Filed under: Brit Noir, DUMONT NOIR, Krimis,die man gelesen haben sollte, Porträt, RUSSELL JAMES, thriller | Schlagwörter: Brit Noir, DUMONT NOIR, Gangster, Krays, London, Noir, RUSSELL JAMES, Ted Lewis
FINDEN SIE POLIZISTEN TATSÄCHLICH INTERESSANT?
– Anmerkungen zu Russell James und der Tradition des britischen Noir-Romans
I.
„Nachdem mein drittes Buch erschienen war und ich am vierten arbeitete, merkte ich, was kein Kritiker bisher bemerkt hatte: Niemand außer mir schrieb in Großbritannien crime stories. Man schrieb Detektivromane, Privatdetektivgeschichten, Polizeiromane. Alle schrieben anti-crime-stories – Gesetzeshütergeschichten. Warum? Finden sie Polizisten tatsächlich interessant?“ James scheint sich der Aussage des Philosophen Peter Sloterdijk nahe zu fühlen, der bemerkte, daß in einer nihilistischen Gesellschaft der Gangster der Einzige ist, der weiß, was er will. Inzwischen sind die Gangsterromane – soweit dieser etwas angestaubte Terminus wirklich zutrifft – von Russell James auch in England kein Geheimtipp mehr, obwohl das GQ-Magazine vor ein paar Jahren noch behauptete: „Er ist das große unbekannte Talent der britischen Kriminalliteratur“, sagte die Times und nannte ihn „einen Kult“. John Williams definierte ihn in The Face als „unheilige Allianz aus Len Deighton und David Goodis“ bezeichnete. Mit etwa einem halben Dutzend Romanen hat sich James als führender Stilist der British Fresh Blood-School etabliert. James konzentriert sich auf die Gangster und ihre Opfer. Die Polizei kommt nur am Rande vor und hat kaum Zugang zu dieser geschlossenen Unterwelt. Es sind die eindrucksvollen Charaktere und die stimmungsvollen wenn auch düsteren Schauplätze, die den Reiz seiner Romane ausmachen. Was man über Chandler sagte, gilt auch für James: Man würde seine Bücher weiterlesen, auch wenn das letzte Kapitel fehlte. „Ich mochte die meisten zeitgenössischen britischen Thriller nicht, als ich mit meinen Noir-Romanen begann. Die meisten neuen Autoren änderten lediglich Details: Statt eines Mannes nahm man eine Frau als Helden und ähnliches. Ich dachte, man müsse auch konzeptionell mehr wagen. Der durchschnittliche Protagonist ist rechts, ein Verteidiger von Ordnung und Autorität. Nicht bei mir. Mein Held in UNDERGROUND ist anders. Er ist links, antiautoritär und gegen die Gesellschaft eingestellt. Er ist gegen alles, an das durchschnittliche Leser und Helden glauben.“
Russell James wurde als Russell Logan am 5.Oktober 1942 in Gillingham, Kent geboren. Er war ein intelligentes Kind, hatte aber eine unglückliche Kindheit: Sein Vater beging Selbstmord. Nachdem seine Mutter erneut geheiratet hatte, schickte man Russell auf eine Kadettenschule. Aber statt sich auf eine militärische Karriere zu stürzen, brach er aus, um sich durch die 6oer Jahre treiben zu lassen. Ohne feste Jobs zog er herum und arbeitete u.a. für einen Radiosender auf Zypern. Dann entdeckte er seine Liebe zum Theater und machte bei einer britischen Theatergruppe so ziemlich alles: Lichtsetzer, Schauspieler, Regisseur. Er schrieb auch Sketche und kleine Stücke, die „heute zum Glück vergessen sind“. In den 70ern wurde er respektabel, heiratete und arbeitete als Manager für IBM. Den Job hielt er sieben Jahre durch, bevor er ihn 1979 hinschmiss und sich selbstständig machte. Er sieht sich als einen einsamen Wolf, der nicht in Organisationen arbeiten kann. Das hat er mit seinen Helden gemeinsam. Als Consulting Manager arbeitet er erfolgreich im direct marketing und hat eine gutgehende Firma in Cheltenham.
