Filed under: Noir, Pulp Master/Frank Nowatzki | Schlagwörter: Megan Abbott, Noir, Pulp Master
Dara hat ihr Leben im Schatten ihrer glamourösen Mutter verbracht. Zusammen mit ihrer Schwester Marie und ihrem Ehemann Charlie – dem ehemaligen Starschüler ihrer Mutter – leitet Dara jetzt die Ballettschule, die ihre Mutter einst gründete. So kultiviert ihre geschlossene Welt auch sein mag, ist sie doch auch geprägt von rücksichtslosem Ehrgeiz und einem intensiven Wettbewerb, den die Schwestern zwischen ihren Elevinnen und Eleven befördern. Als nach einem Brand ein Bauunternehmer in ihr Leben tritt, um die Sanierung vorzunehmen, überwindet er die sorgsam bewachten Grenzen dieser Welt und setzt eine Kettenreaktion aus Verlangen, Verführung und Verrat in Gang.
Mit allen Mitteln des Schauerromans beschwört Megan Abbott die Atmosphäre eines Unheils in Rosé — Neid und Eifersucht, sexuelles Verlangen und Erniedrigung — und entwickelt eine Geschichte verhängnisvoller Familienbande und des psychosozialen Netzes aus Macht und Weiblichkeit dahinter.
Pulp Master 58
Megan Abbott
Aus der Balance
Übersetzt von Karen Gerwig und Angelika Müller
Mit einem Nachwort von Thekla Dannenberg
415 Seiten
Pulp Master 2023, EUR 16,00
ISBN 978-3-946582-16-8
Seit fast zwanzig Jahren gilt nun Megan Abbott als eines, von ernstzunehmenden Theoretikern sogar als DAS, größte Talent der zeitgenössischen Noir-Literatur. In Deutschland blieb sie bisher unbeachtet. Dank Frank Nowatzki und PULP MASTER ändert sich das endlich. Er veröffentlichte jetzt ihren jüngsten Roman, den ich trotz des Sujets lese: Nichts interessiert mich weniger als Ballett (ausgenommen vielleicht noch Karneval). Aber das spielt keine Rolle, denn das Buch ist ja von einer der brillantesten Stilistin der amerikanischen Gegenwartsliteratur.
Und hoffentlich legt Frank bald nach.
Filed under: Elsinor Verlag, KENNETH FEARING, Noir, NOIR-KLASSIKER, Politik & Geschichte | Schlagwörter: Boris Vian, Die große Uhr, Elsinor Verlag, Film Noir, KENNETH FEARING, Noir
DIE GROSSE UHR war Kenneth Fearings vierter Roman und mit Abstand sein erfolgreichster – künstlerisch wie kommerziell. Er schuf damit einen Klassiker, der seit der Erstveröffentlichung von 1946 fast durchgehend lieferbar war und ist. Und das nicht nur im englischsprachigen Raum; auch im romanischen.
THE BIG CLOCK hat eine mörderische Prämisse:
Ein Unschuldiger muss sich selbst als Mörder jagen.
Ein Klassiker des Noir-Thrillers
Deutsch von Jakob Vandenberg
Mit einem Nachwort herausgegeben von Martin Compart
Deutsche Erstausgabe
Elsinor Verlag, Coesfeld 2022 (200 Seiten, Klappenbroschur, 14 x 22 cm, ISBN 978-3-942788-71-7; 20,00 Euro [D])
Der Protagonist, der gegen sich selbst ermitteln soll, ist einer der ganz großen Plots der Kriminalliteratur. Vergleichbar nur mit den besten von Agatha Christie (MURDER OF ROGER ACKROYD, MURDER AT THE ORIENT EXPRESS), Nicholas Blake (THE BEAST MUST DIE) oder Anthony Berkeley Cox (BEFORE THE FACTS, TRIAL AND ERROR). Im Unterschied zu den genialen Plots der genannten britischen Großmeister des „Golden Age“ ist Fearings Werk ein Noir-Roman, in dem der Plot in düsterer Zivilisationskritik eingebettet ist.
Und da diese Literatur eine Welt ohne moralisches Zentrum portraitiert, stellt es eine der klassische Noir-Frage: Wer wird mit was davonkommen?
Der Schriftsteller Michael Gilbert nahm THE BIG CLOCK in seine Liste der zehn besten Kriminalromane aller Zeiten auf. Der Roman erscheint fast auf jeder der Listen mit den besten Kriminalromanen/Thriller, die je geschrieben wurden. Die meisten Theoretiker des Genres priesen das Werk, und sogar Großmeister Raymond Chandler, bekannt und berüchtigt für seine oft bösartige Kritik, nannte es eine tour-de-force.
Ins Französische wurde das Buch bereits 1947 von Boris Vian übersetzt.
Nie wieder sollte Fearing ein ähnlicher wirtschaftlicher Erfolg gelingen. Zwar gingen im Laufe der 1950er auch weiterhin Einnahmen aus Lizenzgeschäften bei ihm ein, aber die Beträge etwa aus Auslandsgeschäften waren vergleichsweise gering.
Der Roman wurde weltweit zum Klassiker und zweimal verfilmt. Im Oktober 1973 gab es eine neue Adaption für den Hörfunk: Rod Serling (unvergessenes Mastermind der TWILIGHT ZONE) stellte sie unter dem Titel DESPERATE WITNESS in der Reihe THE ZERO HOUR vor 1). 1976 legten die renommierten Kritiker Jacques Barzun and Wendell Hertig Taylor den Roman mit einem ausführlichen Nachwort neu auf in ihrer Hardcover- Reihe „Fifty Classics of Crime Fiction 1900–1950“ bei Garland. Robert Polto nahm den Roman 1997 in seinen klassischen Sammelband CRIME NOVELS: AMERICAN NOIR OF THE 1930s & 40s auf. 2012 dann auch in die zweibändige “Liberary of America“-Edition der Noir-Klassiker.
Fearing gelang diese seltene und beneidenswerte Leistung: ein Page-Turner, der gekonnt geplottet und so eng wie eine Uhrfeder gewickelt ist, und dessen erzählerische Zahnräder auch als existenzielle Metapher dienen.
Der einzige Noir-Autor dieser Zeit, den man mit Fearing vergleiche könnte – jedenfalls als Autor von THE BIG CLOCK – ist m.E. Cornell Woolrich (1903-68). Seine paranoiden Plots gingen häufig in eine ähnliche Richtung (scheinbar aussichtslose Situationen der isolierten Protagonisten), aber seine zahlreichen Kurzgeschichten und Romane haben nicht die subtextliche Tiefe wie Fearings Buch.
