Martin Compart


Michael Moorcocks COLONEL PYAT-Quartett by Martin Compart

Wie Lügen zur Wahrheit führen können, erzählt Michael Moorcock in seiner Pyat-Quartett, die eine einzigartige Mentalitätsgeschichte der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts projiziert.

Die Tetralogie gehört zu Moorcocks Meisterwerken! Und das bei einem Autor, der nicht gerade wenige Meisterwerke geschrieben und Fantasy und SF revolutioniert hat.

Zu seinen zahlreichen Verdiensten gehört auch die Antizipation des Steampunk mit seiner Oswald Bastable-Trilogie. Mit den Jerry Cornelius-Romanen erforschte er die Drogen getränkten Gehirnströme der Swinging Sixties, und seine Sword & Sorcery verband die Wucht von Robert E. Howard mit der Sensibilität von J.G. Ballard.

„All my early Elrics are like fantasies by Camus.“

Moorcock war als Herausgeber von NEW WORLDS für den kometenhaften Aufstieg der New Wave in den 1960er Jahren verantwortlich, in der William und nicht mehr Edgar Rice Burroughs die Koordinaten bestimmte. Stichwort: inner space. Neben anderen Aspekten reflektierte die New Wave natürlich auch die zeitgleiche Rock- und Drogenkultur der Jugendrevolte. Man wollte die Science Fiction der Sublimierungskultur entreißen.

Oder, wie es Brian Aldiss ausdrückte: „Moorcocks Energie und Ballards Vorstellungskraft sogen ein neues Publikum für die SF an.“

In den 1960er Jahren wurde er zum popkulturellen Regenmacher:
Without Moorcock neither today’s SF nor today’s fantasy nor today’s comic-book scenes would look anything like they do; and nor, arguably, would either Dungeons & Dragons, World of Warcraft or This Is Spinal Tap have been possible.„, stellte die FINANCIAL TIMES fest.

Seine enge Verbindung zur Pop-Musik schlug sich in der Zusammenarbeit mit Bands nieder, allen voran HAWKWIND.

Moorcock tanzte auf vielen Hochzeiten und machte überall eine gute Figur. Er verblüffte immer wieder durch Innovationen. So auch Anfang der 1980er, als er mit Colonel Pyatt begann („I have used fantasy and science fiction to experiment a little bit, to practice if you like before doing something slightly ambitious like the Jerry Cornelius books, the “Colonel Pyatt” novels are a sort of extension of the Cornelius books.“):

Maxim Arturovitch Pyatnitski alias Colonel Pyat ist ein interessanter Bursche: 1900 geboren und 1977 gestorben, nahm er bis in die 1940er Jahre (laut seiner vierbändigen autobiographischen Darstellung) an so manchen Ereignissen teil, die diese Epoche prägten: vom Russischen Bürgerkrieg bis Auschwitz führte ihn sein Weg durch die Zeit und drei Kontinente.

Seine persönlichen Aufzeichnungen wurden von Michael Moorcock zwischen 1979 (er fand erst 1981 einen Verlag, der den ersten Band druckte) bis 2006 in vier voluminösen Bänden herausgegeben.

Die autobiographischen Aufzeichnungen legen Pyats Charakter frei. Unbefangen – von Moorcock nur bei zu starken Entgleisungen abgemildert – teilt der Narziss alle Vorurteile und ideologische Verirrungen, die das Jahrhundert zum bisher blutigsten und geschmacklosesten in der Menschheitsgeschichte machten. Ohne Selbstzweifel trampelt der kokssüchtige Wissenschaftler durch jedes Dilemma, an denen natürlich immer die anderen Schuld sind, ohne zu erkennen, dass es genau Typen wie er waren, die aus dieser Zeit ein Schlachthaus machten.

Die Koksnase Pyat ist als Antisemit, ehemaliger Ku-Klux-Klan-Angehöriger, seiner Neigung zu sehr jungen Mädchen und Buben und Verehrer der SS alles andere, als ein Sympathieträger. Er identifiziert Schwarze, Tartaren, Papisten, Juden, Muslime, Katholiken und Sozialisten als Träger der großen Verschwörung Karthagos gegen das christliche Russland, die Monarchie und den Faschismus, die als einzige den menschlichen Fortschritt und die Eroberung des Kosmos garantieren!

Die Tetralogie wurde gelegentlich mit den FLASHMAN-Romanen von George MacDonald Fraser verglichen. Die augenscheinliche Überschneidung ist, dass es sich bei beiden Werken um Memoiren von Zeitzeugen handelt, die immer wieder in historische Prozesse verwickelt werden.

Aber der unsympathische Pyat ist – im Gegensatz zu Flashman – kein verlässlicher Erzähler, da er sich die Realität gerne zurecht biegt. Der Reiz bei diesem Ich-Erzähler liegt darin, dass er häufig die richtigen historischen Fakten präsentiert, aber aus ihnen die falschen Schlüsse zieht. Flashman ist ein extrem zuverlässiger Erzähler, der seine charakterlichen Defizite vor dem Leser ausbreitet und schonungslos mit sich selbst umgeht. Dagegen zeigt der Narziss Pyat psychopathische Züge.

Moorcock: „I always try to get the ‘tune’ right first in a book. The tone is the most important thing for me. Once I have the cadences, I can also begin on the form.

Wie umstritten dieses Werk ist, erkennt man auch daran, das Moorcocks amerikanischer Verlag Random House sich weigerte, den dritten und vierten Band zu veröffentlichen (die Amerikaner kamen erst Jahre später durch einen anderen Verlag in den Genuss der gesamten Tetralogie – was dem deutsch lesenden Publikum nach wie vor verwehrt bleibt).

Zwischen dem 2. und dem 3.Band machte Moorcock eine achtjährige Pause. Er begründete dies mit der aufwendigen Recherche für jedes Buch und die Schwierigkeit, in den Sprachduktus von Pyat zurück zu finden.

Leider ist bei uns nur der erste Band des Quartetts erschienen: Bastei-Lübbe veröffentlichte ihn 1984 unter dem Titel BYZANZ IST ÜBERALL in seiner damaligen Paperback-Reihe in einer vorzüglichen Übersetzung von Michael Kubiak und mit einem gruseligen Satzspiegel (ohne den die Reihe, in der Stephen King am deutschen Markt durchgesetzt wurde, sicherlich Kult-Status hätte).

So viele Moorcock-Fans, die auch härtere Kost vertragen, scheint es bei uns nicht zu geben. Obwohl Bastei-Lübbe damals den Jerry Cornelius-Zyklus vollständig veröffentlichte, wagte man sich nicht mehr an die anderen Colonel Pyat-Bände heran. Vielleicht schreckte man auch vor der Problematik des Sujets zurück… Überhaupt ist es eine Schande, dass es keinen Verlag gibt, der eine Gesamtausgabe dieses Autors macht, der zu den 100 einflussreichsten Schriftstellern der letzten hundert Jahre gehört. Nicht mal sein großer Roman MOTHER LONDON, der mit allem mithält, was Iain Sinclair oder Peter Ackroyd (die ihm viel zu verdanken haben) geschrieben haben. Aber in einer Zeit qualitativer Rationierung können Großverlage kaum noch Minderheiten bespielen.

Abenteuerliches gibt es genügend in dem Werk, das mit Pyats Kindheit und Jugend in Kiew, St.Petersburg und Odessa beginnt (wüsste man es nicht besser, könnte man glauben, Moorcock habe Zeit und Ort mit eigenen Augen gesehen, so eindrucksvoll sind seine Schilderungen; er nannte Babels Benya Krik-Stories als wichtigen Einfluss).

Natürlich gerät er in die brutalen Wirren des Bürgerkriegs (aber auch als genialer Erfinder von kurz funktionierende Flugmaschinen und einer Laserkanonen, kann er dessen Verlauf nicht ändern). Er flieht in die Türkei nach Konstantinopel (wo er sich eine 13jährige Roma kauft).
Dann geht es nach Rom, wo er sich von den Faschisten bewundern lässt, und weiter nach Paris, Seine großen Pläne werden seiner Meinung nach von der Karthago-Verschwörung sabotiert – und ab geht es in die USA, wo er beim Ku-Klux-Klan und schließlich in Hollywood landet. Dort arbeitet er zuerst als Techniker und Set-Designer, bevor er zum Star in Western-Serials aufsteigt.

Er befreundet sich mit Sam Goldwyn und entschließt sich, einen grandiosen Epos in Ägypten zu drehen. Natürlich geht alles schief, und es folgt eine irre Odyssee durch die übelsten Harems, regelrechte Vergewaltigungskerker, und Unterwelten Nordafrikas. In Cairo trifft er (natürlich) auch den nubischen Transvestiten Ibrahim al-Gharbi (hier al-Habashiya geheißen), der damals in der Region den Handel mit Sex-Sklaven beherrschte.
Die Szenen von Pyats Versklavung in al-Habashiyas bisexuellem Harem hätten von de Sade stammen können. Nachdem er der afrikanischen Hölle entkommen ist, geht er zurück nach Italien und macht seinen Weg in den inneren Zirkel von Mussolini, dem er verspricht, Land-Leviathane (eine immer wiederkehrende Topos von Moorcock) zu bauen.