Als er Ende der 80er Jahre zu schreiben begann, wusste er genau, daß er nicht gängige Thriller schreiben wollte. Ihn interessierten die Außenseiter und die wenig bekannten Londoner Milieus. „Der größte Teil der Kriminalliteratur langweilt mich. Ich mag keine Polizeiromane (police procedurals), Detektivgeschichten oder Amateurdetektive. Ich bin mehr interessiert am Stil als am Plot. Was für ein Bekenntnis! Der erste Kriminalliterat, der mich begeisterte – ich war damals allerdings erst zwölf Jahre alt – war Peter Cheyney, besonders die Lemmy Caution-Romane. Als Erwachsener beeinflussten mich besonders David Goodis und Cornell Woolrich. Von den jüngeren Autoren mag ich James Sallis. Derek Raymond ist mir manchmal zu deftig – aber ich habe 1989 eine denkwürdige Nacht mit ihm durchgetrunken.“
Seine ersten drei Romane sind von Filmproduktionen unter Option genommen. Sein genauer, filmischer Stil hat die Branche natürlich sofort auf ihn aufmerksam werden lassen. „Portobello Pictures hat ein so entsetzliches Drehbuch aus PAYBACK gemacht, daß es mich nicht wundert, daß das Projekt auf Eis liegt. Elmgate will aus UNDERGROUND eine dreiteilige TV-Serie machen. Tracy Hoffman von Screenage Pictures hat DAYLIGHT unter Vertrag und – das Buch spielt 1990 in Leningrad – wollte es mit einer russischen Firma und russischem Kapital machen. Aber leider ist der Rubel ziemlich abgestürzt. John Malkovich scheint sich für SLAUGHTER MUSIC zu interessieren. Also nichts Greifbares bisher. Ich liebe Noir-Filme, jedenfalls die guten. Ich finde es nicht schlimm, wenn sich Romane wie Filme lesen. Das heißt natürlich nicht, daß ich Bücher schätze, die nur auf eine Verfilmunhin geschrieben wurden. Aber ich liebe visuelle Prosa.“
II.
Wenn man an britische Kriminalliteratur denkt, meint man meistens die klassischen Detektivgeschichten. Übermächtig überschatten Sherlock Holmes, Agatha Christie oder Dorothy L.Sayers dieses Genre und verstellen den Blick auf unabhängige Strömungen, die als Subgenre mit diesen Klassikern nichts zu tun haben. Trotz verschiedener „Revolutionen“, von Francis Iles Transformation der inverted story bis hin zum Psychothriller der angry young men Anfang der 50er Jahre, wird die britische Kriminalliteratur entweder mit klassischen Detektivromanen oder bestenfalls noch Spionageromanen gleichgesetzt. Diese Betrachtungsweise war immer schon verkürzt und ist heute besonders unzutreffend: Um 1990 begannen neue britische Autoren die kriminalliterarische Landschaft ihrer Heimat zu verändern.
Der Schock, den Derek Raymond in den 80er Jahren der britischen Kriminalliteratur verpaßt hatte, zeigte Wirkung und rüttelte das Genre aus der Lethargie – eine zweifellos kommerziell erfolgreiche Lethargie, wie die Auflagen von P.D.James, Martha Grimes, Ruth Rendell, Len Deighton oder John LeCarré zeigten. Aber die neuen Autoren wollten jenseits von klassischen Detektivromanen, Psychothrillern oder Polit-Thrillern die Mean Streets Britanniens wiederentdecken. Derek Raymond hatte mit seiner Factory-Serie an eine Tradition erinnert, die trotz gelegentlicher Einzelleistungen keine Bedeutung zu haben schien: an die höchst eigenwillige britische Noir-Tradition, die zwar einige Meisterwerke hervorgebracht hatte, aber nie so stilprägende Autoren wie die amerikanischen Vettern mit Dashiell Hammett, James M.Cain, Raymond Chandler, W.R.Burnett, Mickey Spillane, Jim Thompson, David Goodis oder Ross Macdonald. Der britische Noir-Roman, wenn nicht einfach nur kommerzieller Epigone der Amerikaner, war ein im Schatten blühendes Pflänzchen, das von wenigen Autoren gepflegt wurde und von wenigen Lesern, die sich damit als wahre Afficionados erwiesen, in eine Tradition eingeordnet wurde. Selbst der große Kriminalliteraturtheoretiker Julian Symons hat in seinem verdienstvollen Standardwerk BLOODY MURDER diesen Teil der britischen Kriminalliteratur unterschlagen oder einzelne Autoren nur isoliert betrachtet. Folgerichtig waren es weniger die eigenen Traditionen, die die Fresh-Blood-Autoren Ende der 80er Jahre inspirierten. Es waren die zeitgenössischen Amerikaner wie Elmore Leonard, Carl Hiaasen, Charles Willeford, James Crumley oder James Ellroy, die den Wunsch auslösten, eine ähnliche Literatur zu produzieren.
