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Zwei rivalisierende Familien kämpfen seit Generationen um die Herrschaft über ein gottverlassenes Nest im Massif Central. Die Courbiers und die Messenets führen ihre Provinzimperien mit harter Hand und unter rücksichtsloser Ausbeutung von Mensch und Natur. Rémi Parrot, der seit seiner Jugend entstellte Revierjäger, kämpft als einsamer Cowboy gegen die verkrusteten Clanstrukturen und um die Liebe der schönen Michèle Messenet. Als er einem Umweltskandal auf der Spur ist, beginnt eine mörderische Treibjagd durch düstere Wälder und unterirdische Tunnelsysteme. Fein gesponnener, archaischer Thriller um Schuld und Sühne vor der grandiosen Kulisse einer einstmals erhabenen Landschaft.
Ein Roman von Antonin Varenne ist immer ein unberechenbares Ereignis. Er vermeidet Wiederholungen und geht mit jedem Buch andere Wege. Nur der düstere Kern ist seinen bewunderungswürdigen Werken gemein und weist ihn als einen der eindrucksvollsten Noir-Autoren der Gegenwart aus. Bei uns liegen drei von sechs Romanen vor. Der Autor hat sich spätestens seit FAKIRE als einer der der wichtigsten französischen Noir-Autoren etabliert. Stilistisch können ihm nur wenige das Wasser reichen. Man lese nur ab Seite 2 des Romans die Beschreibung der „Provinzkapitale“ R („Der Krebs dieser Stadt ist die Erinnerung.“). Auf ein paar Seiten schildert er den Verfall einer früher zumindest ökonomisch funktionierenden Stadt in der Beschleunigung des Spätkapitalismus. Man müsste nur wenige Sätze streichen und könnte diesen Niedergangstango sogar auf Städte des Ruhrgebietes übertragen. Die perspektivische Ausrichtung der Nachkriegsgenerationen unterscheidet sich offenbar nur gering zwischen der französischen Provinz und dem Pott.
https://www.amazon.de/Die-Treibjagd-Roman-Antonin-Varenne/dp/332810156
Nach den SIEBEN LEBEN DES ARTHUR BOWMAN (https://martincompart.wordpress.com/category/antonin-varenne/), einem historischen Noir-Roman, der in den düsteren Gegenden des Britischen Empires und den USA spielte, legte er 2015 den jetzt bei uns erschienenen „Regional“-Kriminalroman DIE TREIBJAGD (BATTUES) vor. Wie immer gelingen Varenne starke Charaktere und scharf gezeichnete Nebenfiguren. In die geschändete Natur treibt er seine beiden Protagonisten in ein Beziehungsgeflecht als hätte Dante Romeo und Julia als Noir-Geschichte konzipiert. Oder wie es Hanspeter Eggenberger in seiner Rezension in DER BUND ausdrückt: „Dass die Beziehung zwischen Rémi und Michèle auch noch eine herzergreifende Liebesgeschichte liefert, schadet dem Roman in keiner Weise. Die Protagonisten sind vielschichtig, bedienen keine simplen Klischees.“
Bereits auf den ersten
Varenne springt mit den Kapiteln durch unterschiedliche nahe Zeitebenen, was anfangs leicht verwirrt aber dann der Intensität der Lektüre eine zusätzliche Dimension eröffnet.
Der französische Noir-Roman liebt es, sich mit Provinzlern niedriger Gesinnung zu befassen.
Denn der französische Regional-Krimi ist ein Provinz-Krimi und selten provinziell. Im Gegensatz zum deutschen Äquivalent ist er meist tiefschwarz und böse, nicht harmlos anheimelnd („Man sollte immer dabei schmunzeln können“, so ein deutscher Lektor). Er beschreibt seit Jahrzehnten gnadenlos, wo die zahlreichen französischen Faschisten ihren Nährboden haben. Die oft archaisch anmutenden Clan-Kriege, die auch vom französischen Film gerne thematisiert werden (etwa DIE AFFÄRE DOMINICI), dienen gerne als Belege für den Verfall und Niedergang gallischer Kultur. Während der deutsche Regio-Krimi das Schöne am provinziellen Dasein feiert („gute Küche, guter Wein, schöne Landschaft etc.“) und mit oberflächlicher Kritik an der Hülle kratzt, zeigt der französische Noir-Roman die strukturelle Verrottung der durch die zentralstaatlich bedingten korrupten Eliten abgehängten Landbevölkerung, die sich nur durch extreme Agitation Gehör verschaffen kann.
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Es gibt wohl kein ausgelutschteres kriminalliterarisches Subgenre als die Serienkiller-Geschichte. Nach dem kommerziellen Erfolg von Thomas Harris (und dem literarischen einiger anderer Autoren) brach Ende der 1980er Jahre eine anhaltende Flut an unerhörten Dämlichkeiten über den unschuldigen Leser zusammen, die in der Literaturgeschichte ihres gleichen sucht und bis heute ihr debiles Publikum findet. Manchmal weiß man nicht, wer schlimmer ist: Die realen Soziopathen, die ihren Beitrag gegen die Überbevölkerung leisten, oder die geradezu schwachsinnigen Serienkillerschreiber, die ihren Realitätsverlust und ihre Phantasielosigkeit durch Geldgier ausgleichen.
Um so beeindruckender, wenn es alle paar Jahre mal wieder einen Autor gibt, dem es gelingt, dieses Thema neu, überzeugend und originell zu gestalten.