Aber auch hier lauert überall Intrige und Gefahr.
Dank eines Geheimauftrages von Mussolini kann er das faschistische Italien verlassen. Die Geheimmission führt ihn nach München zu den Nazis und in die Arme von SA-Chef Ernst Röhm. Die Verstrickung in den „mysteriösen Todesfall“ von Hitlers Nichte Geli Raubal, bringt Pyat dann auch nach Dachau.
Um Hitler nach dem Tod seiner Nichte wieder sexuell auf Trab zu bringen, brachte Röhm ihn dazu, sich als Nutte zu verkleiden und den Führer zu verführen.
Brave Bürgererotik wird man bei Moorcock vergeblich suchen.

Wie man sieht: Die vier Bände sind ein pikaresker Roman, der oft starker Tobak ist, aber immer faszinierend das Zeitkolorit für unglaubliche Abenteuer und Interpretationen aufsaugt (‚the Holocaust . . . was not my fault . . . any more than it was Adolf Hitler’s]‘.

Die begleitenden Nebenfiguren (auch Mrs. Cornelius taucht immer wieder auf) unterfüttern die monströse Figur des Erzählers. Pyat gelingt es in den besten Momenten, die volle Idiotie dieser Ära vorzuführen, die uns bei der Lektüre von historischen Werken so nie bewusst wird. Wenn in Zeiten der Wirrnis Geschichte zum Wegweiser wird, dann sei vor diesen Pfaden gewarnt.

Michael Moorcock: „…and Pyat, of course, is about man’s inhumanity to man, to put it the broadest it will go. It’s actually about the Nazi holocaust. It was hard enough bearing the burden of death and suffering in the past, in which I forced myself to see every individual in every concentration camp picture, no matter how dehumanized they had become.


Byzantium Endures [1981]
The Laughter of Carthage [1984]
Jerusalem Commands [1992]
The Vengeance of Rome [2006])

Zu Moorcock siehe auch in diesem Blog:
https://martincompart.wordpress.com/2010/11/04/die-crux-mit-dem-hauptwerk-grundsatzliches-uber-michael-moorcock-3-von-alexander-martin-pfleger/




QUENEAU IN DEN MEAN STREETS: JAMES SALLIS by Martin Compart

(Nachwort zu DEINE AUGEN HAT DER TOD; DuMont Noir Bd.7., 1999)

Für Verleger – und mehr noch Übersetzer – ist James Sallis die Herausforderung oder schlechthin ein Alptraum! Der Mann, der einen der faszinierendsten und schwierigsten Stile in der zeitgenössischen amerikanischen Literatur schreibt, kann einem Übersetzer das Leben zur Hölle machen. „Das weiß ich“, grinst der Autor, „schließlich habe ich mir selbst als Übersetzer aus dem Französischen an Raymond Queneau die Zähne ausgebissen. Er war der erste französische Autor, in den ich mich verliebte. Seine Bücher sind sehr seltsam und schwebend. Er treibt eine Menge Scherze auf Kosten der Leser, deren Erwartungshaltungen und sich selbst. Es gibt nichts ähnliches in der englischen Literatur. Er hat mich sehr beeindruckt.

Ein Teil von Sallis‘ Originalität begründet sich bestimmt in der tiefschürfenden Beschäftigung mit Queneau und dem nouveau roman. Der „New Orleans Time“ ist zuzustimmen, wenn sie schreibt: „Sallis trifft präzise jedes Detail und jede Nuance, jeden Schritt, jedes ölige Krabbensandwich und jede ausgebrannte Neonreklame… Sein Schreibstil ist elegant und sparsam – einfach atemberaubend.“ Sallis ist keine simple Lektüre, aber wenn man sich erst einmal auf ihn eingelassen hat, wird man auf einzigartige Weise dafür belohnt. Sallis ist mit Sicherheit einer der vielseitigsten Autoren, die man in der schier unerschöpflichen, vitalen angelsächsischen Literatur findet.

Geboren wurde er am 21.Dezember 1944 in Helena, Arkansas.
Als Kind schon war er ein begeisterter Science Fiction-Leser; seine erste Lektüre war THE PUPPET MASTERS von Robert A. Heinlein.
Er studierte in New Orleans und an der Universität von Texas in Arlington russische und französische Literatur. 1964 bis 1966 war er Lyrikredakteur der renommierten kanadischen Literaturzeitschrift „Riverside Quarterly“. 1964 heiratete er zum ersten Mal. Damals verkaufte er auch seine ersten Kurzgeschichten: Science Fiction-Stories.

Während eines Schriftsteller-Workshops traf er den britischen SF-Autor Michael Moorcock, der einige seiner Geschichten gekauft hatte und Herausgeber des avantgardistischen britischen Science Fiction-Magazins „New Worlds“ war.

Dieses Magazin hatte wesentlich die stilistische Weiterentwicklung des Genres zur sogenannten New Wave der sechziger Jahre vorangetrieben. Nicht mehr Edgar Rice Burroughs mit seiner Fantasy-SF oder Isaac Asimov und Robert Heinlein mit ihrer meist soziale Strömungen negierenden Hardcore-SF bestimmten die Richtung des Magazins, sondern Autoren, die sich eher auf William Burroughs und H.G.Wells beriefen. New Wave-Autoren wie James Ballard, Thomas Disch oder Norman Spinrad befreiten die erstarrte Science Fiction von technologischen Träumen und Pulp-Klischees und überschritten durch stilistische Experimente und neue Themen die verkrusteten Grenzen des damals vielgeschmähten Genres.

Moorcock stützte auch finanziell das Magazin, indem er als Lohnschreiber Fantasy-Zyklen für andere Verlage verfasste. Er wollte das Magazin nicht in Personalunion als Herausgeber und Redakteur führen und sich mehr auf seine schriftstellerischen Arbeiten konzentrieren. Also suchte er einen Seelenverwandten für die redaktionelle Tätigkeit. Nachdem er nächtelang mit Sallis über Science Fiction diskutiert hatte, bot er ihm den schlechtbezahlten Job als Redakteur von „New Worlds“ an. „Ich wusste nichts über die redaktionelle Arbeit an einem solchen Magazin. Außerdem hatte ich kein Geld. Also nahm ich an.“

Er zog nach London und betreute „New Worlds“ bis 1968. Damals kam er erstmals mit Kriminalliteratur in Berührung: „Mike Moorcock gab mir seine Raymond Chandler-Bücher. Ich las das komplette Werk in drei Tagen und Nächten. Danach war ich nicht mehr derselbe. Chandlers Werk ist für die Literatur von größerer Bedeutung als viele Autoren, die von Akademikern in den Pantheon gestellt werden. Chandler ist mindestens so wichtig wie Hemingway oder Fitzgerald. Ich begann mich für das Genre ernsthaft zu interessieren und versuchte alle wichtigen Autoren zu lesen. Vor allem Jim Thompson, David Goodis, Chester Himes und Horace McCoy beeindruckten mich neben Hammett und Chandler.“

Sallis lebte in einem kleinen Appartement in der Nähe der Portobello Road und teilte das pulsierende Leben der Swinging Sixties im damaligen Nabel der popkulturellen Welt. Die Freundschaft mit Mike Moorcock hält bis heute an.

Neben Crime-Autoren und Science Fiction verschlang Sallis vor allem französische Literatur. Eine Leidenschaft, die ihn die bis heute nicht loslässt und ihn 1993 SAINT GLINGLIN von Raymond Queneau ins Amerikanische übersetzen ließ.

Michael Moorcock

Als 1967 Auszüge aus Norman Spinrads Roman BUG JACK BARRON – eine bitterböse Geschichte über Medienmacht und Machtpolitik – in „New Worlds“ erschienen, befasste sich das Unterhaus mit dem Magazin, strich wegen Verbreitung angeblicher Obszönität die überlebenswichtige Kulturförderung und nannte Spinrad einen „Degenerierten“.
Als dann auch noch W.H.Smith, der größte Zeitschriftenverteiler „New Worlds“ aus dem Vertrieb nahm, stand dem Magazin, das eine so wichtige Rolle in der Entwicklung der modernen SF gespielt hatte, das Wasser bis zum Hals.

„Damals ging ich in die Staaten zurück, um meine Ehe zu retten. Es klappte nicht, und ich war zu arm, um wieder nach London zu gehen. Das bereue ich bis heute.“

Er schrieb weitere SF-Stories und gab zwei Anthologien heraus: THE WAR BOOK (1969) und THE SHORES BENEATH (1970). Daneben arbeitete er eine Weile als Kunst-, Literatur und Musikkritiker für „Boston After Dark“ und „Fusion“.