Der Roman erschien zu einem Zeitpunkt, als die USA in einen großen paranoiden Abgrund glitten: Der zweite Weltkrieg war beendet, der Kalte Krieg hatte begonnen und der McCarthyismus startete seinen zerstörerischen Siegeszug. Diese Atmosphäre der Verunsicherung fängt THE BIG CLOCK ein. Das Buch spiegelt neben der existenzialistischen Dimension den bewusster werdenden Kontrollverlust des Individuums durch wirtschaftliche Systeme – symbolisiert durch „die große Uhr“. Den Amerikanern, stellvertretend für alle kapitalistischen Volkswirtschaften, wurde zunehmend deutlich, dass die Verfügungsgewalt über ihr Leben nicht in ihrer vermeintlichen Selbstbestimmung angesiedelt ist.
Paranoia ist eine der stärksten Triebfedern der Noir-Kultur.
BIG CLOCK stützt besonders intensiv die Erkenntnisse von Gilles Deleuze und Felix Guattari: Ursachen für Paranoia sind nicht psychologische oder gar psychopathologische Fehlentwicklungen, sondern eine psychopathologische Kultur auf die sich das Individuum bezieht. 2)
In seinem Buch AMERICAN NIGHT: THE LITERARY LEFT IN THE ERA OF THE COLD WAR (dessen Cover ein Portrait von Fearing ziert), schreibt der Literaturwissenschaftler Alan M. Wald, ein Historiker der amerikanischen Linken, über den Roman: er fasse die „beängstigende und fragmentierte Hohlheit“ zusammen, die Fearing in der Nachkriegsgesellschaft der USA sah.
„Das bedrohliche Ambiente der Verwerfung, das THE BIG COCK durchdringt, wird strukturell und symbolisch als Industriekapitalismus dargestellt, eine sozioökonomische Ordnung, in der sich die Kommunikationswege, insbesondere Printprodukte und Rundfunk, zu einer Wissenschaft der geplanten Manipulation entwickeln, die darauf abzielt, die Rentabilität sicherzustellen. Gut bezahlte Betrüger werden zusammen mit den Naiven und Getäuschten als Rädchen im Apparat der modernen Institutionen des Privatunternehmens gesperrt… Das Geniale an THE BIG CLOCK ist die Vorwegnahme der vielfältigen mythologischen Dimensionen einer Konsumrepublik, die die anbrechende Ära prägen würde.“ 3)
Er nannte ihn weiterhin „einen psychosexuellen Roman Noir, der die unheimliche Wirkung der Marktsegmentierung in der Verlagsbranche betont“.
Die im Roman geäußerte Medienkritik erscheint noch immer aktuell. Fearing orientierte sich an gewissen Zuständen der Time Incorporated, für die er zeitweilig arbeitete.
Fearing war ein modernistischer Romancier und proletarischer Lyriker. Im Modernismus stand er besonders dem Symbolismus nahe und Motive wie apokalyptische Endzeitstimmung, individuelle Wahrnehmungen, das Unterbewusste, Dekadenz, Verfall und Tod und zivilisatorischer Pessimismus finden sich auch mehr oder weniger ausgeprägt in THE BIG CLOCK.
Die innovative Struktur des Romans wird aus der Sicht von sieben verschiedenen Charakteren dargestellt. Die ersten fünf Kapitel werden von George Stroud erzählt, der für einen New Yorker Zeitschriftenverlag arbeitet. Er scheint den Umständen kaum gewachsen, bewegt sich aber intelligent durch ein Labyrinth von Möglichkeiten.
Die Erzähler sind Stroud, Janoth, Hagen, Strouds Frau, zwei Crimeways-Reporter und die exzentrische Künstlerin Louise Patterson. Fearing leistet hervorragende Arbeit, um die Stimme jedes einzelnen Erzählers einzufangen.
Trotz der unterschiedlichen Erzählperspektiven entwickelt Fearing den Plot chronologisch. Jeder Erzählerwechsel treibt die Handlung weiter voran.
Filed under: Alain Delon, Film, Noir | Schlagwörter: Alain Delon, Duccio Tessari, Film Noir, Gangster, Giallo, Tony Arzenta
Der Sizilianer Tony Arzenta (Alain Delon) lebt in Mailand und ist Auftragsmörder der Mafia.
Noch am Geburtstag seines einzigen Sohnes erledigt Tony einen letzten Job, denn er will ein anderes Leben und bittet die Bosse, seine Entscheidung zu akzeptieren. Doch so einfach ist das dann doch nicht, denn er weiß zu viel, weswegen seine Chefs – der Pariser Carrè (Roger Hanin), der gebürtige Deutsche Grünwald (Anton Diffring), der Mailänder Rocco Cutitta (Lino Troisi) und der Italo-Amerikaner Nick Gusto (Richard Conte) – versuchen, ihn mit Hilfe einer Autobombe loszuwerden.
Bei dem Anschlag sterben Arzentas Kind und seine Frau direkt vor seinen Augen in seinem Auto. Arzenta sinnt auf Rache. Mit Hilfe von Freunden gelingt es ihm unterzutauchen. Er beginnt einen Rachefeldzug und zieht eine Vernichtungsschneise durch Europa.
TÖDLICHER HASS oder TONY ARZENTA (auch BIG GUNS oder NO WAY OUT) ist ein absolut sehenswerter Film, aber keinesfalls das Meisterwerk, als das man ihn mit der längst überfälligen ungekürztem Neuveröffentlichung verkaufen möchte.
Denn im letzten Drittel wird der anfängliche Stoizismus (auch im ansonsten beeindruckenden Spiel von Delon) nicht mehr konsequent durchgehalten. Aber es ist natürlich schön, dass dieser lange in Deutschland unzugängliche Film endlich verfügbar ist.
Der Film von Regisseur Duccio Tessari aus dem Jahr 1973 mit Alain Delon in der Hauptrolle wurde on location in Mailand, Paris und Kopenhagen und in den Dear Studios, Rom, gedreht.
TÖDLICHER HASS ist ein echtes Starvehikel für Delon.
Der Film wurde wohl auch durch zwei Faktoren inspiriert: Der Co-Produzent Delon hatte direkt zuvor mit seinen selbst produzierten Filmen MADLY, DOUCEMENT LES BASSES und OKTOBER IN RIMINI wirtschaftliche Misserfolge eingefahren. Sicherlich auch wegen der ungewöhnlichen Rollen, die er darin spielte und die den Großteil seines „Stammpublikums“ nicht ansprachen. Da kam dem Inhaber von Adel Produktion die vom PATEN ausgelöste Mafia-Welle gerade recht, um seinen wertvollsten Schauspieler imageentsprechend als Gangster in Szene zu setzen.
