geschichte des geistig zurückgebliebenen zweiundreißigjährigen Charlie Gordon, der als Hilfsarbeiter in einer Bäckerei arbeitet und aufgrund seines unbeugsamen Ehrgeizes zu lernen und intelligenter zu werden dazu ausersehen wird, an einem einzigartigen wissenschaftlichen Experiment teilnehmen zu dürfen. Durch eine Gehirnoperation wird seine Intelligenz sukzessive gesteigert – parallel zu ihm wird der gleiche Eingriff bei der Maus Algernon vorgenommen. Sowohl beim Mann als auch bei der Maus scheint der Versuch geglückt. Während Algernon immer komplexere Labortests spielend zu meistern weiß, erlernt Charlie binnen weniger Wochen mehrere Sprachen, entwickelt sich zu einem auf wissenschaftlichem wie künstlerischem Gebiet überdurchschnittlich gebildeten Menschen, verfaßt linguistische Untersuchungen, komponiert Klavierkonzerte und übernimmt schließlich selbst die Überwachung des Experiments. Seine Beobachtungen führen ihn allerdings zu dem Schluß, daß es letzten Endes scheitern werde – auf eine kurze intellektuelle Hochphase bei ihm und der Maus folgt unwillkürlich der Rückfall in Primitivität. Tatsächlich wird Algernon auf einmal aggressiver, findet sich nicht mehr in den Labyrinthen zurecht, durch die man ihn laufen läßt, um seine Intelligenz zu messen, und stirbt schließlich an Hirnerweichung. Auch Charlies Sturz ist unausweichlich – er verlernt alles, was er sich noch vor ein paar Monaten selbst beigebracht hatte, kann mit moderner Musik, die ihn besonders faszinierte, nichts mehr anfangen, und führt schließlich sein Zurücksinken auf das Niveau eines Schwachsinnigen darauf zurück, daß er sein Hufeisen und seine Hasenpfote verloren oder jemand den bösen Blick auf ihn geworfen habe. Am Ende bleibt ihm nichts weiter übrig, als sich in ein staatliches Pflegeheim zu begeben und eine Notiz zu hinterlassen, Blumen auf das Grab Algernons zu legen, den er in seinem Garten beerdigt hatte.

FlowersForAlgernon500[1]Der in Tagebuchform geschriebene Roman umfaßt einen Zeitraum von knapp 10 Monaten, von Anfang März bis Ende November eines nicht näher bestimmten Jahres. Er präsentiert sich dem Leser als chronologische Sammlung der fast täglich abgefaßten Fortschrittsberichte Charlies für seine behandelnden Ärzte. Auf diese Weise gelingt es dem Autor, den Leser das Geschehen quasi unmittelbar aus der Perspektive des Betroffenen miterleben zu lassen. Zu Beginn beherrscht Charlie nicht einmal die einfachsten Regeln der Orthographie, im Verlauf der Behandlung erlernt er jedoch sehr schnell die Gesetze der Interpunktion, sein Satzbau wird komplexer, sein Wortschatz reichhaltiger, seine Darstellungsweise differenzierter und selbstreflexiver. Mit dem Schwinden seiner geistigen Fähigkeiten gleichen sich seine späteren Eintragungen wieder dem Anfang an.
Besonders Keyes´ originelle stilistische Vorgehensweise trug zur Eindringlichkeit bei, mit der sich die dargestellten Ereignisse dem Leser präsentieren. Obgleich das psychologische Einfühlungsvermögen des Autors zurecht gerühmt wurde, offenbart der Roman dennoch einige Klischees in der Figurenzeichnung. Charlies in ausführlichen Rückblenden erzähltes Vorleben wird allzu schematisch auf Schlüsselerlebnisse reduziert, die seinen Ehrgeiz zu lernen oder seine anfängliche Scheu vor Frauen erklären sollen. Auch sind die Differenzen der ihn untersuchenden Wissenschaftler etwas überzeichnet, und die weiblichen Charaktere des Romans entsprechen zu sehr bestimmten Stereotypen – die vom Kindler als „mütterlich“ bezeichnete Sonderschullehrerin Alice Kinnian oder die ausgeflippte, weltoffene, aber auch oberflächliche und letztlich unzuverlässige Künstlerin Fay – , als daß sie tatsächlich zu überzeugen vermöchten. Überhaupt merkt man der besonderen Betonung der sexuellen Verschlossenheit Charlies, die sich zudem in Angstträumen und Wachhalluzinationen niederschlägt, doch sehr stark die Verhaftetheit des Romans in Grabenkämpfen der 50er und 60er Jahre an. Die vielfach lobend hervorgehobene Vertiefung der sozialen Aspekte in der Romanversion mutet in dieser Hinsicht durchaus unvorteilhaft gegenüber der Kurzgeschichtenfassung an.DanielKeyes[1]