Eine seiner großen Leidenschaften ist die Jazzmusik, und seine legendären Besprechungen in „Texas Jazz“ führten zu den Büchern THE GUITAR PLAYERS (1982), JAZZ GUITARS (1984) und THE GUITAR IN JAZZ (1996). Er selbst spielt Waldhorn, Violine, Gitarre, Mandoline und Dobro und nennt seine musikkritischen und historischen Untersuchungen musicology. Einige Zeit spielte Sallis an Wochenenden in Clubs, um sein bescheidenes Gehalt als Lehrer aufzubessern. Er unterrichtete zeitgenössische Lyrik und Europäische Literatur am Clarion College in Pennsylvania und an den Universitäten in Washington, Tulane und Loyola, New Orleans, bevor er sich in Phoenix, Arizona niederließ, wo er heute mit seiner zweiten Frau Karyn lebt.

Die 70er Jahre waren sehr unstet, und Sallis ließ sich treiben, arbeitete in Krankenhäusern, kümmerte sich um Sterbende, schrieb Lyrik und soff die halben Alkoholvorräte des Südostens weg.

Ende der 80er Jahre beschäftigte er sich intensiver mit der Noir-Literatur und schrieb Essays über Jim Thompson, David Goodis und Chester Himes (sie wurden in dem Bändchen DIFFICULT LIVES, das 1993 im kleinen Brooklyner Verlag Gryphon erschien, gesammelt und werden auf Deutsch als Anhang der Griffin-Romane und in NOIR 2000 erscheinen).

Als er Anfang der 70er Jahre in New York lebte, entdeckte er Chester Himes, dessen absurd-realistische Romane ihn tief beeindruckten und zwei Jahrzehnte später Sallis Imagination für eine Noir-Serie aufladen sollten. „Meine Kenntnis von New Orleans und das Leben von Chester Himes inspirierten mich zu meinem Held Lew Griffin. Lews Passivität, die Art, wie er von Krise zu Krise getrieben wird und seine ausschließliche Liebe für weiße Frauen ist Chester Himes. Genauso sein Alkoholismus. Es gibt eine Menge Überschneidungen. Vieles ist von Himes‘ Roman THE PRIMITIVE (1955) inspiriert. Es ist das Buch von ihm, das ich am meisten bewundere. Ich kaufe jedes gebrauchte Exemplar in Secondhand-Shops, um sie zu verschenken. Ich wuchs im Süden auf und kenne die Welt der Schwarzen. Ich liebe schwarze Literatur und schwarze Musik. Als Kind spielte ich ausschließlich mit schwarzen Kindern. Bis ich zehn Jahre alt war und man mir sagte, dass das nicht mehr ginge.“

Natürlich bekommt Sallis heute öfters zu hören, dass es schon sehr merkwürdig sei, dass ein weißer Autor über einen schwarzen Protagonisten schreibe. Aber da ist Sallis nicht der erste: Zuvor taten die schon Ed Lacey, John Ball (die beide mehr oder weniger für dieses Unterfangen mit dem Edgar Allan Poe-Award ausgezeichnet wurden) und Shane Stevens.

Mit dem ersten Lew Griffin-Roman begann sein Durchbruch. Nun wurde er als Romancier und Erneuerer des Privatdetektivromans ernst genommen.

„Als ich begann, geschah in der Science Fiction ungeheuer viel neues. Michael Moorcock mit New Worlds und Damon Knight mit Orbit ermöglichten plötzlich tiefe, eigene Erfahrungen in phantastische Literatur umzusetzen, jenseits von Space Operas. Heute, denke ich jedenfalls, ermöglicht die Noir-Literatur diese innovativen Visionen bei einer eingeweihten Leserschaft. Die großen zeitgenössischen Kriminalliteraten sind großartige Schriftsteller, die auch außerhalb des Genres zu den besten zählen würden. Autoren wie Stephen Greenleaf, James Lee Burke oder George P.Pelecanos. Mit meinen Griffin-Romanen versuche ich die Energie und den klassischen Rahmen des Genres Private Eye-Novel mit intensiver Sprache und Charakteren zu verbinden. Damit das klar ist: Ich will das Genre nicht auflösen oder diskriminieren, ich nutze seine Kraft.“

Trotzdem sind diese Genre-Romane weniger Privatdetektivromane als Romane über einen Privatdetektiv. „Ich lese PI-novels Wegen der Atmosphäre und des Tons. Der Plot interessiert mich kaum.“ Die weiteren Charaktere, alles ausgereifte, dreidimensionale Persönlichkeiten, sind meistens Angehörige gesellschaftlicher Außenseitergruppierungen: Drogensüchtige, Homosexuelle, Prostituierte und Nachtarbeiter. „Ich selbst habe fast immer eine Randgruppenexistenz geführt und kenne diese Menschen am besten. Vielleicht mache ich es mir damit zu einfach, aber meine Werte – und die in meinen Büchern – sind mit Sicherheit nicht die der Mittelschicht. Eines meiner größten Vergnügen in diesen Romanen ist das Brechen von Klischees. Ich nehme ein Stereotyp wie etwa einen Privatdetektiv, um dann die gewohnten Vorstellungen zu brechen. Mit DEINE AUGEN HAT DER TOD habe ich dasselbe für den Agententhriller versucht.“

Neben den Romanen nehmen Literaturkritik und Essays weiterhin breiten Raum in seinem Schaffen ein. Er schreibt regelmäßig für die „Washington Post“, „New York Times Book Review“ und die „L.A.Times“. Als begeisterter Kriminalliterat hat er trotz seines Erfolges aber nie seine Verbundenheit mit dem Fandom verloren, und so schreibt er weiterhin unentgeltlich für „Mystery Scene“, „Crime Time“ und andere Magazine hochkarätige Besprechungen und Kritiken. Seine jüngsten Essays über George P.Pelecanos‘ DAS GROSSE UMLEGEN (DuMont Noir Band 6) und James Lee Burke (die in dem DuMont-Noir Reader NOIR 2000 auf Deutsch erscheinen), gehören zum Intelligentesten, das in jüngster Zeit über das Genre geschrieben wurde.

DEINE AUGEN HAT DER TOD war vielleicht ein einmaliger Ausflug von Sallis in die Welt der Geheimagenten. Aber der beklemmende, aufwühlende Roman ist – typisch Sallis – nur insofern ein Roman über Spionage und Agenten wie Graham Greenes BRIGHTON ROCK ein Roman über Jugendkriminalität in Südengland ist.

Es ist ein existentielles Katz-und-Maus-Spiel auf dem gigantischen Spielbrett der amerikanischen Landschaft und führt durch Diners und Motels, die das Schlachtfeld sprenkeln wie Plastikhäuschen ein Monopolybrett. Eine metaphysische Reise durch das Herz der Finsternis des amerikanischen Traumes.
Jonathan Lethem verglich das Buch mit Borges und Trevanians Klassiker SHIBUMI.

Sein Hauptwerk bleibt nach wie vor die Geschichte von Lew Griffin, die er, beginnend mit DIE LANGBEINIGE FLIEGE (DuMont Noir Band 11), in bisher fünf Romanen erzählt, die man als nouveau Privatdetektivroman bezeichnen kann.
Wie Queneau bricht Sallis die Erwartungen, die der PI-Genre-Leser den Büchern gegenüber hat. Als Queneau der Mean Streets ist sich Sallis der Künstlichkeit der Genrestruktur bewusst und lässt trotz aller Ernsthaftigkeit keinen Zweifel am fiktionalen. „Wenn Sie nicht wissen, daß Ihnen in diesen Seiten eine Geschichte erzählt wird, dann frage ich mich, wo zum Teufel Sie in den letzten vierzig Jahren gelebt haben? Schließlich geht es darum im Roman.“

Weiterhin überträgt er Rimbauds ästhetisches Konzept auf die Genre-Literatur: Pop-Literatur und populäre Kunst ist gemeinhin bestätigend. Sie sagt dem Rezipienten, dass alles, was er glaubt, richtig ist, bestätigt seine Sozialisation. „Man ist ein braver Junge, wenn man an die Normen glaubt. Wahre Kunst behauptet das Gegenteil: Woran du glaubst, ist nicht richtig. Nicht einmal annähernd. Also sollten wir mal ein bisschen nachdenken.“

THE LONG-LEGGED FLY wurde für den Shamus-Awar nominiert, ebenso MOTH; BLACK HORNET für den Golden Dagger Award der britischen Crime Writers Association und EYE OF THE CRICKET für den Anthony Award. Er erweitert das in Agonie dahinvegetierende Genre mit stilistischen Innovationen.
Dasselbe taten in den 60er Jahren die New Wave-Autoren James Ballard, Brian Aldiss, Mike Moorcock, Sam Delaney (über den Sallis einen Essay geschrieben hat) und andere in New Worlds für die Science Fiction.

Der Kreis schließt sich.