Delon dominiert den Film mit seiner stahläugigen Präsenz, unter deren stoischer Oberfläche eine lebenslange Sehnsucht und Schmerz existieren. Tatsächlich wurde Arzenta durch jahrelanges kaltblütiges Töten abgehärtet, aber Delon macht deutlich, dass das eisige Herz des Charakters dank der Liebe seiner Familie zu tauen begonnen hatte.
„Noch wichtiger ist jedoch, dass der Film immer wieder die Idee verstärkt, dass Arzentas‘ Liebe zu seiner Frau und seinem Sohn keine Schwäche darstellt, sondern eine neu gefundene Stärke, die ihm die Fähigkeit verleiht, sich in andere einzufühlen und den Wert des menschlichen Lebens zu verstehen. Als Arzenta Zeuge der Explosion wird, die seiner Frau und seinem Kind das Leben kostet, bleibt sein Gesichtsausdruck ruhig und distanziert, aber seine Augen zeigen all das Entsetzen und die Angst, die er in diesem Moment empfindet. Delon vermittelt all dies subtil und schafft durch seine Performance einen Charakter, der an Jef Costello (und eine Vielzahl anderer filmischer Mafia-Killer) erinnert, während er immer noch völlig unverwechselbar und ikonisch erscheint.“ (Chris’s Cult Catalogue: No Way Out)
Zum Zeitpunkt seiner Veröffentlichung war TÖDLICHER HASS dank Delons Star-Appeals ein großer Erfolg an den Kinokassen, wobei die Kritiker nicht sonderlich angetan waren, den Film eher oberflächlich beurteilten und hauptsächlich die angeblich abgenutzten Klischees und damals ungewohnte Brutalität zur Kenntnis nahmen.
In Deutschland schlug umgehend die Staatsanwaltschaft zu, und die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften besorgte dem Film eine jahrzehntelange Indizierung.
„Der Film ist nichts als eine schier endlose, stumpfsinnige Aneinanderreihung unappetitlichster Gewalttaten zwischen schick arrangierten italienischen Industrie Designs.“
( Die Zeit vom 1. Februar 1974)
„Ein zynischer Actionfilm mit Glorifizierung brutaler Gewalt, distanzloser Verherrlichung eines Massenmörders und billigster ‘Zehn-kleine-Negerlein-Dramaturgie’. Delon auf dem Tiefpunkt seiner Karriere. Ein Actionfilm unter jeder Kritik.“ vermerkte noch im Oktober 1987 das Lexikon des internationalen Films (herausgegeben vom Katholischen Institut für Medieninformation e. V).
Das bürgerliche Feuilleton verband in der Genrekritik damals (?) meisterlich Arroganz mit Ignoranz.
Inzwischen beurteilt eine neue Generation Kritiker den Film anders:
„Dieser ausgezeichnete Film verbindet auf wundersame Weise das kühl berechnende französische mit dem emotionsgeladenen italienischen Gangsterkino. (…) Der Film ist wirklich gut gemacht: Eine bekannte und in wenigen Worten zu umreißende Geschichte wird mit geradliniger Brutalität und guten schauspielerischen Leistungen präsentiert. Das Aufgebot an Schauspielern ist als fast sensationell zu bezeichnen.“
(Karsten Thurau: in Der Terror führt Regie – Der italienische Gangster- und Polizeifilm“ von Michael Cholewa und Karsten Thurau, S. 194, 2. Auflage 2008)
Duccio Tessaris Gangsterfilm ist vielleicht das erfolgreichste Beispiel für die Vermischung von italienischem Giallo- Stil und französischem film noir. Ihm mangelt es an der Kälte und Melancholie des französischen Stils, und der italienische Sadismus und nervöse Aktionismus beherrscht den Film.
Zusammen gehalten wird er durch Delon, der aber nicht verhindert, dass das konzeptionell gute Ende entgleist.
„Tessari (und Delon) gelingt es, einen der beeindruckendsten Antihelden italienischer Kriminalfilme zu kreieren. Tony Arzenta stellt einen einsamen, melancholischen Charakter dar, der seinem Schicksal ohne Chance auf Erlösung bis zum bitteren Ende folgen muss und sich dabei vollends bewusst ist, dass er letztendlich an übermächtigen Kräften scheitern wird. Doch hier gibt es noch viel mehr zu entdecken. Tödlicher Hass legt nämlich eine stilistische Opulenz an den Tag, die im italienischen film noir noch nie zuvor gesehen worden ist. Die besondere Beachtung des Dekors wird durch Silvano Ippolitis wunderschöne Kinematographie unterstrichen, die eine chromatische Palette aus flammenden Rottönen und blendendem Weiß in den Innenszenen präsentiert und es bestens versteht die eisige sowie neblige Mailänder Umgebung einprägsam einzufangen. Die Actionszenen (in denen Delon bei Autoverfolgungsjagden teilweise seine eigenen Stunts macht) sind durchweg als hervorragend zu bezeichnen, während sich die Gewalt so unvorhersehbar wie plakativ präsentiert.“ (Von BLUNTWOLF , am 23. Januar 2022)
Feministinnen werden ihre helle Freude am Frauenbild haben.
In einer so gewalttätigen und düsteren Welt stellen Frauen nur entbehrliche Schachfiguren dar. Sie werden ermordet, geschlagen, gedemütigt und missbraucht, so wie Carrès (Hanin) lang leidende Geliebte Sandra, die in einer extrem gewalttätigen Szene von Cuttitas Männern zu Klängen klassischer Musik brutal zusammengeschlagen wird. „Du kannst hier bleiben, wenn Du willst“, sagt Delon zu Sandra, die Zuflucht in seiner Wohnung sucht, nachdem sie ihm geholfen hat, den sadistischen Carrè zu finden sowie zu töten, „aber lass mich Deine Anwesenheit nicht zu sehr spüren.“
Tessari hüllte Europa von Mailand bis Stockholm im wahrsten Sinne des Wortes in einen Nebelschleier (die Drehzeit fand vom 30.1. bis Ende März 1973 statt). Er nutzte die klimatischen Verhältnisse, um den Zuschauern zu suggerieren, dass ganz Europa bereits unter dem Nebel der Mafia liegt. Und ganz nebenbei zeigt er, das Deutschland 1973 nicht nur Rückzugsgebiet der Mafia war, wie von der deutschen Politik bis 1990 behauptet). ). Von den italienischen Anti-Madia-Filmen übernahm Tessari die Sichtweise, dass sie Mafia nicht in einer internationalen Gefahrenregion angesiedelt ist, sondern sich in der europäischen Normalität eingerichtet hat. Seine Mafiosi verhalten sich nicht nur böse, sie sind es.