Dennoch tangieren diese Einwände die Substabz des Werks nur peripher. Ein zentrales Motiv des Romans ist die Ungeduld, mit der insbesondere Erwachsene dem jungen Charlie in einer Phase begegnen, da etwas mehr Zeit, Anteilnahme und Zuwendung eine und wenn auch noch so geringe geistige Weiterentwicklung hätten ermöglichen können. Insbesondere hinsichtlich dieses konsequent entwickelten Motivs ist dem Autor ein Meisterstück subtil andeutender Charakterisierungskunst geglückt. Diesbezüglich läßt sich auch die Grundhaltung des Buchs gegenüber dem wissenschaftlichen Fortschritt sehr präzise erfassen – kein billiger Zukunftsoptimismus, auch keine unreflektierte Fortschrittsfeindlichkeit, wohl aber ein besonnener Hinweis darauf, nicht blind auf die Segnungen der Wissenschaft zu vertrauen, wo sich wahrhaftiges Menschentum und wahrhaftige Mitmenschlichkeit hätten behaupten müssen, aber kläglich versagten.
Die besondere Anziehungskraft von „Blumen für Algernon“ – in welcher Form auch immer – beruht aber letztlich auf der Vergegenwärtigung der Ohnmacht des Ich-Erzählers gegenüber Geschehnissen, die er zwar rational erfassen, nicht aber verhindern kann, und auf der geradezu alptraumhaft wirkenden Wiederkehr längst überwunden geglaubter Entwicklungsstufen. Charlie durchschaut auf seinem geistigen Höhepunkt die Unzulänglichkeit der an ihm und Algernon vorgenommenen Maßnahmen, erkennt, daß zu einem späteren Zeitpunkt eine tatsächliche Intelligenzsteigerung auf medizinischem Weg möglich sein könnte, weiß aber auch, daß er diese Entwicklung nicht mehr erleben wird. Dem Rückfall in die geistige Unterentwickeltheit seines früheren Lebens sieht er zunächst mit der Gefaßtheit eines tragischen Helden entgegen, der das Unabänderliche akzeptiert; im Laufe seines Herabsinkens bemüht er sich vergeblich darum, zumindest Teile seiner einmal errungenen Intelligenz zu bewahren, um schließlich am Endpunkt der Entwicklung die Geschehnisse überhaupt nicht mehr zu verstehen und auf Erklärungsmodelle aus dem Bereich des Aberglaubens zurückzugreifen.
Der Vorwurf, daß letztlich jede Science Fiction Erzählung zum Thema „Übermenschen“ daran scheitere, die Geschichte aus der Perspektive eines weit über dem Durchschnitt stehenden Protagonisten zu schildern, wurde auch Keyes vereinzelt gemacht, erweist sich aber bei genauerer Lektüre als unzutreffend. Keyes beschränkt seine stilistischen Experimente auf Charlies Schwachsinnsphasen; seine geistigen Höhenflüge werden hingegen lediglich angedeutet und sprachliche Exaltationen vermieden. Keyes´ Roman erscheint nicht allein deshalb geradezu zeitlos; eine Geschichte wie die Charlies ist gerade heutzutage, angesichts des rasanten Erstarkens längst überwunden geglaubter deterministischer und biologistischer Ansätze in erziehungs- und sozialpolitischen Fragen, wieder von beängstigender Aktualität.

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Daniel Keyes:
Blumen für Algernon. Roman
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Eva-Maria Burger
Klett-Cotta, Stuttgart 2006
298 Seiten, 19.50 EUR
ISBN: 978-3-608-93782-4
3-608-93782-X



SHAMANS BLUES: JIM MORRISON & THE DOORS by Martin Compart
14. November 2013, 5:23 pm
Filed under: DOORS, MUSIK, Politik & Geschichte, Porträt, Rezensionen | Schlagwörter: , ,

Jim Morrison ist der Che Guevara der Rock-Musik.