Bibliographie bis 1999:

A Few Last Words, 1972 (Kurzgeschichten)
The War Book, 1972 (Anthologie)
The Shores Beneath, 1973 (Anthologie)
The Guitar Players, 1973 (Musicology; Anthologie)
Jazz Guitars, 1982 (Musikkritik)
Difficult Lives, 1993 (Essays über Jim Thompson, Chester Himes und David Goodis)
The Guitar Players, 1994 (Erweiterte Neuauflage)
Limits of the Sensible World, 1994 (Mainstream-Kurzgeschichten)
Renderings, 1995 (Roman)
The Guitar of Jazz, 1996 (Musicology)
Ash of Stars, 1996 (Essays)
Death Will Have Your Eyes, 1997 (Thriller. Deine Augen hat der Tod, DuMont Noir Band 7)
Chester Himes: A Life, 1999 (Biographie)

Lew Griffin-Serie:
1. The Long-Legged Fly, 1992 (Die langbeinige Fliege, DuMont Noir Band 11)
2. Moth, 1993
3. Black Hornet, 1994
4. Eye of the Cricket, 1997
5. Bluebottle, 1999.



M.P.SHIEL: Die Kurzprosa des Inselkönigs von Alexander Martin Pfleger by Martin Compart
12. September 2012, 8:50 am
Filed under: Alexander Martin Pfleger, M.P.Shiel, Michael Moorcock, Porträt, Rezensionen, Science Fiction | Schlagwörter: , ,

Es ist immer ein erhellendes Vergnügen, einen Text von Alexander Martin Pfleger zu lesen. Er gehört zu den besten und originellsten unter den jungen deutschen Literaturwissenschaftlern und verfügt über ein bemerkenswert breites Spektrum. Auf literaturkritik.de steht lapidar:

„Veröffentlichungen über Gerhart Hauptmann, Thomas Mann, Josef Weinheber, Ernst Jünger, Arno Breker und Alfred Elton van Vogt.
Forschungsschwerpunkte: Epigonale (oder besser gesagt: gemeinhin als epigonal angesehene) deutschsprachige Versdramatik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, NS-Literatur und Literatur der Inneren Emigration, kommerzielle Hörspiele, Trivialliteratur.“

Ich hatte bereits das Vergnügen, einen Text über Michael Moorcock in diesem Blog zu veröffentlichen. Hier nun schreibt er über einen der faszinierendsten Literaten des britischen Empires.

Der erste deutschsprachige Auswahlband einiger Erzählungen von Matthew Phipps Shiel
von Alexander Martin Pfleger

Matthew Phipps Shiel zählt hierzulande immer noch zu jenen Klassikern der angloamerikanischen Phantastik, deren Bedeutung sich mehr an der Anzahl ihrer Erwähnungen in Essays und Lexika zur phantastischen Literatur denn anhand ihrer deutschsprachigen Übersetzungen ablesen läßt. Zollten ihm zu Lebzeiten so unterschiedliche Autorinnen und Autoren wie Dorothy Sayers, Rebecca West, H. G. Wells, Arnold Bennett, E. F. Benson, L. P. Hartley, J. B. Priestley, Hugh Walpole, Dashiell Hammett, Lawrence Durrell oder H. P Lovecraft ihren Tribut, so fristete er bei uns seit seinem ersten Auftreten kaum mehr als ein Schattendasein. Ende der 1970er Jahre fand eine seiner bekanntesten Erzählungen, das Fragment „Xelucha“, Eingang in eine Reclamanthologie klassischer englischer Spukgeschichten. Anfang der 1980er Jahre, als es noch völlig undenkbar war, daß ein Titel aus diesem Bereich auch nur das minimalste feuilletonistische Interesse auf sich zu lenken vermöchte, wenn er unglücklicherweise außerhalb der „Phantastischen Bibliothek“ oder der „Hobbit Presse“ erschien, kam Shiels bekanntester Roman, die „Letzte-Mensch“-Geschichte „The Purple Cloud“, auf Grundlage der Originalfassung von 1902, mit einem detaillierten Nachwort des späteren SFWA-Präsidenten David G. Hartwell versehen, in der Übersetzung von Hans Maeter als Heyne Taschenbuch heraus. Erst in den 1990er Jahren erschien wieder eine Erzählung von ihm – die Titelstory des vorliegenden Bandes! – in einer Heyne-Anthologie.

Seine Präsenz im sekundären Sektor indes war dazu angetan, das Interesse an seinem Werk lebendig zu erhalten. In Rein A. Zondergelds „Lexikon der phantastischen Literatur“ konnte man von einer Vielzahl phantastischer Abenteuerromane und Erzählungen sprachlich barock-archaisierenden Zuschnitts lesen, die dem Enzyklopädisten zwar größtenteils künstlerisch mißglückt dünkten und zudem die reaktionären, schon durchaus faschistisch zu nennenden Ansichten ihres Verfassers offenbarten, von denen einige aber durchaus einen gewissen Anspruch auf literarhistorische Bedeutung innerhalb des phantastischen Genres für sich beanspruchen dürften, insbesondere die Erzählung „Vaila“ oder, wie sie in ihrer späteren Fassung heißen sollte, „The House of Sounds“, die aber letztlich nichts weiter als eine sowohl inhaltlich als auch sprachlich geradezu ans Lächerliche grenzende Nachahmung von Edgar Allan Poes „Der Untergang des Hauses Usher“ darstelle, wohingegen sie H. P. Lovecraft, vor allem die überarbeitete Version, als Meisterwerk feierte.

Als sich während der 1890er Jahre Arthur Conan Doyle vom Ruhm seines Sherlock Holmes zu emanzipieren trachtete, indem er diesen in den Reichenbachfällen bei Meiringen ein vorläufiges Ende finden ließ, gab es einige, die um den verwaisten Thron des Meisterdetektivs aus der Baker Street buhlten, und für nicht wenige Leser und Kritiker schien für einige Zeit Matthew Phipps Shiel mit seinem „Prince Zaleski“ aus dem gleichnamigen Erzählungsband von 1895 der vielleicht aussichtsreichste Aspirant zu sein. Des Prinzen berüchtigtster Fall ist ohne Zweifel in der Geschichte „The S. S.“ dokumentiert, die von den Machenschaften eines weltweit operierenden Geheimbundes handelt, der „Society of Sparta“, die es sich zur Aufgabe gesetzt hat, alle Kranken und Schwachen zu töten, diese Unternehmungen aber wie Selbstmord aussehen zu lassen. Shiel beschränkte sich jedoch nicht auf das Feld der Detektivgeschichte, sondern versuchte sich in den unterschiedlichsten Genres. Er behandelte Themen der décadence auf eine Weise, die seine Romane und Erzählungen sich auf dem Jahrmarkt der Sensationsliteratur zeitweilig äußerst erfolgreich behaupten ließ, allerdings nicht verhindern konnte, daß sie letzten Endes Geheimtips blieben.

Brian W. Aldiss – keineswegs ein Bewunderer Shiels! – äußerte einmal, daß man die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts als eine Wiederholung des 19. nach einem Drehbuch von Shiel ansehen müsse. Jugendwahn, Übermenschenkult, Vernichtungsphantasien – all dies findet man in seinen Werken in einem zwischen Baudelaire und Boulevard, zwischen Swinburne und „The Strand“ oszillierenden, auf manchen Leser mit literarischen Anspielungen überfrachtet wirkenden Stil dargeboten, dem Aldiss angesichts von Sätzen wie „As a brimming maiden, out-worn by her virginity, yields half-fainting to the dear sick stress of her desire—with just such faintings, wanton fires, does the soul, over-taxed by the continence of living, yield voluntary to the grave, and adulterously make of Death its paramour.” (In deutscher Übersetzung: „Wie eine alte Jungfrau, von ihrer Jungfräulichkeit verdorrt, sich halb ohnmächtig der vertraut wehmütigen Qual ihres Verlangens hingibt – mit solcher in Ohnmacht versinkender, brennender Lust gibt sich die Seele, überdrüssig der Enthaltsamkeit des Lebens, dem Grabe hin und nimmt sich ehebrecherisch den Tod zum Geliebten.“; zitiert nach Brian W. Aldiss: „Der Millionen-Jahre-Traum. Die Geschichte der Science Fiction“. Bergisch Gladbach 1980. Ins Deutsche übertragen von Michael Görden, S. 196) aus „The S. S.“ eine geradezu preiswürdige Groteskheit attestierte.

Sehr direkt geht es auch in dem Roman „The Lord of the Sea“ (1901) zu, der Geschichte eines fanatischen Antisemiten, der zunächst aus Rache die Unterdrückung und Entrechtung der Juden forciert, schließlich aber erfährt, daß er – Schirinowski läßt grüssen! – selber jüdischer Abkunft ist und in Palästina einen jüdischen Staat gründet. Mit „The Yellow Danger“ von 1898, wie der Titel bereits nahelegt der Geschichte eines „schlitzäugigen Schurken“, sollte Shiel schliesslich, zumindest für den englischen Sprachraum, ein ungutes Schlagwort liefern, das selbst Lesern geläufig sein dürfte, die nie etwas von Shiel gehört haben.