Tessari spielt auch effektiv mit ungewöhnlichen (aber genau kalkulierten) Kameraeinstellungen. Sehr schön, und zum Teil nie gesehen, bei den Autojagden. Der „nervöse“ Inszenierungsstil vieler Szenen wird häufig konterkariert durch elegische Beratungsszenen (dümmlich gekürzt in der deutschen Kino-Fassung) der Mafia-Geschäftsleute.
Das sorgt für einen weiteren Subtext: Delon war ein funktionierendes Rädchen im Getriebe des profitorientierten Wirtschaftssystems, bis er durch emotionale Erfahrungen ein anderes Wertesystem aufrief. Dies konnte von den Profiteuren nicht hingenommen werden, da es ihre Grundlagen bedroht. Beim Versuch den Aussteiger final auszuschalten, töteten sie versehentlich sein neugewonnenes Wertesystem mit der Folge, dass er das alte System nun gegen es selbst anwendet.
Anders als bei den meisten Gialli, die entweder auf der Popularität von bekannten Schauspielern setzen oder bewährte Genremuster verfremden und „ ausbeuten“ (oder beides), gelingt Tessari ein völlig eigenständiger Film, unterfüttert von Subtexten.
Am Ende etwa stirbt Tony, weil er sich immer noch an die Regeln hält, die alle anderen mit Füßen treten.
Nihilismus, der Melville als Romantiker bestätigt.
ZUR EDITION:
Extras:
Audiokommentar mit Leonhard Elias Lemke
Original Kinotrailer
40seitiges Booklet mit einigen Bildern und Texten von Steffen Wulf (nicht bei der dvd)
Bildergalerie
Zwei Blu-rays oder dvds mit zwei unterschiedlichen Schnittfassungen (Internationale Fassung + dt. Kinofassung). Englische, italienisch, deutsch; Delon spricht die englische Synchronisation selbst. Der Ton der alten deutschen Synchronisation ist so erbärmlich, dass man lieber eine anderssprachige wählen sollte.
Filed under: Boston Teran, Klassiker des Polit-Thrillers, Noir, NOIR-KLASSIKER, Politik & Geschichte, Western | Schlagwörter: amerikanische Geschichte, Boston Teran, CRIPPLED JACK, Noir-Western, Polit-Thriller
Der 15. Roman von einem der größten lebenden US-Autoren wird am 5. September veröffentlicht!
Inzwischen bin ich verwöhnt und dankbar, denn alle ein- bis zwei Jahre kann man damit rechnen, dass er ein neues Buch vorlegt. Und jedes war bisher ein Knaller!
Mit seinen Verfilmungen hatte er bisher leider Pech: Seit Jahren sind zwei in Hollywoods Pipeline. Aber mit etwas Glück könnte Nick Cassavetes Adaption des Klassikers GOD IS A BULLET dieses Jahr noch in die Kinos kommen.
Als Europäer vergisst man manchmal, dass die härtesten Kritiker der USA Amerikaner selbst sind. Dieser Autor nutzt in seinem eindrucksvollen Werk klassische amerikanische Genre, Noir und Western, um daraus (auch) Polit-Thriller zu machen, die den amerikanischen way of life als crooked mile enttarnen.
Mehr Anti-Trumpismus als CRIPPLED JACK ist schwer vorstellbar.
Dass ich seit langem ein großer Fan von ihm bin, kann man in zahlreichen Beiträgen in diesem Blog verfolgen. Das er bisher keinen deutschen Verlag gefunden hat, sagt eine Menge über die Verlage (aber das wird sich nächstes Jahr ändern).
CRIPPLED JACK is a revisionist western set against a landmark era in American folklore.
Those were the years of poverty, homelessness and hatred between the classes.
In that time when bloodthirsty violence ruled the day a boy was bound and gagged and left to die in the desert. He was not yet nine and suffered what they called the palsy.
There was a note pinned to his chest – It’s up to God now.
But the boy did not die. Fate and history merged in his will to live. He was found by a horseman who was at war with the profiteers of the day, the Czars of business, the masters of corporate avarice. He was known as – The Coffin Maker.
He became the star on the boy’s horizon. The boy would grow to become an expert marksman known as Crippled Jack. He will come of age during the labor wars that were consuming the West. His friends will be enemies of the state. He will come to love a woman who has escaped the orphan trains and is a reporter covering the bloodshed sweeping the nation.
Together they will usher in a new America. An America that has every intention of turning the country upside down, so that it may stand right side up.
CRIPPLED JACK transforms the classic American western into a scathing and violent protest novel. A war for social justice, for equality, and for hope – a war we’re still fighting today.
Publishers Weekly raved in a starred review: „Teran’s storytelling has a mythic quality to it, and his recreation of a violent era in American history will resonate with many today. Fans of Charles Portis and Philipp Meyer will be enthralled.“
https://www.publishersweekly.com/9781567031010
Filed under: Bücher, Elsinor Verlag, Film, KENNETH FEARING, Krimis, Noir, NOIR-KLASSIKER, thriller | Schlagwörter: Elsinor Verlag, Film Noir, KENNETH FEARING, Noir, Thriller
Filed under: Crime Fiction, Drehbuch, Jean-Christophe Grangé, Noir, Rezensionen, thriller, TV-Serien | Schlagwörter: Die purpurnen Flüsse, Jean-Christophe Grangé, Noir, Sekte, Tag der Asche, Thriller, TV-Serien
Das Elsass während der Weinernte: In einer Kapelle wird unter den Trümmern eines Freskos die Leiche eines Mannes entdeckt. Das Gebetshaus liegt unweit des Wohnorts einer religiösen Gemeinschaft, deren Bewohner ein Leben wie vor 300 Jahren führen und sich durch den Weinbau finanzieren.
Kommissar Pierre Niémans ahnt schon bald, dass der mysteriöse Todesfall nicht das einzige finstere Geheimnis der Täufergemeinde ist. Um mehr zu erfahren, beschließt er, seine Assistentin Ivana undercover als Erntehelferin einzuschleusen. Als ein weiterer Mord geschieht, gerät auch Ivana in große Gefahr…
Lübbe Belletristik
Hardcover, 22,00 €, 366 Seiten
ISBN: 978-3-7857-2787-4
Ersterscheinung: 29.04.2022
eBook (epub) 16,99 €
Hörbuch (CD) gekürzt 19,99 €
Hörbuch (Download) gekürzt 13, 99€
In Deutschland sind die Zeiten vorbei, in denen der neue Grangé regelmäßig die Bestsellerlisten anführte.