Ursprünge der britischen Noir-Literatur lassen sich auf die Thriller von Autoren wie Leslie Chateris, Sidney Horler oder Peter Cheyney zurückführen, die alle bezeichnenderweise in dem englischen Pulp-Magazin The Thriller in den 20er- und 30er Jahren Geschichten um gesellschaftliche Außenseiter veröffentlichten. Natürlich waren diese Autoren keine Noir-Autoren im heutigen Sinne. Aber ihre atmosphärische Darstellung der Vorkriegszeit hatte etwas Beklemmendes und Düsteres. Robin Cook alias Derek Raymond sieht die Urväter des Noir-Romans durchaus in Autoren wie Shakespeare, der wie kein anderer die dunklen Gefilde der Seele ausleuchtete, William Godwin, dessen CALEB WILLIAMS wohl die erste hard-boiled novel ist und die Pulp- oder Black-Mask-Revolution vorwegnahm, Henry Fielding mit seiner Gangsterbiographie JONATHAN WILDE und natürlich Charles Dickens, der den Horror der urbanen Industriegesellschaft wie kein anderer einfing. Interessierte sei Derek Raymonds autobiographisches Buch, das gleichzeitig eine brillante Betrachtung der Noir-Literatur ist, empfohlen: DIE VERDECKTEN DATEIEN ist als erster Band der DUMONT NOIR-Reihe erschienen.
Das Geburtsjahr des modernen britischen Noir-Romans war 1939. In diesem Jahr debütierte Rene Raymond alias James Hadley Chase (1906-85) mit seinem ultrabrutalen, in einem mythischen Amerika angesiedelten Roman NO ORCHIDS FOR MISS BLANDISH (KEINE ORCHIDEEN FÜR MISS BLANDISH; zuletzt im Ullstein Verlag 1989). Obwohl er später harte Geschichten aus der Londoner Unter- und Halbwelt erzählte, kehrte er immer wieder in sein fiktionales Amerika zurück. Wie andere große Autoren schuf sich Chase einen eigenen Kosmos um die fiktive Stadt Paradise City. Chase, der die USA nur von einem einzigen Kurztrip kannte, ließ seine besten Romane in Chase County spielen, in dem er den Sozialdarwinismus der kapitalistischen Gesellschaft ungeschminkt vorführen konnte. Chase erzählte schmutzige, schnelle Geschichten über wenig sympathische Menschen, die für Sex, Macht und Geld alle gesellschaftlichen Normen brechen. Er zeichnete ein düsteres Bild der westlichen Zivilisation, in der jeder der Wolf des Mitmenschen ist, wenn er nicht untergehen will. Initialzündung für seinen Kosmos war James M.Cains THE POSTMAN ALWAYS RINGS TWICE (WENN DER POSTMANN ZWEIMAL KLINGELT; Heyne 1987). Später schrieb Chase manch besseren Cain-Romane als Cain selbst. Autoren wie Jackson Budd, Gerald Kersh, David Craig, James Barlow, Jack Monmouth und andere schrieben finstere London-Novels über die Unterwelten der Metropole bis in die 60er Jahre hinein.