Diese durchaus als skandalumwittert anzusehenden Texte liegen aus nachvollziehbaren, wenngleich nicht immer berechtigten Gründen (noch?) nicht auf Deutsch vor, aber gerade ihr Nimbus wirft die Frage auf, worin denn nun eigentlich die Bedeutung Shiels begründet läge und wie sich die Faszination erklären ließe, die er auf solch eine illustre Schar von Bewunderern auszuüben vermochte. Zu einer solchen Erklärung trägt die erste deutschsprachige Sammlung einiger seiner Kurzgeschichten leider nichts bei, obwohl gerade sie ideal dazu disponiert gewesen wäre – und dies vor allem aufgrund der Person ihres Herausgebers.

Das vorliegende Buch ist keine deutschsprachige Originalzusammenstellung, sondern die deutsche Ausgabe der ersten spanischen Kurzgeschichtensammlung Shiels, welche von Javier Marías zusammengestellt wurde, der in einigen seiner Romane Anspielungen auf Klassiker der englischsprachigen Phantastik um 1900 einbaute, insbesondere auf Arthur Machen – und eben auf Shiel. Wir wollen die Angelegenheit nicht schlecht reden: Es liegen nun ein paar interessante Texte in erwartungsgemäß guter Übersetzung gesammelt vor – die Titelgeschichte in einer Neuübersetzung, die erste Fassung von „Vaila“ (die von Lovecraft gerühmte zweite Fassung „The House of Sounds“ erschien 2002 in einer Anthologie des Festa Verlages erstmals auf Deutsch) sowie vier andere Erzählungen und zwei autobiographische Texte. Ergänzt wird das Buch durch einen Kommentarteil von Antonio Iriarte, der sowohl zahlreiche literarische Anspielungen in Shiels Werken entschlüsselt, als auch den verschiedenen biographischen Verästelungen bis hin zu Oscar Wilde und Knut Hamsun nachspürt, gegenüber der spanischen Ausgabe jedoch „eine adaptierte und leicht gekürzte Fassung“ darstellt – warum auch immer. Wahrhaft abgerundet wäre das Ganze gewesen, hätte Marías einen großen Essay, notfalls ein kurzes und prägnantes Vor- oder Nachwort beigesteuert, doch seine Beiträge zu diesem Band sind enttäuschend und lassen es zweifelhaft erscheinen, ob sich hiermit ein gelungener Einstand bestreiten ließe.

David G. Hartwells Ausführungen zu Shiel im Allgemeinen und zu „The Purple Cloud“ im Besonderen waren entschieden werkbezogen – Shiel wurde unter den frühen Science Fiction Vorläufern um 1900 in die Tradition Poes im Unterschied zu den Traditionen von Jules Verne und H. G. Wells eingeordnet, sein Stil als häufig mißglückte, selten als wirklich gelungen zu erachtende Kombination seiner Idole Thomas Carlyle und Edgar Allan Poe charakterisiert und seine Charaktere als letzten Endes künstlich herausgearbeitet – entweder mithilfe vieler Kunstgriffe auf interessant getrimmt oder klischeebehaftet belassen. Auch in seinen autobiographischen Texten, so Hartwell, habe Shiel eher eine Kunstfigur entworfen, möglicherweise ein souveränes Idealbild seiner selbst, denn ein zutreffendes Bild von sich gezeichnet, weshalb diesen mit Vorbehalten zu begegnen geraten schiene. Ein biographisches Detail erwähnt Hartwell nur als Kuriosität am Rande: daß nämlich Shiel großen Wert darauf legte, den Titel eines Königs der Karibikinsel Redonda (auch: Redegonda) führen zu dürfen.

Diese Angelegenheit ist für Marías indes von eminenter Wichtigkeit, da er selbst seit einigen Jahren diesen Titel als legitimer Nachfolger Shiels führt und so auch die Rechte an seinem Gesamtwerk besitzt. Javier Marías hat offensichtlich einen großen Freundeskreis. Auf prominente Namen wie Francis Ford Coppola, Eric Rohmer, Pedro Almodóvar, António Lobo Antunes, Claudio Magris, Antonia S. Byatt, J. M. Coetzee, César Romero, Alice Munro, W. G. Sebald, Pierre Bourdieu sowie seinen deutschen Verleger Michael Klett und die Übersetzerin Carina von Enzenberg stößt man in den Listen der Ehrenbürger, Preisträger oder was auch immer des Königreichs Redonda, die Marías dem Band beigefügt hat. Welcher Art jedoch deren Bezug zu Shiel ist, inwiefern Shiel auf das Schaffen der Erstgenannten einen konkreten künstlerischen Einfluß ausübte oder diese in einer zwar abstrakten, aber letztlich schlüssig darzulegenden Weise in einer von Shiel begründeten Tradition stünden, wird nicht ersichtlich. In seinem Vorwort weist er lediglich auf die Shielreminiszenzen in seinen Werken hin und referiert in groben – man muß wirklich sagen: in extrem groben Zügen die „Geschichte“ des Königreichs Redonda von Shiel bis Marías. Nichts also von „Leiden und Größe Matthew Phipps Shiels“, sondern leider nur Vereinsinterna aus Javier Marías´ exklusivem privaten Kegelclub bzw. Kaffeekränzchen.

Dem unvoreingenommenen Leser bietet sich folglich eine zwar abwechslungsreiche Sammlung kurzer Erzählprosa dar, die sich sehr schön in das Gesamtbild angloamerikanischer Phantastik und Abenteuerfiktion um 1900 einfügt – Erzählungen, die Motive Poes oder auch Villiers de l’Isle-Adams, den Shiel übersetzte, aufgreifen und weiterführen, und die den Vergleich mit entsprechenden Werken von H. G. Wells, Robert Louis Stevenson, Jack London und wiederum Arthur Conan Doyle nicht zu scheuen brauchen: worin jedoch das Besondere des Shiel´schen Oeuvres läge, welches den Kult um sein Werk und den Firlefanz um das Königreich Redonda nachvollziehbar sich gestalten ließe, dürfte hieraus kaum ersichtlich werden. Ein kleiner rezeptionsgeschichtlicher Lichtblick – aber sonst ? Diese Chance wirkt vertan, aber es könnten sich durchaus noch weitere bieten, die sich besser nutzen ließen: In den Anmerkungen verweist Antonio Iriarte auf Seite 250 auf „Cold Steel“ von 1899, „Shiels vierter Roman (und zugleich einer seiner besten)“. Man vernimmt die Botschaft dankbar und harrt, neugierig geworden, einer spanischen Ausgabe des Buchs – nicht zuletzt in der Hoffnung, daß dann Klett Cotta nachzöge; nach Möglichkeit dann aber mit etwas mehr Hintergrundinformationen in Sachen Shiel von Javier Marías.

Matthew Phipps Shiel:
Huguenins Frau. Erzählungen
Herausgegeben und mit einem Vorwort versehen von Javier Marías
Aus dem Englischen übersetzt von Wolfgang Krege
Aus dem Spanischen übersetzt von Carina von Enzenberg
Klett-Cotta, Stuttgart 2006
251 Seiten, 19.50 EUR
ISBN: 978-3-608-93631-5
3-608-93631-9

Eine Hollywood-Version von THE PURPLE CLOUD



Die Crux mit dem Hauptwerk Grundsätzliches über Michael Moorcock 3/ von Alexander Martin Pfleger by Martin Compart
4. November 2010, 4:00 pm
Filed under: Bücher, Michael Moorcock, Politik & Geschichte, Porträt, Science Fiction | Schlagwörter: ,

Grundsätzliches über Michael Moorcock – anlässlich einer Neuübersetzung seiner „Imitatio Christi“