Aber er hat auch hier noch ein großes und treues Stammpublikum, jenseits der intellektuellen Verknappung der Kriminalliteratur im deutschsprachigen Raum, das nach wie vor vom Lübbe-Verlag bestens bedient wird. So ist auch dieser Band wieder exzellent ediert und produziert. Ersteres durch die Arbeit der langjährigen Grangé-Lektorin Iris Gehrmann und der Übersetzerin Ulrike Werner (die angesichts des vom Autor viel verwendeten Elsässer Dialekts hart gefordert wurde).
Für Grangés Werk ist dies ein kurzer Roman.
Das hat damit zu tun, dass er – wie schon sein Vorgänger, DIE LETZTE JAGD, – auf einem Drehbuch der erfolgreichen TV-Serie DIE PURPURNEN FLÜSSE basiert.
Für die Fernsehserie reanimierte Grangé extra seinen populärsten Helden, Kommissar Pierre Niémans (der dank der Darstellung durch Jean Reno in zwei erfolgreichen Kino-Filmen zum Serienhelden mutierte).
Mit Niémans nutzt Grangé einmal mehr das Klischee – oder charmanter ausgedrückt: den kriminalliterarischen Topos – des bärbeißigen Macho-Bullen. In den Romanen ist er noch mürrischer als in der TV-Serie („ Seine guten Vorsätze hielten nicht lange. Weder Sanftheit noch gute Laune passten zu ihm.“ „Die heutige Zeit, die nur noch aus Vorsorge für alle Eventualitäten zu bestehen schien, fand er zum Kotzen.“). Für ihn gelten natürlich weder Regeln noch Vorschriften, genauso wenig wie Hierarchien. Er neigt dazu, wie eine Abrissbirne ins Geschehen zu schlagen.
Ihm zur Seite steht die junge Kollegin Ivana (wohl auch ein Zugeständnis an die TV-Serie, die dort Camille heiß). Ivana, verletzlich, umtriebig, rücksichtslos und scharfsinnig, ist eine „moderne“ Frau mit turbulenter Vergangenheit. Als Typus inzwischen ebenso ein populärkulturelles Klischee – Verzeihung: Topoi – wie der griesgrämige Macho-Bulle.
Schlechte Autoren langweilen mit solchen Konstellationen, Grangé kommt damit nicht nur durch, er amüsiert und unterhält.
Wieder mal hat er sich die/eine französische Provinz vorgenommen und ihre Widerwärtigkeiten enttarnt. Immer wieder zeigt Grangé ein Frankreich-Bild, das sogenannte Patrioten zum Kotzen bringt. Außerdem variiert er zwei seiner „Lieblingsthemen“: Kinder als Opfer und Sekten.
Auch hier gelingen dem „Archäologen des Bösen“ eindringliche Bilder des Schreckens, die über visualisierte Umsetzungen hinaus reichen und Motive der Gothic Novel aktualisieren. Viele Romane des Autors beeindrucken als moderne Gothic Novels, verdanken einiges dem Marquis de Sade und Dekadenten wie Joris-Karl Huysmans.
Sein filmischer Stil, der die Szenen wie im Kino am Zuschauer vorbei rollen lässt, trügt häufig darüber hinweg, dass Grangé zu den besten Stilisten der aktuellen Noir-Literatur gehört.
Auch im TAG DER ASCHE finden sich wunderbare Apercus wie „Er nahm den Fuß vom Gaspedal wie ein Mörder, der plötzlich den Griff um den Hals seines Opfers lockert.“ Oder „Das Gehirn eines Polizisten ist wie eine Bibliothek. Temperatur und Luftfeuchtigkeit müssen ständig überwacht werden.“.
Die Kapitel sind kurz. Und wie immer wird man sofort mit Beginn des Buches in die Handlung gesogen.
Atmosphäre, Stil, Charaktere, Handlung und Rhythmus sind ganz so, wie man es von einem Grangé-Roman erwarten darf. Aber es dauert ziemlich lang, bis die Geschichte Fahrt aufnimmt und Action generiert. Das Ende erscheint mir ein bisschen schlampig gebaut. Für einen durchschnittlichen Thriller-Autor wäre TAG DER ASCHE ein Quantensprung.
Aber für Grangé gelten andere Maßstäbe.
Dies ist also mit Sicherheit nicht sein bester Roman (allerdings auch mehr als die ambitionslose novelization eines Drehbuchs). Aber das spielt keine wirkliche Rolle, denn es ist ein neuer Grangé!
Und der hat sich seit über zwei Jahrzehnten als eine der faszinierendsten und eigenwilligsten Stimmen in der Noir- und Thriller-Literatur etabliert.
2020 erzählte Grangé bei Europe 1 über seine nächsten Projekte folgendes:
„Momentan adaptiere ich meinen Roman LOTANTO (PURPURNE RACHE) für eine TV-Mini-Serie. Außerdem arbeite ich an einem Buch über das Nachtleben und den Untergrund in Tokio. Und ich schreibe an meinem ersten rein historischen Roman, der sehr umfangreich werden wird. Mindestens 800 Seiten. 400 Seiten habe ich bereits, aber um auf 800 zu kommen, brauche ich für die erste Fassung 1200 Manuskriptseiten. Der Roman spielt 1935 in Berlin. Außerdem arbeite ich an einer neuen Fernsehserie, ein Originalstoff für viele Folgen. Das ist eine Menge Arbeit. Niemand kann behaupten, dass ich untätig bin und dem Müßiggang fröhne“
Jedes dieser Projekte wird von mir sehnsüchtig erwartet).
Filed under: Noir, Pulp Master/Frank Nowatzki, Rezensionen | Schlagwörter: Donald Westlake, Gangster, Garry Disher, Noir, Pulp Master, Richard Stark
Wyatt stiehlt. Und das ziemlich gut, denn er istvorsichtig wie eh und je, effizient und erfinderisch.Bei der Auswahl seiner Jobs greift er diesmal aufeinen Informanten im Knast zurück, der direkt ander Quelle sitzt: Sam Kramer. Bis zu dessen Entlassung kümmert sich Wyatt im Gegenzug um Kramers Familie. Doch der Afghanistan-Veteran NickLazar erfährt von dieser Vereinbarung. Über seinenInsider erfährt Lazar zudem, dass Kramer – undsomit auch Wyatt – zu Ohren gekommen ist, dassdem schlitzohrigen Finanzberater Jack Tremayne eine satte Anklage ins Haus steht und sein Koffermit einer Million schon griffbereit ist: Tremaynewill die Flatter machen …
Garry Disher trägt der Logik und Dynamik der globalen Finanzialisierung Rechnung und konfrontiert Berufsverbrecher Wyatt mit dem Ponzi-Schema:einem finanziellen Betrugssystem, womit Investitionen reicher Anleger verschleiert werden.