Sein Gesicht ist genauso zur Ikone der Revolution geworden wie das von Che (und ähnlich häufig kommerziell entstellt). Im Todesjahr von Che war Morrison mit einer Gang aufgebrochen um den Überbau zu befreien. Wie Che scheiterte er am fehlenden Bewusstsein der „Unterdrückten und Beleidigten“ und starb jung um unsterblich zu werden.

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Natürlich gibt es über beide inzwischen haufenweise Literatur, Dokumentationen und sogar Hollywoodfilme.

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Nik Cohn schrieb über Jim: „Er sah aus, als hätten ihn sich zwei Schwule am Telefon ausgedacht.“ Auch die Polizei fotografierte ihn gern.

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Keine andere Band hat die Entwicklung der 1960er Revolte so intensiv widergespiegelt: Vom Optimismus von FIVE TO ONE („The old get older, the young get stronger, they have the guns, but we got the numbers“) bis zur Resignation von RIDERS ON THE STORM („Into this world we thrown, like a dog without a bone“).
„Es sieht so aus, als ob man sich in einer permanenten Revolution befinden muss, oder man stirbt. Revolution muss immer sein, sie muss permanent sein, nicht etwas, das die Dinge verändert und damit hat sich´s dann. Die Revolution wird alles lösen. Sie muss täglich stattfinden“, sagte Morrison 1970 zu „Zigzag“. Zusammen mit seinem Freund, dem Beat-Poeten Michael McClure, machte Morrison Lesungen um Geld für Norman Mailers Wahlkampf um das New Yorker Bürgermeisteramt zu sammeln. Revolte innerhalb und außerhalb des Systems – Jim war für jeden Spaß zu haben.

Seit Jims Tod wurden von den Doors-Tonträgern ein Vielfaches mehr verkauft als zu seinen Lebenszeiten. Seit den 1970er Jahren etwa eine Million Alben pro Jahr. Von der ersten Morrison Biographie, KEINER KOMMT HIER LEBEND RAUS, wurden bis 1992 über 5 Millionen Exemplare verkauft. Die Doors werden anscheinend von jeder Generation neu entdeckt. Keine technologische Entwicklung lässt die Songs der Doors besser klingen als bei ihrer Erstveröffentlichung auf Vinyl. Da kann man remastern soviel man will. Sie klingen heute so zeitlos, frisch (blödes Wort im Zusammenhang mit den Doors) und einzigartig, als wären sie erst gestern aufgenommen worden.
Sehr zum Unwillen des Schlagzeugers John Densmore, der mit RIDERS ON THE STORM auch die beste Erinnerung an die Band geschrieben hat, betrieben Robby Krieger und Ray Manzarek, der dieses Jahr gestorben ist, eine Art Ausverkauf der Doors. Sie gingen sogar wieder auf Tour – mit Sängern, die Densmore verächtlich „Jimitator“ nennt. Wie es sich für eine richtige Krawallkapelle gehört, verklagten sie sich gegenseitig und führten einen langen Prozess (geschildert aus Densmores Sicht in: „The Doors Unhinged: Jim Morrison’s Legacy Goes on Trial“; Percussive Press, $14.95).

Zu einer ersten Friktion zwischen Morrison und der Band kam es 1968 als die anderen Band-Mitglieder hinter seinem Rücken ihren Hit LIGHT MY FIRE für einen Buick-Werbespot an General Motors verkauften. Jim rastete aus: „Ihr könnt das nicht ohne mich entscheiden. Ich dachte, wir wären Brüder. Damit hat sich alles geändert. Ihr habt einen Vertrag mit dem Teufel gemacht.“ Er teilte GM mit, er würde Sendezeit kaufen und jede Woche im Fernsehen einen Buick mit einem Vorschlaghammer zerlegen, falls sie LIGHT MY FIRE einsetzen. Danach war nichts mehr wie vorher. Von nun an wurden die einzelnen Songs nicht als „Doors“ gezeichnet, sondern die Komponisten namentlich. “We created this magic in a garage that got so much bigger than all of us, I’d say the Buick incident was sort of the beginning of troubles about art vs. economics.”, sagt Densmore.
So brillant Densmore, Krieger und Manzarek als Musiker waren und sind – ohne Morrison ging nichts. Wenn man die beiden Alben der übrig gebliebenen Doors hört, glaubt man einer anderen Band zu lauschen, einer Band ohne Hirn und Seele.

Nun ist ein neues Buch über die Doors erschienen. Ein Buch, das sich vor allem mit ihrer Musik auseinandersetzt. Geschrieben von einem der bedeutendsten Theoretiker der Populärkultur: Greil Marcus.