Die Episoden in der Vergangenheit sind durch eine funktional begründete Blässe charakterisiert. Moorcock versucht nicht, seinen Lesern in der Manier des populären Historienbestsellers eine fremde Epoche in möglichst satten Technicolorfarben auszumalen – sein Palästina der 30er Jahre (der tatsächlichen, ersten unserer Zeitrechnung!) ist hingegen lediglich verzeichnet, wenn auch keineswegs, wie man im Kindler über das Zeitalter der Inquisition in Victor Hugos „Torquemada“ bemerkte, „in geradezu quälendem und beängstigendem Ausmaß“, sondern eher in einer über weite Strecken im positiven Sinne comicstriphaft unbekümmert anmutenden Art, die stellenweise – etwa, wenn Glogauer bei der Auswahl der Apostel nicht allein das Alte Testament, sondern auch die Zeichen des Tierkreises und Positionen neuzeitlicher Esoterik zur Richtschnur seiner Entscheidungen wählt oder Pilatus angesichts der aufgebrachten Menge „Oh, diese morbiden Fanatiker!“ ausruft – in humoristische Kabinettstückchen mündet, die weniger „Das Leben des Brian“ antizipieren als vielmehr dem Josephsroman ironisch Reverenz erweisen.
Überdies stehen dem Autor so keine kleinlichen historischen Details bei der Übermittlung seiner Botschaft im Wege. Gewiss entspricht das Übermitteln einer solchen nur bedingt den Zielsetzungen moderner Literaturtheoreme, aber wenn man schon so etwas macht, sollte man ruhig die Frage nach derselben und ihrem Gewicht stellen dürfen. Was Moorcock uns mitteilen möchte, ist die Erkenntnis, dass man Jesus, wie im Prinzip jede religiöse Erlösergestalt, als Projektion des modernen Menschen anzusehen vermag, der das Bewusstsein der eigenen Unzulänglichkeit in der Vision eines imaginären Grössen-Ichs zu kompensieren trachtet. Das ist schlüssig, aber nicht neu. Innerhalb der Science Fiction war es gewiss neu und originell, in der Literatur des 20. Jahrhunderts in ihrer Gesamtheit hingegen, auch wenn man sich nur auf dessen zweite Hälfte beschränkte, vermag diese Erkenntnis kaum eine Fussnote zu füllen.
„Als großer Anführer und großer Prophet galt er ihnen, doch während sie glaubten, er führe sie, trieben sie ihn in Wirklichkeit vor sich her.“ – ein Satz aus „Behold the man“, der in jedem von Moorcocks Fantasyzyklen stehen könnte und komprimiert die Dialektik allen Heldentums zusammenfasst, das für Moorcock letzten Endes stets in Selbstbetrug begründet liegt und auf Betrug hinausläuft. In solchen Überlegungen offenbart sich das auch im trivialsten Stück Moorcock´scher Prosa manifeste Reflexionsniveau, das bisweilen Anlass zu grotesken Überschätzungen zu geben vermag. Im Rahmen eines Fantasyzyklus´ mit allen seinen Redundanzen kann eine solche Stelle als Kulminationspunkt fungieren, in einem qualvoll um Anspruch bemühten Elaborat wie der Romanversion von „Behold the man“ geht sie indes neben viel Belanglosem unter und entfaltet keinerlei Strahlkraft.
Der Piperverlag hat mit dieser Neuübersetzung eines vermeintlichen Hauptwerks die erneute Reanimation einer literarhistorisch zwar bedeutsamen und handwerklich geschickten, aber stilistisch anspruchslosen – ist es ein Fortschritt, wenn die Gedichte von Karls Vater nun nicht mehr überladen wirken, sondern hochtrabend klingen? – und gedanklich im Diffusen verebbenden literarischen Durchschnittsware bewerkstelligt. Zu unterhalten vermag diese Taschenbuchausgabe aber rundum – insbesondere aufgrund des Nachworts und des Klappentextes. Während in der alten Ausgabe des Heyne – Verlags in der „Bibliothek der Science Fiction Literatur“ Florian Marzin, der später als „Henker von Rastatt“ Karriere machte und mittlerweile auch als „Henker von Bergisch Gladbach“ für Furore sorgte, in seinem Nachwort die religionskritischen Implikationen des Romans systematisch herausarbeitete, beschränkt sich Carsten Polzin in dem seinen auf das Nachbeten wirkungsvoller Phrasen und munteres Schwadronieren. Man sieht sich hier einem Dokument der Ratlosigkeit gegenüber.
Dass Moorcock Besseres geschrieben habe, ist Polzins tiefste Erkenntnis, von welcher noch Generationen von Nachwortschreibern zu zehren vermögen. Trotz mancher nicht näher benannter Schwächen könne das Werk niemanden kalt lassen und wirke noch immer verstörend, kontrovers und provokant. Worin sich diese Wirkung in der Zeit seines Erscheinens gezeigt habe, verschweigt uns Polzin leider – die ältere Sekundärliteratur schweigt sich hierzu zwar auch aus, hat aber im Gegenzug niemals derartiges behauptet. Polzin ergeht sich des weiteren in grundsätzlichen Überlegungen zur Problematik der Zeitreisegeschichte, nur um dann zu dem Schluss zu gelangen, dass es Moorcock gar nicht darum gegangen sei, logische Vexierspiele in der Tradition von Robert A. Heinleins „Door into summer“, „By his bootstraps“ und „All you zombies“ zu konstruieren. Gekrönt werden seine Ausführungen durch Reflexionen zur Frage, wie es sein könne, dass Glogauer im vorliegenden Band gekreuzigt werde, in dem Episodenroman „Breakfast in the Ruins“ aber wieder als Hauptfigur agieren könne, und ob die ganze Geschichte nur auf einer Einbildung beruhe. Über die anderen, „besseren“ Bücher Moorcocks erfährt man lediglich, dass viele von ihnen den „Status zeitloser Meisterwerke“ inne hätten – zumindest bezüglich der Elricromane präzisieren sich die Angaben dahingehend, dass es sich hierbei um moderne Fantasy-Klassiker handle, deren „schöpferische Kraft bis heute unerreicht“ sei.
Das Sahnehäubchen hält indes zweifelsohne der Klappentext bereit. Hier erfährt man nämlich, neben den bereits zitierten Geistesblitzen, welche Art von Lesern sich durch dieses Buch besonders angesprochen fühlen sollte: „Ein Muss für alle Fans von „Das Jesus-Video“. Angesichts der Tatsache, dass es im deutschen Sprachraum ausserhalb von Spezialperiodika kaum eine fundierte feuilletonistische Auseinandersetzung mit der Science Fiction gab und man diese Fehlentwicklung ab den 1990er Jahren bedauerlicherweise statt mit Besonnenheit lieber mit viel Hurra zu korrigieren bestrebt war, ist die ahistorische Verquickung zweier in ihren Intentionen höchst unterschiedlicher Romane nicht weiter verwunderlich, aber nicht weniger grotesk. Man stelle sich eine Neuausgabe der „Buddenbrooks“ mit dem Vermerk „Für alle Freunde von Tellkamps ´Turm´“ oder eine Neuausgabe der „Strahlungen“ mit dem Appetizer „Das Geschenk für alle Fans von Littells ´Wohlmeinenden´“ vor. Womit man wohl in 40 Jahren einer zukünftigen Leserschaft Eschbach schmackhaft machen wird?
Seit den 1960er Jahren liegt ein Grossteil des Moorcock´schen Schaffens auf Deutsch vor, und bis Mitte der 1980er Jahre konnte man seine literarische Entwicklung praktisch in ihrer vollen Bandbreite auch hierzulande studieren. Wie bei so vielen Fantasy- und SF-Autoren brach jedoch auch seine deutschsprachige Rezeption irgendwann ab oder verengte sich auf einige wenige kommerziell ertragreiche Dauerbrenner. Die von Dietmar Dath gerühmten Colonel Pyat-Romane kamen über eine halbwegs erfolgreiche Übersetzung des ersten Bandes nicht hinaus, die Cornelius-Chroniken und die Legenden vom Ende der Zeit konnten sich nicht halten, Dorian, Corum und Elric behaupteten sich hingegen problemlos, andere Inkarnationen des „Ewigen Helden“ wie der Marskrieger Michael Kane, Captain Oswald Bastables oder John Daker alias Erekose irrlichterten hin und wieder auf. Das literarische Werk Moorcocks ab den 1990er Jahren kennt man in Deutschland fast nur in Form neuerer Elric-Fortsetzungen oder Ergänzungen von Handlungslücken der bereits bekannten Abenteuer. Der Moorcock von „Mother London“, in dem manche Kritiker gar einen zweiten Joyce zu sehen vermeinten, blieb uns bislang Fama.
Gänzlich untergegangen sind bei uns seine Einzelromane und Erzählungen – wer die künstlerisch radikalen und vielleicht auch weitgehend geglückten, zumindest geglückteren Werke als „Behold the man“ kennen lernen möchte, ist auf das moderne Antiquariat angewiesen. Erinnert sei an „Der Schwarze Korridor“, eine psychedelische Space Opera, die womöglich Moorcocks gewagtestes „New Wave“ – Experiment repräsentiert und Anfang der 1970er Jahre in der wegen ihrer qualitativen Achterbahnfahrten berüchtigten Reihe „Fischer Orbit“ erschienen ist, an „Die Goldene Barke“ (Goldmann), Moorcocks ersten Fantasy-Roman überhaupt, eine wilde Mischung aus Burroughs (sowohl Edgar Rice, als auch William Seward), Mervyn Peake, Kafka und Brecht, an die Erzählungsbände „Der Zeitbewohner“ (Luchterhand) und „Der Eroberer“ (Ullstein; darin u. a. auch die Novellenfassung von „Behold the man“). Solche Sachen „gehen“ heutzutage nicht mehr, sie „ziehen“ nicht. „Gehen“ und „Ziehen“ tut „Behold the man“, ein letztlich banaler Roman mit berührenden Momenten, der dank seiner Thematik vom Nimbus des Provokanten und Progressiven umwabert ist und dem somit stets ein gewisses Grundinteresse garantiert sein dürfte, der sich jedoch auf lange Sicht vor allem als hemmend auf eine umfassende und unvoreingenommene neue deutschsprachige Moorcockrezeption auswirken dürfte.