PULP MASTER Bd.53, 2021
Gary Disher:
MODER
9.Bd. der Wyatt-Serie
Original: KILL SHOR, 2018
Deutsch von Ango Laina u. Angelika Müller
Taschenbuch, 300 Seiten; € 14, 80. e-Book 9,99€.
Natürlich stand der große Donald Westlake als Richard Stark im Geburtssaal von Wyatt: „Ich habe alle Parker-Romane früh in meiner Schreibkarriere gelesen und wollte herausfinden, was ich mit einem cleveren Kriminellen als Hauptfigur anstellen kann. Ich wollte die Parker-Romane natürlich nicht kopieren, sondern meine eigene Herangehensweise entwickeln. Ich glaube, dass Wyatt ein reichhaltigerer Charakter als Parker ist, außerdem ist auch mein Plot dichter und sind die Nebencharaktere stärker entwickelt“
Während Westlakes Parker-Romane immer schlechter wurden, werden Dishers Wyatt-Romane immer besser (und sind genauso wenig noch reine Hommagen wie Max Allan Collins Nolan-Bücher):
„But Disher is more interested in emotion and less in surgical detail than Stark. Wyatt, though impatient with stupidity in others, is more social and susceptible than Parker. For one thing, he lets himself become involved with a woman during the caper’s planning, which Parker avowedly would never do. And when he does become involved, the feelings are more than just sexual. There are tenderness and vulnerability in Wyatt’s feelings for this novel’s femme fatale. There are also touches of humor here, both on the author’s part and the protagonist’s, where there would be none in a Parker book.“
(http://detectivesbeyondborders.blogspot.com/2006/11/kickback-garry-dishers-thriller-and.html)
Filed under: Nazi, Noir, NOIR-KLASSIKER, Porträt | Schlagwörter: Hans Helmut Kirst, J.ROBERT JANES, Jörg Fauser, Nazis, Noir, Philip Kerr, Polit-Thriller
Einige Krimi-Fans, die ich getroffen habe, sagten mir, sie seien wegen der Vichy-Romane von J.Robert Janes dazu übergegangen, Kriminalliteratur nur noch auf Englisch zu lesen. Denn nachdem die Dumont-Noir-Reihe nicht mehr fortgesetzt wurde, war auch die Publikation dieser Serie in Deutschland beendet. Mir ist auch aufgefallen, dass Janes Dumont-Romane in den Antiquariaten relativ teuer gehandelt werden. Nun ist Janes auch im englischsprachigen Raum kein Bestseller-Autor, aber er hat sich eine Gemeinde erschrieben, in der seine Vichy-Serie Kultstatus genießt (weshalb er sie über die geplanten 10 Bände fortgesetzt hat). Um an ihn zu erinnern und ihn zu würdigen, hier noch mal mein Nachwort zu Dumont-Noir Bd.10 SALAMANDER (mit allen zeitbedingten Überholtheiten).
IM ZWIELICHT VON VICHY
I.
Historische Romane haben seit Jahrzehnten Konjunktur. Wobei besonders historische Kriminalromane sich augenblicklich großer Beliebtheit erfreuen.
Alles begann mit Melville Davidson Posts UNCLE-ABNER-Geschichten, die im wilden Virginia Anfang des 19.Jahrhunderts spielten und ab 1918 veröffentlicht wurden.
In den 40er Jahren entdeckten Autoren wie Agatha Christie, John Dickson Carr und Lillian de la Torre (ihre wunderbaren Geschichten über Dr.Johnson warten noch auf eine deutsche Veröffentlichung) die faszinierenden Möglichkeiten dieses Subgenres, als dessen Höhepunkt gerne THE DAUGHTER OF TIME von Josephine Tey genannt wird.
Einen erneuten Push bekam das Genre Anfang der 70er Jahre mit dem Sherlock-Holmes-Revival (ausgelöst durch Nicholas Mayers THE SEVEN-PER- CENT-SOLUTION, 1974). Anfang der 80er Jahre wurden Ellis Peters Bruder Cadfael-Romane, Ann Perrys Viktorianische Krimis und vor allem Umberto Ecos DER NAME DER ROSE zu Bestsellern und Welterfolgen. Seitdem vergeht keine Woche, in der nicht ein Detektivroman über das alte Rom, die Renaissance, das Mittelalter oder eine sonstige Epoche erscheint.
Der Noir-Roman entdeckte die historische Perspektive relativ spät über den Umweg des Polit-Thrillers, der historische Ereignisse oder Persönlichkeiten in den Mittelpunkt stellt (etwa Frederick Forsyths DAY OF THE JAKAL oder Ken Folletts EYE OF THE NEEDLE).
Drehbuchautor Andrew Bergman schrieb 1974 mit THE BIG KISS-OFF 1944 den ersten von zwei Romanen, die im Hollywood der 4oer Jahre spielen. Stuart M.Kaminsky begann ein Jahr später mit seiner Serie um den Hollywood-Privatdetektiv Toby Peters, der es in jedem Fall mit einem anderen Hollywood-Star aus den 40ern zu tun hat. 1975 veröffentlichte Joe Gores seine Hommage an den Urvater: HAMMETT.
Ed Mazzaro schrieb in dieser Zeit ebenfalls einige Romane, die in den 30er Jahren spielten.
Einen weiten Schritt nach vorne machte das Subgenre 1983 mit Max Allan Collins‘ erstem Nate-Heller-Roman TRUE DETECTIVE. Collins untersucht durch seinen Detektiv in jedem Roman ein wahres Verbrechen und bereitet das bekannte Faktenmaterial so kunstvoll auf, daß man ihn heute als den absoluten Großmeister des Genres bezeichnen muß. An diesem Status kratzt nicht einmal James Ellroy mit seinem durchwachsenen L.A. Quartett oder AMERICAN TABLOID.
Während das Dritte Reich und der Zweite Weltkrieg immer ein sehr beliebter Hintergrund für Spionageromane und Polit-Thriller war, sparte der historische Detektiv- oder Noir-Roman diesen düsteren Zeitabschnitt aus.
Es ist kaum zu glauben, aber ausgerechnet in diesem kriminalliterarischen Segment wurde der Klassiker von einem deutschen Autor geschrieben!