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Der 1949 geborene Kalifornier Greil Marcus gehört seit Jahrzehnten zu den besten Analytikern der Populärkultur. Ausgehend von Musikern oder Songs beschreibt er die gesellschaftlichen und historischen Ursachen und Wirkungen dieser. Er bleibt nie sklavisch am Ausgangssujet, sondern entwickelt ganze Panoramen, beleuchtet Emotionen, benennt politische Zusammenhänge. Er ist einer der umfassendsten Pop-Kritiker, der auf Grund seiner breiten thematischen Bildungen immer wieder verblüffende Erkenntnisse gewinnt, die über das gesetzte Thema hinaus unsere westliche Kultur erfahrbar machen. Er war neben Lester Banks und Hunter S.Thompson einer der großen Autoren des ROLLING STONE und vielleicht der Intellektuellste im „New Journalism“.

Wenn Greil Marcus also ein Buch über Jim Morrison und die Doors schreibt, ist das genauso wenig „nur“ ein Buch über die Doors wie MYSTERY TRAIN ein Buch über Elvis, oder BOB DYLAN´S LIKE A ROLLING STONE ein Buch über Dylans Song ist. Der Künstler alleine ist zu wenig für Marcus, vielleicht nur Katalysator (ohne dass er deshalb sein Genie oder seine Wirkung unterschlägt). Greil Marcus versucht die Welt zu erklären. Eine Welt in der Popgruppen mehr ausmachen als ihre „einzige anerkannte konkrete soziale Rolle, einen weiteren Hit zu landen“. Marcus geht oft assoziativ vor um die Songs in einen größeren Kontext zu betrachten. Das kann faszinieren, aber auch in die Hose gehen. Leser, die keine Vorkenntnisse über die Doors haben, werden mit dem Buch nur sehr begrenzt etwas anfangen können – Sekundärliteratur für Fortgeschrittene. In einem Interview beklagte Marcus, dass es in keinem Buch über die Doors, das er gelesen hatte, um die Musik gegangen war, sondern immer nur um Morrison als byronschen Helden.

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„Morrison war kein Typ, der auf der Bühne eine Schau abzog und dann nach hause ging und ein Bier trank, der bloß an die Kohle dachte. Nein, er war der Typ, der das Leben, das er auf der Bühne präsentierte, die ganze Zeit über lebte… Er führte ständig ein Leben am Abgrund, und die Leute im Publikum spürten das… Ich kann nur sagen, er führte ein Leben, das ganz und gar der Revolution gewidmet war.“
Robbie Krieger 2006

In THE DOORS rechnet Marcus gnadenlos mit den Sixties, bzw. mit dem kommerziellen Interessen gehorchenden Bild der 1960er Jahre ab. „Es kam mir so vor, als hätten meine Kinder erst dann eine Chance, ihre eigene Kultur zu schaffen, ihre eigene Geschichte zu erzählen, wenn die Sixties endlich dort gelandet waren, wo sie hingehörten: in die Mottenkiste… Denjenigen, die eine Generation jünger sind als ich, ist immer wieder erzählt worden, dass der Sound, von dem sie lediglich das Echo beanspruchen könnten, nur ein einziges Mal ertönt sei und dass er nie wieder ertönen werde.“

Auch die heute so geschätzte Hippie-Musik, der so genannte „West Coast Sound“ aus San Francisco kriegt sein Fett weg: „Die Musik aus San Francisco hatte einen weichen Kern…sie glaubte an ein Happy End.. vieles vom sagenumwobenen San Francisco Sound kann man heute als einen Versuch hören, genau die Art von Geschichten abzuwehren, die implizit in der Musik enthalten war; wie sie Moby Grape…und die Doors zu jener Zeit machten.“

In dem faszinierenden Kapitel über Oliver Stones Doors-Film tastet er sich durch die von der begleitenden Medienkampagne erzeugten Fehl- und Vorurteile in den Film hinein und sieht aufklärerisches in Stones Inszenierung des legendären Miami-Konzerts: „Dieses fast schon körperliche Gefühl, dass etwas fehlt, ist das, was die Sixties als Kultur, mit all ihren Albernheiten, Mystizismen, Solipsismen, Selbstbeweihräucherungen und Falschheiten, den folgenden Jahrzehnten hinterlassen haben: das Gefühl, dass es eine andere Welt gibt“.