Michael Moorcock:
I.N.R.I. oder die Reise mit der Zeitmaschine
Aus dem Englischen übertragen von Jürgen Langowski
Mit einem Nachwort von Carsten Polzin
Piper Verlag, München / Zürich 2007
190 Seiten, 7,95 EUR
ISBN: 978-3-492-28618-3



Die Crux mit dem Hauptwerk: Grundsätzliches über Michael Moorcock 2/ von Alexander Martin Pfleger by Martin Compart
28. Oktober 2010, 8:07 am
Filed under: Bücher, Michael Moorcock, Politik & Geschichte, Porträt, Science Fiction | Schlagwörter:

Grundsätzliches über Michael Moorcock – anlässlich einer Neuübersetzung seiner „Imitatio Christi“

Problematisch erschien jedoch den meisten Kritikern die formale Beliebigkeit dieser Geschichten. Moorcock legte hier keine exemplarische, wohldurchdachte und abgewogen auskomponierte Version seiner Fantasy-Konzepte vor – eine solche durchaus vollbracht zu haben, attestierte man ihm später vereinzelt angesichts seiner Spenser-Travestie „Gloriana“ – , sondern sich in ihrer thematischen Struktur häufig ähnelnde, je nach Belieben um einzelne Episoden zu straffende oder auszudehnende Romanzyklen, denen nicht allein die letzte künstlerische Entschiedenheit fehlte, sondern die zudem stets Gefahr liefen, in ihrem Bestreben, die Stereotypen der „Sword and Sorcery“ und die Rezeptionshaltung der Mehrzahl ihrer Leser subtil zu unterlaufen, zu subtil zu geraten und in ihrem subversiven Anspruch verkannt zu werden, da die entsprechenden Anspielungen häufig zu raffiniert verborgen waren und schlichtweg übersehen und folglich die entsprechenden Bücher als typische Produkte dessen wahrgenommen wurden, was sie produktiv zu überwinden beanspruchten.
Immerhin war es ihm auf diese Weise möglich, den stets zu verebben drohenden Kassenpegel von „New Worlds“ halbwegs im schwarzen Bereich und somit ein Forum für unkonventionelle und vorwiegend jüngere SF-Autoren am Leben zu halten – neben dem schon erwähnten Norman Spinrad vor allem James Graham Ballard, Brian W. Aldiss, David I. Masson, Langdon Jones, M. John Harrison, Gene Wolfe, Roger Zelazny, Thomas M. Disch, John T. Sladek, Michael Butterworth, Pamela Zoline und natürlich sich selbst.
Die Einschätzung von Moorcocks dezidiert anspruchsvolleren Werken aus jener Zeit ist ebenfalls keineswegs einhellig positiv. Gerade sie schienen vielfach nur zu bestätigen, dass der Autor Moorcock in offensichtlich experimentellen, sozialkritischen und Genrekonventionen kompromisslos überrennenden Texten nur selten die Ansprüche des Herausgebers und Kritikers Moorcock einigermassen adäquat umzusetzen wusste. Abgesehen davon blieben die meisten dieser Bücher recht unpopulär, mit Ausnahme der Chroniken um Jerry Cornelius, die rasch Kultstatus erlangten und Elric und Corum zeitweise durchaus Konkurrenz zu machen verstanden – und seines ursprünglich als Erzählung publizierten und später auf die Länge eines kurzen Romans erweiterten Textes „Behold the man“, im deutschen Sprachraum unter dem Titel „I.N.R.I. oder die Reise mit der Zeitmaschine“ bekannt.
Dieses ein weitverbreitetes feuilletonistisches Bedürfnis nach einem chef d´oeuvre offensichtlich befriedigende Opus repräsentiert weltweit bei vielen Lesern und Kritikern seit bald 40 Jahren den „anspruchsvollen“ und zugleich bei der Verwirklichung seiner künstlerischen Zielsetzungen auch tatsächlich erfolgreichen Michael Moorcock. Es brachte ihm in beiden Fassungen einen Hugo Gernsback Award und einen Nebula Award ein. Brian W. Aldiss rühmte es in seinem „Billion Year Spree“ als „das stärkste Argument“ gegen die Ansicht, Moorcock habe kläglich bei der Umsetzung dessen versagt, was er von der Kanzel von „New Worlds“ herab verkündete, und auch der gewiss von sämtlichen Musen liebkoste Verfasser des Deckblatttextes der bei Piper erschienenen Neuübersetzung versichert, man habe es hier mit einem visionären Klassiker zu tun, dem bedeutendsten Zeitreiseroman seit H. G. Wells „Zeitmaschine“ und einem der wichtigsten phantastischen Werke des 20. Jahrhunderts.
Erzählt wird die Geschichte Karl Glogauers, Sohn eines aus Hitlerdeutschland nach England emigrierten jüdischen Elternpaares, der nach der Trennung seiner Eltern sowohl unter seiner dominanten Mutter als auch den Attacken seiner „native born“ britischen Altersgenossen zu leiden hat, sich als Student in zahllose erotische Abenteuer stürzt und den Sinn des Lebens sucht, auf dessen Spur er zumindest in den Schriften C. G. Jungs stösst. Glogauer, von dem man übrigens in anderen Büchern erfährt, dass er eine weitere Inkarnation des Ewigen Helden darstellt, nutzt nach dem Bruch mit seiner langjährigen Freundin Monica die Chance, das Geheimnis Jesu Christi zu ergründen: Als Jude in christlicher Umwelt schon seit Kindertagen von der Gestalt Jesu fasziniert, bietet er sich einem verkrachten Wissenschaftler, der ihm zuvor auch eine homosexuelle Beziehung offerierte, die Glogauer allerdings ablehnte, als lebendes Versuchskaninchen für dessen Zeitexperimente an und lässt sich mit einer Zeitmaschine ins Jahr 29 nach Christus versetzen.
Nachdem das Vehikel bei der Ankunft unwiderruflich in die Brüche gegangen ist, sucht Karl den Ort Nazareth auf, wo er tatsächlich den Zimmermann Joseph antrifft, zu dessen zurückgebliebenem Sohn Jesus schon öfters Fremde pilgerten, die in seinem Stammeln orakelhafte Aussprüche und Offenbarungen göttlicher Weisheit vermuteten. Dieser Jesus, von dessen Mutter, der ehrgeizigen und alles andere als jungfräulichen Maria, Glogauer anlässlich eines Beischlafs erfährt, dass er die Frucht eines Seitensprunges ist, kann unmöglich der Messias sein. Gab es überhaupt keinen Jesus von Nazareth, wie ihn uns das Neue Testament überliefert, oder ist Glogauer in einem Paralleluniversum gelandet, dessen Geschichte hier einen anderen Verlauf zu nehmen beginnt als die Geschichte unserer Welt?

Desillusioniert zieht der Zeitreisende durch die Lande, verblüfft alle Leute mit seinen Kenntnissen der heiligen Schriften und gerät immer mehr selbst in die Rolle des Jesus von Nazareth hinein. Systematisch sucht er nach den zwölf Aposteln und versucht, der Geschichte genau den aus den Evangelien bekannten Verlauf zu geben. Sein charismatisches Auftreten fesselt die Massen bei seinen Predigten und hilft ihm, im heutigen Sprachgebrauch an psychosomatischen Beschwerden leidende Menschen zu heilen. Den Verrat des Judas und seine Festnahme leitet er selbst in die Wege, und noch am Kreuze hängend, vermag seine Ausstrahlung zu überzeugen: Sein Flehen, ihn doch bitte wieder herunterzuholen, gerät in den Ohren der Anwesenden zu einer Anrufung des Elias oder zur Bitte an seinen himmlischen Vater, den Menschen zu vergeben, da diese nicht wüssten, was sie täten.

Eine literarische Revolution oder gar ein erzählerisches Meisterwerk hat Moorcock mit dieser Geschichte nicht vorgelegt, wohl aber ein Stück Literatur, dem man auf weite Strecken durchaus Solidität zu bescheinigen vermag, das indes an anderer Stelle den Eindruck unfreiwilliger Schaumschlägerei erweckt. Die besondere Stärke der Romanfassung zeigt sich vor allem in Moorcocks Handhabung einer durchaus komplexen Erzählstruktur: Der Roman erzählt zum einen linear die Ereignisse von Glogauers Ankunft in der Vergangenheit an bis zur Kreuzigung, springt dabei aber immer wieder zur – gleichfalls weitgehend linearen – Schilderung seines Lebens im 20. Jahrhundert um, was in diesem Fall unaufgesetzt und gekonnt wirkt. In jeder Hinsicht aufgesetzt und gewollt tiefsinnig wirken hingegen die zahllosen und vielleicht auch wahllos eingesetzen inneren Monologe Glogauers sowie die fundiert klingenden, im Gesamtzusammenhang aber nur mit Worten klingelnden Gespräche und Reflexionen über Religion, Philosophie, Psychologie und deren Kulmination im Werke Carl Gustav Jungs, gewollt provokant und folglich auf geradezu lächerliche Weise altbacken wiederum die zahlreichen sexuellen Details, die Moorcock in der Erzählungsfassung zu seinem und unserem Glück ausgespart hatte.