Der unterschätzte und zu Unrecht in Vergessenheit geratene Hans Hellmut Kirst veröffentlichte 1962 den Noir-Roman DIE NACHT DER GENERALE, der zum Teil im besetzten Frankreich spielt und die Spur eines Serienkillers durch den Zweiten Weltkrieg bis in die Nachkriegszeit verfolgt. Der Roman (der einiges aus dem James Hadley Chase-Roman THE WARY TRANSGRESSOR „übernommen“ hatte und dies in den credits der Verfilmung auch zugeben musste) war damals ein großer Erfolg, erschien sogar in den USA und wurde von Anatole Litvak mit Peter O’Toole und Omar Sharif nach einem Drehbuch von Joseph Kessel 1966 als britisch-französische Co-Produktion verfilmt.
Kirst schrieb noch andere bemerkenswerte Kriminalromane, darunter die München-Trilogie über Skandale und Korruption auf höchster Ebene. Bei uns schmählich missachtet – auch von der deutschen Krimi-Szene -, ist er der einzige deutsche Autor, der Eingang in das Standardwerk TWENTIETH CENTURY CRIME WRITERS gefunden hat.
1989 legte der schottische Schriftsteller Philip Kerr mit MARCH VIOLETS seinen ersten Roman vor, der ziemlich noir war: MARCH VIOLETS hatte mit Privatdetektiv Bernie Gunther einen Protagonisten, der im Berlin der Nazis Ende der 30er Jahre ermittelte.
1992 erschien dann endlich mit MAYHAM Robert J.Janes erster St-Cyr und Kohler-Roman, der sich auf einem völlig neuen Niveau mit den Schrecken im besetzten Frankreich auseinandersetzt. Angesichts der gigantischen Verbrechen der Big Player Hitler, Himmler, Goebbels und Co., deren Blutspur sich durch ganz Europa zog, musste jedes noch so perfide individuelle Verbrechen verblassen. Was sind selbst hunderte Opfer eines Brandstifters im Vergleich zu den Massenvernichtungen durch die Nazis? Es ist nicht verwunderlich, dass sich nur sehr wenige Autoren für die „normalen“ Verbrechen im Schatten der Staatsverbrechen interessieren. Denn auch während des 3.Reiches, das individuelle Verbrechen wie jedes totalitäre Regime leugnete, geschahen alltägliche Morde und anderes.
II.
Joseph Robert Janes wurde 1935 in Toronto als mittlerer von drei Söhnen geboren. Als Kind war er ein Einzelgänger, bis er fünf Jahre alt war und den belgischen Knaben Willy aus einer Immigrantenfamilie traf. „Willy war so alt wie ich und sprach kein Wort Englisch. Aber wir verstanden uns trotzdem, gingen gemeinsam ins Kino und spielten Cowboy, Kampfpilot, Pirat usw. Wir lebten unsere kindlichen Phantasien aus, und diese Zeit war wohl wesentlich mitverantwortlich, dass ich Schriftsteller geworden bin.“
Nach der Schulzeit studierte er an der Universität von Toronto Geologie und schloss 1958 als graduierter Mineningenieur ab. Er unterrichtete Geologie an der McMasters Universität in Hamilton und an der Brock Universität von St.Catharines, bevor ihn der Ruf der Ölindustrie erreichte.
Einige Jahre arbeitete er als Ölsucher für Mobil Oil of Canada und die Ontario Research Foundation, dann kehrte er zum Lehramt zurück. „Ich sehe mich auch heute noch als Geologe und Mineningenieur. Das verliert man nicht. Die ganze Art und Weise die Dinge zu betrachten, wurde durch meine Ausbildung beeinflußt. Die Fähigkeit, Fakten zu sammeln und auszuwerten, um komplexe Probleme analytisch zu lösen, ist meine wissenschaftliche Grundlage, die mir als Romancier hilft. Ich denke noch immer sehr akademisch.“
Seit 1970 ist er freier Schriftsteller und zu seinem Oevre gehören neben Geologie-Sachbüchern Romane (THE ALICE FACTOR, THE TOY SHOP) und Thriller (THE HIDING PLACE, THE WATCHER), vor allem Detektivgeschichten für Jugendliche (die Rolly-Serie).
1958 heiratete er seine Frau Grace, mit der er bis heute vier Kinder und sechs Enkel hat, für die er „aus dem Stand Geschichten erfindet und erzählt. Das sind die besten Geschichten.“
Wie alle professionellen Autoren ist auch Janes ein harter Arbeiter: „Ich arbeite jeden Tag außer sonntags. Ich beginne morgens um sieben Uhr mit einer Tasse schwarzen Kaffees und Papier und Bleistift. Von meinem Arbeitszimmer sehe ich auf unseren verwilderten altenglischen Garten und denke nach. Etwa um acht Uhr weiß ich, was ich schreiben werde. Mit einer zwanzigminütigen Mittagsunterbrechung arbeite ich bis etwa um fünf Uhr durch; Samstags nur bis vierzehn Uhr. Mein Arbeitszimmer unter dem Dach ist zwar so breit und lang wie das halbe Haus, aber mit Büchern und Papier vollgestopft. Zum Schreiben bleibt mir gerade mal ein Quadratmeter. Die erste Fassung schreibe ich immer mit der Hand. Die Tagesarbeit übertrage ich dann mit meiner IBM-Schreibmaschine. Kein PC! Ich mag diese technischen Erleichterungen nicht, weil sie das eigentliche Schreiben beeinflussen und den Text mit unnötigen Worten aufschwemmen.“
Tatsächlich lässt sich bei einigen Autoren beobachten, wie ihre Bücher plötzlich immer umfangreicher wurden – extrem war das bei Desmond Bagley der Fall – , nachdem sie auf ein PC umgestiegen waren. Janes Bücher sind dagegen nicht sehr umfangreich und stilistisch äußerst effektiv. „Ich sage allen jungen Autoren: Vergesst die Word Processor, PCs usw. Die machen alles zu einfach. Umschreiben und nochmals umschreiben ist das wichtigste bei der Schriftstellerei. Man muß sich quälen.“ Der selige Jörg Fauser, der einen bestimmten Uralttypus Schreibmaschine auch schon mal von einem Schrottplatz geholt hatte, hätte ihm sicherlich zugestimmt.
„Wenn ich den Titel eines Romans habe, beginne ich mit dem Schreiben. Der Titel muss für mich alles enthalten, er ist die Quintessenz des Romans und sollte die Substanz des Buches einfangen. Die Charaktere kommen aus der Story. Es sind Figuren, die für bestimmte Szenen nötig sind, damit ich sie so entwickeln kann, wie es mir nötig erscheint. Aber sie müssen natürlich stimmen und wahrhaftig sein, sonst funktionieren sie nicht. Aber bei mir kommt die Geschichte zuerst, die die Charaktere bedingt. Andere Autoren arbeiten erfolgreich genau umgekehrt.“
Janes Vorbilder und eventuelle Einflüsse sind Autoren, die beim besten Willen nicht der Kriminalliteratur zuzuordnen sind: „Seitdem ich selbst schreibe, lese ich kaum noch fiktionales. Denn ich möchte stilistisch nicht beeinflusst werden, was unweigerlich passieren würde. Zu meinen Lieblingsautoren gehörten John Steinbeck, Scott Fitzgerald, D.H.Lawrence (ein absolutes MUSS!), Edna O’Brien, Sean O’Faolain, John Fowles, Graham Greene und andere.“
III.