1941 erschien ein weiterer Meilenstein: A CONVICT HAS ESCAPED von Jackson Budd, einem Pseudonym von William John Budd (1898- ?). Der Roman zeigt ein beeindruckendes Bild der Londoner Eastend-Unterwelt während des Krieges. Dem Helden werden Schiebereien und Schwarzmarktgeschäfte zum Verhängnis. Das Buch wurde 1947 von Alberto Cavalcanti mit Trevor Howard unter dem Titel THEY MADE ME A FUGITIVE verfilmt. Ein harter und düsterer Film ohne Happy End, der die Handlung in die Nachkriegszeit verlegte. Budd hatte bereits in den frühen 30er Jahren Kriminalromane zu schreiben begonnen, aber keines seiner Bücher übertraf diesen Noir-Klassiker.
Anfang der 60er Jahre nahm die Öffentlichkeit stärker davon Notiz, dass es Gangster oder zumindest eine Halbwelt in London gab. Immer öfter tauchten Geschichten über die Krays-Zwillinge in den Zeitungen auf, die vom Eastend aufgebrochen waren, um auch im Nachtklubgeschäft des Westends Fuß zu fassen. Der 1962 veröffentlichte Roman DEATH OF A BOGEY (TOD EINES GREIFERS; Heyne 1963) von Douglas Warner ist wohl der erste Kriminalroman, der den Krays-Mythos thematisiert. Die Informationen über die Krays-Gang, hier Lane-Bande genannt, die indirekt in den Roman einfließen, sind zwar aus heutigem Kenntnisstand manchmal naiv, scheinen aber nicht nur aus der Zeitungslektüre zu stammen. Gut beschrieben ist vor allem die Mauer des Schweigens im Eastend, die die Krays so lange schützte und deren Zerstörung erst ihre Festnahme ermöglichte. Douglas Warner war ein Pseudonym für Desmond Currie und Elizabeth Warner, die bis 1968 sechs harte Krimis über die Schattenseiten Londons veröffentlichten.
Eine besondere Position kommt dem 1921 in Leeds geborenen Ex-Polizisten John William Wainwright zu. Gemeinhin gilt er seit seinem ersten Buch, das 1965 erschien, als ein herausragender Autor des britischen Polizeiromans. Im Gegensatz zu den police procedural-Autoren und seinem Lieblingsautor Ed McBain behandelt Wainwright in seinen Polizeiromanen immer nur einen einzigen Fall. Bemerkenswert ist auch die frühe Betonung des Organisierten Verbrechens. Seine Helden stehen in ihren Extremsituationen den schwarzen Thrillern näher als den durchschnittlichen Polizeiheroen. Beispielsweise scheut sich einer seiner Serienhelden, der ein Anhänger der Todesstrafe ist, nicht, einen jugendlichen Mörder sofort hinzurichten. Die Methoden der Polizei und die der Gangster sind bei Wainwright fast identisch. Er treibt die erstmals bei John Bingham auftauchende Negativdarstellung der britischen Polizei noch weiter. Das scheint angesichts der beruflichen Vergangenheit des Autors noch beängstigender. Seine bisher überzeugendste Leistung im Schwarzen Roman ist seine Tetralogie um den Ex-Polizisten Davis, der die Fronten wechselt. Stilistisch überzeugend zeigt Wainwright Intimes aus der Unterwelt und Charaktere, die der Leser so schnell nicht vergißt.