Marcus geht von einem Doors-Song aus und analysiert sie dann in den einzelnen Kapiteln in einer Tiefe, wie man sie in den üblichen Musik-Gazetten nicht oder selten findet.

Er zerlegt und beschreibt die Songs, dass man sie zu hören glaubt und beim Wiederhören neue Aspekte wahrnehmen kann. CRYSTAL SHIP: „…schwebt der Song zwischen Träumen und Wachen, zwischen Reden und Schweigen, zwischen Fantasie und Wirklichkeit, zwischen dem Tod und dem nächsten Morgen. Und der Song verharrt dort oben, er landet nicht. Die Musik ist von schwerelosen, bedächtigen Figuren erfüllt – die beiden ersten Wörter des Songs, die in die widerhallende Stille eines leeren Hauses hineingesprochen werden…die vollkommene Metapher, das Geisterschiff des Herzens.“

Aber manchmal schreibt er auch bodenlosen Mist, wie etwa den Verriss von STRANGE DAYS. WAITING FOR THE SUN und THE SOFT PARADE erkennt er nicht mal ansatzweise als die gewaltigen Alben, die sie sind. Lieber schwadroniert er ausgehend von dem Song TWENTIETH CENTURY FOX über Pop-Art, oder was er dafür hält. Zugegeben: höchst originell. Im Kapitel zu END OF THE NIGHT unterstellt er der Doors-Musik düstere Antizipation des Zeitgeistes: „Nach Charles Manson konnten die Leute auf THE END, STRANGE DAYS etc. zurückblicken und hören, was Manson getan hatte, so als müsste es erst noch geschehen, als hätten sie es wissen müssen… Im Sommer 1969 hörten sich die Leute wieder ihre Doors-Alben an, und sie sagten sich: Ja, es war alles darin enthalten.“

Dass Jim nach dem 1969er Miami-Konzert vor Gericht gezerrt wurde weil er sich angeblich auf der Bühne entblößt hatte, lag wohl eher an der Publikumsbeschimpfung, mit der er ein für allemal mit der zusammengebrochenen Gegenkultur abrechnete: „Ihr seid nichts weiter als ein Haufen Idioten! Lasst euch von anderen sagen, was ihr tun sollt! Wie lange soll das noch weitergehen? Wie lange wollt ihr das noch zulassen? Wie lange wollt ihr euch noch von anderen herumschubsen lassen? Vielleicht gefällt es euch ja. Vielleicht lasst ihr euch gerne herumschubsen. Vielleicht fahrt ihr ja darauf ab. Vielleicht fahrt ihr darauf ab, mit der Nase in den Dreck gestoßen zu werden. Los, kommt. Ihr fahrt darauf ab, oder? Es gefällt euch. Ihr seid nichts weiter als ein Haufen Sklaven!“ Es war der 1.März 1969 und der wirkliche Todestag von Jim Morrison. Der Tag, an dem er die Hoffnung verlor. Che in Bolivien: „die Bauern sind wie Steine.“ Er hielt noch eine Weile durch, glaubte aber nicht mehr wirklich daran, dass er etwas verändern könne. Da er sich vornehmlich als Poet verstand, ging er 1971 nach Abschluss des sechsten Studio-Albums, L.A.WOMAN, nach Paris um dort unter mysteriösen Umständen zu sterben. Marat in der Badewanne. Er wurde auf dem Père-Lachaise beigesetzt. Seitdem ist sein Grab eine dauerhaft aufgesuchte Kultstätte alter und junger Rebellen.

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Neben Literatur, Musik und Revolution galt seine intellektuelle Leidenschaft den Drogen. Besonders der Alkohol hatte es ihm angetan:
„Trinken ist ein Weg, mit dem Leben in einer überfüllten Umgebung fertigzuwerden, zudem ein Produkt von Langeweile. Es ist deine Entscheidung, jedes Mal wenn du einen Schluck nimmst. Du hast eine Menge kleiner Entscheidungen. Es ist wie der Unterschied zwischen Selbstmord und langsamer Kapitulation.“

Das Buch von Marcus ist auch deshalb lesenswert, da sich der Hardcore-Fan an ihm reiben kann. Auch wenn Marcus gelegentlich nicht nachvollziehbaren Quatsch schreibt – es ist nie dummer Quatsch.

Greil Marcus: The Doors. Kiepenheuer & Witsch, 2013;258 Seiten. 9,99 €