Den ersten St.-Cyr und Kohler-Roman, MAYHAM, schrieb Janes in nur drei Monaten. „In der Rohfassung meines Diamanten-Thrillers THE ALICE FACTOR gab es eine lange Passage über das okkupierte Frankreich. Der Verlag meinte, der Roman sei zu lang, und ich warf diesen Teil heraus. Danach schrieb ich einen bis heute nicht veröffentlichten Roman über einen Protagonisten, der sich an seine Zeit im besetzten Frankreich erinnert. In diesem Buch taucht ein unehrlicher Sureté-Detektiv auf. Mein Unterbewusstsein begann sich bereits mit St.-Cyr zu beschäftigen, als ich dieses Buch schrieb. Aber St.-Cyr sollte natürlich in gewisser Hinsicht ein Ehrenmann sein. Damals, durch die Situation bedingt, war so ziemlich jeder mehr oder weniger unehrlich oder ein Gauner. Ich wußte jedenfalls sofort, dass St.-Cyr einen starken Gegenpart braucht. Also kam mir Kohler in den Sinn. Aber ich war während des Krieges aufgewachsen und hatte die Deutschen zu hassen gelernt. Ich fragte mich, ob ich wirklich über einen sympathischen Deutschen schreiben konnte. Wie sollte ich das Einfühlungsvermögen entwickeln, das nötig ist für so eine wichtige und zentrale Figur? Irgendwie gelang es mir. Aber Kohler hatte immer die Tendenz, mir auf dem Papier wegzurennen. Noch heute, neun Bücher später, droht mir Kohler immer wieder zu entgleiten. Ich muß mich sehr intensiv auf ihn konzentrieren.“
Ohne das Tempo der Handlung zu verzögern – jeder St.-Cyr und Kohler-Roman spielt in einem kurzen Zeitraum von einigen Tagen, nie länger als eine Woche – gelingt es Janes das tägliche Leben in dem besetzten Land in die Handlung zu integrieren. Fernab allen dümmlichen Betroffenheitsgelalles zeigt er eindrücklich den alltäglichen Terror der Besatzer und den dauernden Überlebenskampf der einfachen Menschen. Er vermeidet simple Schwarzweißmalerei und zerstört abgedroschene Klischees. Er verdeutlicht geradezu erschreckend, wie wenig wir wirklich darüber wissen. Dabei vermeidet er Sentimentalität, was die Authentizität seiner Bücher erhöht.
Sein souveräner Umgang mit zeitgeschichtlichen Fakten und ihre künstlerische Vernetzung mit der Fiktion ziehen den Leser so intensiv in die Geschichte, das dieser die zeitliche Distanz aufgibt. Er macht die Vergangenheit auch emotional erfahrbar.
Neben seinen gelungenen Charakteren und den sauber konstruierten Plots macht diese atmosphärische Verzahnung von vergangener Realität und Fiktion die Faszination seiner einzigartigen Bücher aus. „Das besetzte Frankreich ist ein faszinierender Hintergrund, und ich entdecke immer wieder etwas neues.“
Gerade die genau recherchierten Details, die Janes unaufdringlich einfließen lässt, verblüffen den aufmerksamen Leser immer wieder. Wie Max Allan Collins gilt auch er als exzellenter Rechercheur, dem es gelingt, genau die richtigen Facts zu finden und zu nutzen. „Wir sprechen über Romane! Man kann auch etwas zu Tode recherchieren, bis mir oder dem Leser die Lust vergeht. Der Trick ist, nur das auszuwählen, was die Story lebendig werden lässt. Schriftsteller sind Jäger und Sammler und registrieren alles was sie lesen, hören oder sehen, um es mal irgendwann zu verwerten. Ich recherchiere dauernd. Die Jagd nach Material geht nie zu Ende. Seitdem ich 1970 mit dem Schreiben begann, habe ich keinen Urlaub gemacht. Nur Recherche-Reisen. Jeder Roman ist anders. Aber inzwischen weiß ich intuitiv, welches Material ich für ihn brauchen könnte. Ich mache eine Menge Notizen, schreibe Seiten nur mit Fakten und Details voll. Jedes Buch muss alleine für sich bestehen können, ohne vom Leser Vorkenntnisse zu verlangen.“
Oft gewinnt man den Eindruck, dass Janes der Atmosphäre seiner Romane alle anderen Elemente unterordnet. Und es sind die verschiedenen, meist düsteren, Stimmungen, die im Leser unauslöschlich haften bleiben. Dabei verlangt er bei der Lektüre einige Konzentration: Sein eigenwilliger Umgang mit dem inneren Monolog, dessen Perspektive abrupt gewechselt werden kann, ist nur effektiv, wenn man sich intensiv auf Stil und Autor einlässt. Janes verlangt den mitdenkenden Leser und macht keine Abstriche an sein literarisches Konzept. Paradoxerweise ist es gerade diese extrem subjektive Erzählerhaltung, die ein objektiv-realistisches Bild der Zeit heraufbeschwört.
Die „Globe and Mail“ verglich einen seiner Romane mit der „glanzvollen Handlung von H.H.Kirsts Klassiker DIE NACHT DER GENERALE“ und SANDMANN wurde sowohl von Publishers Weekly wie der New York Times unter die besten Thriller des Jahres 1997 gewählt. Seitdem seine Romane auch in den USA veröffentlicht werden, ist Janes kein Geheimtipp mehr. Sieben Romane wurden von der Stornoway Productions unter Option genommen. Das Drehbuch zum ersten Roman MAYHEM ist von Ron Base fertiggestellt worden und seitdem sind immer wieder ein Kinofilm wie auch eine Fernsehserie für die BBC im Gespräch.
1. Mayhem (1992)
2. Carousel (1992)
3. Kaleidoscope (1993)
4. Salamander (1994
5. Mannequin (1994)
6. Sandman (1994)
7. Stonekiller (1995)
8. Dollmaker (1995)
9. Gypsy (1997)
10. Madrigal (1999)
11. Beekeeper (2001)
12. Flykiller (2002)
13. Bellringer (2012)
14. Tapestry (2013)
15. Carnival (2014)