Mitte der 50er Jahre erschien James Henry Stanley Barlow (1921-73) auf der kriminalliterarischen Bühne und wurde mit einer Handvoll bösartiger, schwarzer Romane zum Geheimtip. Die Kritik haßte (oder ignorierte) Barlow mit ebensolcher Vehemenz wie schon zuvor Chase. Sein großer Wurf war der 1968 erschienene Roman THE BURDEN OF PROOF, der gleichzeitig sein letztes Buch war. In diesem Roman befaßte sich Barlow auf ganz eigene Art mit den Krays-Mythos, indem er Ronnie Kray in der Figur des psychopathischen Gangsterboßes Vic Dakin ein Denkmal setzte (in der Verfilmung wurde er von einem umwerfenden Richard Burton gespielt). Nicht von ungefähr erschien der Roman in dem Jahr, als sich die Schlinge des Gesetzes um die Terrible Twins zuzog. Auch Barlow zeigt ein realistisches Bild der Londoner Unterwelt. Dem Sadisten Dakin gelingt es dank der herrschenden Korruption, genau wie den Krays, lange Zeit vom Gesetz unangetastet seine Terrorherrschaft über das Eastend auszuüben.
Der 1929 geborene Allan James Tucker schrieb unter dem Pseudonym David Craig einige Kriminalromane mit großer thematischer Spannbreite. In Erinnerung geblieben sind den Thriller-Fans vor allem seine Spionageromane. Aber er unternahm 1974 auch einen gelungenen Ausflug in den Noir-Roman mit WHOSE LITTLE GIRL ARE YOU? (JILL UND DIE BOYS; Goldmann, 1974) und schuf einen englischen Klassiker des Genres. Die Geschichte um die entführte Tochter und die Ex-Frau eines geschiedenen Ex-Kriminalbeamten und Alkoholikers, der sich mit der Londoner Unterwelt und dem neuen Gatten seiner Frau anlegt, wurde 1977 erfolgreich von Michael Apted mit Stacy Keach und David Hemmings als THE SQUEEZE (DER AUS DER HÖLLE KAM)verfilmt. Die Adaption gehört zusammen mit GET CARTER und VILLAIN (DIE ALLES ZUR SAU MACHEN), der Verfilmung von THE BURDEN OF PROOF, zu den drei großen britischen Noir-Filmen des Jahrzehnts und zu den Klassikern des Noir-Kinos überhaupt. Natürlich hatte auch Craig die Prozesse gegen die Krays-Zwillinge und die südlondoner Richardson-Gang verfolgt. Spätestens nach dem großen Gerichtsverfahren gegen die Krays-Zwillinge und ihre „Firma“, die als Gangsterimperium das Eastend Londons und mehrere Klubs im Westend umspannte, wußte man, daß diese Autoren keine Spinner waren, sondern das Großbritannien über eine organisierte und funktionstüchtige Unterwelt verfügte. Was Al Capone für Autoren wie W.R.Burnett, Armitage Trail und den amerikanischen Gangsterroman war, sind die Krays für den britischen Noir-Roman: Seit den Romanen von Douglas Warner aus den frühen 60er Jahren beeinflußt ihr Mythos bis heute die Literatur.
Die Krays waren bereits ein Jahr hinter Gittern, als ein Mann im schwarzen Roman debütierte, der heute zu Recht als einer der Giganten gefeiert wird: Ted Lewis (1940-80). Der geniale Trinkkumpan von Derek Raymond griff auf eigene Erfahrungen zurück, als er 1970 in dem all-time-classic JACK’S RETURN HOME (JACK CARTERS HEIMKEHR; Bastei 1987) seinen Unterweltstroubleshooter Jack Carter in eine völlig verrottete nordenglische Industriestadt, der Lewis‘ Heimatort Newcastle als Vorbild diente, schickte, um für richtigen Ärger zu sorgen. Derek Raymond billigte dem Meisterwerk eine Schlüsselstellung zu und weist darauf hin, daß in „dem Buch kein falsches Wort steht“. Darüberhinaus meinte Raymond, daß jede Episode des Romans authentisch ist und nichts von Lewis erfunden wurde. Mike Hodges verfilmte den Roman mit Michael Caine unter dem Titel GET CARTER; ein Kultfilm, der in den letzten Jahren in England wiederentdeckt und geradezu hysterisch gefeiert wird. Russell James‘ dritter Roman PAYBACK – DIE RÜCKKEHR DES FLOYD CARTER ist eine direkte Reminiszenz an diesen Klassiker. Aber James wäre natürlich nicht James, wenn er nicht seine eigene Stimme im Roman unverwechselbar erklingen ließe. „Meine Bücher spielen unter den armen Schluckern im Südosten Londons. Ich schreibe über Punks und Außenseiter, über harte Burschen und miese Geschäftemacher. Diejenigen, die das Verbrechen bekämpfen – Polizisten und Detektive – kommen so gut wie nicht in meinen Büchern vor – auch wenn sie peripher natürlich existent sind.“ Eine detaillierte Bestandsaufnahme des britischen Noir-Romans und seiner verzweigten Traditionen (etwa zur London Novel oder zum britischen Privatdetektivroman) kann hier nicht geleistet werden, wird aber Bestandteil des ersten DUMONT NOIR-READERS sein, der in dieser Reihe folgen wird. Aber die genannten Autoren und Werke machen deutlich, daß Russell James der Erbe eines faszinierenden Subgenres der Noir-Literatur ist.