Die Nicht-SF-Handlung im 20. Jahrhundert, subtrahiert man Sex und (Pseudo-) Tiefsinn, birgt ansonsten die meisten Qualitäten des Werks. Aufgrund ihrer Krassheit überzeugen die Schilderungen der Demütigungen Karls durch Spielkameraden, Mitschüler und Erwachsene, seines Leidens unter mangelnder Mutterliebe und seiner Trauer um den verlorenen Vater – liegt die Eindringlichkeit dieser „naturalistischen“ Passagen zwar überwiegend im rein Thematischen begründet, so dürfte doch kaum zu bestreiten sein, dass solcherlei Naturalismus sich auf die Dauer als beständiger bestätigen dürfte denn sämtliche Exkurse über Archetypen oder Satinhöschen.

FORTSETZUNG FOLGT



Die Crux mit dem Hauptwerk: Grundsätzliches über Michael Moorcock von Alexander Martin Pfleger by Martin Compart
26. Oktober 2010, 10:37 am
Filed under: Bücher, Michael Moorcock, Politik & Geschichte, Porträt, Science Fiction | Schlagwörter: , ,

Grundsätzliches über Michael Moorcock – anlässlich einer Neuübersetzung seiner „Imitatio Christi“

Dietmar Dath bezeichnete Michael Moorcock im Sommer 1994 anlässlich der Ankündigung des Erscheinens des vierten und letzten Colonel Pyat-Romans als den „Schriftsteller des Urbanen“, von dessen 80 Büchern zwar 60 Schrott seien, „aber noch im Schlechtesten findet sich ein Wort zum Tage. Selbst wenn er will, kann er nicht miserabel schreiben, denn so miserabel er dann häufig wirklich schreibt: er denkt zu heftig dabei. Moorcock, einer von den Allergrößten in diesem Jahrhundert“. Wenngleich diese Charakteristik nicht frei von typisch Dath’schen Übertreibungen ist, berührt sie doch den Kern der Problematik, mit welcher sich konfrontiert sieht, wer den Autor Moorcock im Wortsinne beim Worte zu nehmen sucht.
Wer sich ernsthaft mit der literarhistorischen Entwicklung der Science Fiction und der Fantasy auseinandersetzen möchte, wird an der Gestalt des 1939 geborenen Engländers Michael Moorcock in der Tat nicht vorbeikommen können. Moorcock, der bereits mit drei Jahren lesen konnte, als Siebzehnjähriger Redakteur einer Comicheftreihe war, jahrelang als Bluessänger und Gitarrist Europa und Nordamerika bereiste und nebenbei eine schier uferlose schriftstellerische Aktivität entwickelte und in den verschiedensten Sparten reüssierte – von der Science Fiction bis zum Spionage Thriller und vom historischen Roman bis zur Fantasy – ist seit Jahrzehnten eine der einflussreichsten wie umstrittensten Persönlichkeiten der modernen phantastischen Literatur.
Im Jahr 1964 übernahm Moorcock von Ted Carnell die Herausgeberschaft des bis dato eher biederen britischen SF-Magazins „New Worlds“ und löste schon bald eine kleine literarische Revolution aus, da sich unter seiner Ägide „New Worlds“ zum Zentralorgan der angloamerikanischen „New Wave“ entwickelte, deren Vertreter die Science Fiction für experimentelle Schreibweisen einerseits und stärkeres politisches Engagement andererseits zu öffnen bestrebt waren. In ihrer zum Teil harschen Ablehnung eines Grossteils der marktbeherrschenden traditionellen Science Fiction, die immer noch vorwiegend durch die Person John W. Campbell jrs. geprägt war, der als Herausgeber des legendären Magazins „Astounding“ in den vierziger Jahren das „Golden Age“ der primär naturwissenschaftlich orientierten US-amerikanischen Science Fiction eingeläutet hatte, dem man in späteren Jahren aber immer häufiger vorwarf, in reaktionären Positionen erstarrt zu sein, brachten Moorcock und seine Mitstreiter viele Leser gegen sich auf, weshalb „New Worlds“, trotz seiner Bekanntheit, die es auch dem Protest verschiedener konservativer Politiker verdankte, deren Ablehnung sich nicht nur an provokanten Inhalten wie etwa Norman Spinrads Wahlkampfthriller „Bug Jack Barron“, sondern auch an der zeitweiligen Subventionierung des Magazins durch den „Arts Council“ entzündete, immer wieder am Abgrund des Bankrotts balancieren sollte, bis es schliesslich 1970 eingestellt wurde.

Die hitzigen Debatten der Vergangenheit sind längst Literaturgeschichte; Klassiker brachten, wie Alfred Elton van Vogt einmal formulierte, sowohl die Grossen Denker des „Golden Age“ als auch die Großen Herzen der „New Wave“ hervor, wie es auch auf beiden Seiten genügend Erzeugnisse gab, die der, teils berechtigten, teils ungerechtfertigten, Vergessenheit anheimfielen. Unter den Autoren der „New Wave“ nahm Michael Moorcock stets eine Sonderstellung ein. Seine Bedeutung für einen Wandel des literarischen Bewusstseins innerhalb der Science Fiction ist gewiss unbestritten – allerdings in erster Linie als Anreger und Herausgeber. Moorcocks eigenes literarisches Werk, insbesondere das der 60er und 70er Jahre, wurde trotz oder gerade aufgrund seiner Vielseitigkeit und Popularität von der Kritik überwiegend skeptisch aufgenommen.

Da Moorcock bereits Mitte der 60er Jahre erkannte, dass sein kompromissloser Kurs finanzielle Risiken barg, sicherte er seine editorischen Tätigkeiten durch Einnahmen aus seiner schriftstellerischen Arbeit ab. Um die zunächst wenig Gewinn versprechenden Experimente der „New Wave“ zu finanzieren, musste Geld durch Texte hereinkommen, die ein Massenpublikum zu begeistern wussten, dabei jedoch keinen Verrat an Moorcocks herausgeberischen Idealen darstellten. Insbesondere mit seinen Fantasy-Zyklen um den „Ewigen Helden“, eine Art Sinnbild des Menschen im Spannungsfeld der abstrakten Prinzipien von Ordnung und Chaos, welche beide in ihrer Totalität als gleichermassen lebens- wie menschenfeindlich sich erwiesen und zwischen denen sich der Held in zahlreichen Inkarnationen – am bekanntesten sind hiervon sicherlich die Romane um Dorian Falkenmond, den Herzog von Köln, um Prinz Corum Jhaelen Irsei von den Vadagh und vor allem um den Albino Elric von Melnibone mit seinem seelentrinkenden Schwert Sturmbringer – in den verschiedensten Welten zu behaupten sucht, verhalfen Moorcock zu einem enormen ökonomischen Erfolg und etablierten ihn auch rasch als Klassiker der modernen, nachtolkien´schen Fantasy. Gleichwohl sollte sich insbesondere an ihnen die Kritik am Autor Moorcock entzünden.
Weitgehend unbestritten war, dass Moorcock sich in diesen Romanen auf durchweg redliche Weise bemühte, die Stereotypen der trivialeren Spielarten der Heroic Fantasy, der sogenannten „Sword and Sorcery“, als Chiffren für eine tragische Weltsicht zu verwenden, die der Umbruchsituation der 60er und 70er Jahren angemessen erschien. Anders als viele Repräsentanten des damals erst allmählich in die Gänge kommenden Fantasybooms, deren Helden in missverstandener Nachfolge Robert Ervin Howards und dessen Conan allzu häufig zu reinen Totschlägern mutierten, erwiesen sich die Inkarnationen von Moorcocks „Ewigem Helden“ überwiegend als Anti-Helden, „mehr der Kithara als dem Schwert ergeben“, wie Pylades seinen Freund Orest in Gerhart Hauptmanns „Elektra“ der Titelfigur gegenüber charakterisiert. Seine Figuren geraten meist erst durch Schockerfahrungen mit dem Phänomen der Gewalt in Berührung und können oft nur unter Drogeneinfluss oder im Banne magischer Schwerter zu mehr oder weniger eigenständigen Kämpfern werden, die sich aber letztlich in der Regel früher oder später selbst zugrunderichten, da ihre Siege hauptsächlich Pyrrhussiege sind, oder die sterben müssen, wenn die Welt ihrer nicht mehr bedarf.

FORTSETZUNG FOLGT