III.
James ist unter den neuen britischen Autoren der schärfste Beobachter der gesellschaftlichen Verhältnisse. Er beschreibt genau den sozialen Niedergang Englands und die Hörigkeit der politischen Klasse gegenüber dem Großkapital. UNDERGROUND, entstanden noch in der Ära John Major, führt den Alptraum vor, den die Schwachen und sozial an den Rand gestellten durchleben. Der Horrortrip durch die weiten Maschen des sozialen Netzes scheint dem Ich-Erzähler mehr zuzusetzen als die lebensgefährlichen Auseinandersetzungen mit seinen professionellen Gegnern. „Ich gehe nicht soweit zu sagen, das Kriminalität verschwindet, wenn man das Big Business säubert. Aber durch Wirtschaftskriminalität werden mehr Werte zerstört als durch alle anderen Verbrechen zusammen“, sagt der Autor, der den Gangstermythos wiederbelebt hat und weiter: „Gangster sind soziale Anarchisten. Sie teilen nicht unser kleinbürgerliches Wertsystem. Sie haben nicht denselben Gesellschaftsvertrag unterschrieben, der für uns brave Bürger bindend erscheint. Sie glauben an andere Regeln. Und es gibt diese Regeln. Die wichtigste lautet: Betrüge nie einen anderen professionellen Gangster. In der vermeintlich nicht-kriminellen Welt unserer Gesellschaft gibt es jeden Tag Beweise für gnadenlose Brutalität und Betrug: Familien verlieren ihre Wohnungen, kleine Geschäfte müssen schließen, weil sie von großen Konzernen fertig gemacht werden, den Menschen werden ihre Jobs gestohlen usw. Gleichzeitig werden riesige Summen verteilt, freiwillig oder als Bestechungsgelder, nur um die sogenannte legale Macht zu festigen oder zu erobern.“ Russell James glorifiziert dasselbe Wertesystem einer mythischen Unterwelt, das auch schon der genialste Noir-Filmer, Jean-Pierre Melville, in seinen Kultstreifen von BOB LE FLAMBEUR (DREI UHR NACHTS) bis UN FLIC (DER CHEF) ausgebreitet hat. Zweifellos wären Russell James‘ Romane ganz weit oben auf Melvilles Adaptionsliste, wenn er noch leben würde. Bevor James mit seinem dritten Roman PAYBACK wieder nach Deptford zurückkehrte, schrieb er DAYLIGHT. In diesem Buch zeigte er scharfsinnig die unterschiedlichen Unterweltskonzepte von russischen und westlichen Kriminellen. „Die Art Bücher, die ich schreibe, sind das Äquivalent zu den Warner Brothers-Filmen der 30er Jahre. Schwarzweißfilme, die das ganze Gegenteil der Hollywood-Musicals waren. Noir-Themen sind so erfrischend wie ein gutgesungener Blues.“
https://www.youtube.com/user/booksmatter
https://russelljamesbooks.wordpress.com/
Der Text ist mein Nachwort des Dumont-Noir-Romans UNDERGROUND.
https://www.amazon.de/Underground-DuMont-Noir-Russell-James/dp/3770148517?ie=UTF8&*Version*=1&*entries*=0