Genau das gelingt Antonin Varenne, dem neuen Star der französischen Noir-Kultur, mit DIE SIEBEN LEBEN DES ARTHUR BOWMAN (C.Bertelsmann), seinem fünften Roman, in dem verschiedene Genres auf nie gekannte Weise zusammen gepackt sind.
Die schlichte Rezeption zu FAKIRE (Ullstein, die mal wieder nicht durchgehalten haben), dem neben DIE SIEBEN LEBEN DES ARTHUR BOWMAN bisher einzigen ins Deutsche übersetzten Romans von Antonin Varenne, verlangt danach, Jonathan Swift zu zitieren:
„Wenn ein wirklich großer Geist in der Welt erscheint, kann man ihn untrüglich daran erkennen, dass sich alle Dummköpfe gegen ihn verbünden.“
Der geringe Erfolg von FAKIRE bei uns, was sicherlich der Grund für Ullstein war, diesen Autor nicht weiter zu veröffentlichen, verdeutlicht einmal mehr die kulturelle Verspätung teutonischer Buchkunden, die Dante Alighieri für Heidi Klums Couturier halten und die Bestsellerlisten zu literarischen Müllkippen gestalten.
Sogar die Angelsachsen haben seine Bedeutung für die zeitgenössische Noir-Literatur erkannt und übersetzen sein Werk, das die Reklame der Dichter nicht mehr nötig hat. In seinen Romane kommt außer stilistischen Strahlen nie Licht rein, und die Leute sehen fast alle fürchterlich aus. Hier fährt der ganze Planet endgültig zur Hölle – und man möchte ihm bei der Abreise noch helfen.
Varennes Figuren sind höchst aktuell: Es sind die Kaputten, die sich im Dienste der Mächtigen oder ihrer Institutionen aufgebraucht haben und als Wracks weggeworfen werden. Es sind wütende oder ausgebrannte , sich betäubende, unkontrollierbare menschliche Hülsen, die asozial vor sich hin vegetieren, bis sie mehr oder weniger in eine Aufgabe hinein stolpern, die ihrer überflüssigen Existenz vielleicht Sinn verleiht. Sie haben eine miese Vergangenheit, eine gruselige Gegenwart und eine fürchterliche Zukunft (wenn überhaupt). Charaktere von nächtlicher Schwermut und finsterer Niedergeschlagenheit, die den banalen Leser zutiefst verstören.
Arthur Bowman ist so eine ausgebrannte, fast seelenlose Hülle. Er hatte sich einst in den Dienst der East-India-Company gestellt, da nichts anderes für ihn möglich war. Durch Todesverachtung und Brutalität hat er sich bis zum Sergeant hoch gedient und für die Aktieninhaber gemordet, geplündert und erobert. Bis zum Sepoy-Aufstand (als sie von der Krone übernommen wurde) war die britische Ostindien-Kompanie der größte Konzern und wichtigste Aktiengesellschaft der Welt. Bownan ist bewusst, „dass die weit ausgestreckten Arme der stolzen Kompanie schmutzige Hände wie die seinen gebraucht hatten, um ihre Reichtümer anzuhäufen“. Bowman ist ein wirklich kaputter Noir-Held, der vielleicht Empathie auslöst, aber keine Sympathie. Eben eine Figur, die kaum ein anderer Autor als Varenne so überzeugend lebendig werden lassen kann. Dagegen springen David Goodis Loser wie Gene Kelly singend durch den Regen.
Der Roman beginnt 1852 in Burma. Sergeant Bowman soll zu Beginn des 2.Birma-Feldzugs eine Geheimmission durchführen, da die Burmesen egoistisch ihre Reichtümer nicht John Company überlassen wollen. Die Mission, die ihn in den feuchten, beklemmenden Dschungel Hinterindiens führt, geht gründlich schief und Bowman und seine Männer fallen in die Hände der Feinde. Ein Jahr Gefangenschaft und Folter brechen sogar den harten Sergeant. Varennes Hinterindien ist deprimierender als das von Joseph Conrad; eine Hölle, die dem Westler Albträume gebiert, „wegen all dem, was er gesehen hat. Wegen dem, was man ihm angetan hat, oder auch wegen dem, was er selber getan hat“. Es ist völlig egal, ob man die grobe Struktur der Handlung durch den Klappentext erfährt oder nicht – Varennes beängstigende literarische Fähigkeiten sind so stark, dass man die Handlung voller Spannung verfolgt. Für ihn gilt ein Satz, den Andé Gide einmal über Dashiell Hammett gesagt hat: „Er schreibt Szenen, die niemals zuvor geschrieben wurden.“ Außerdem kann er die höchst unterschiedlichen Schauplätze atmosphärisch atmen lassen.
Sechs Jahre später ist das Wrack Bowman in London gelandet, wo er im Gnadenbrot der Company seine elende Existenz als Polizist der Docklands fristet. Von Opium und Alkohol zerstört, torkelt er durch London während einer Cholera-Epidemie. Diese Beschreibungen des vertrocknend stinkenden London gehören zu den beklemmenden Höhepunkten des Romans, die man nicht mehr aus dem Hirn bekommt.
Als endlich der Regen kommt um die Stadt sintflutartig rein zu waschen, findet Bowman in einem Abwasserkanal eine Leiche. Der Tote ist furchtbar verstümmelt auf eine Weise, die Bowman unter der Folter in Burma erfahren hat. Der Killer kann also nur einer der zehn Überlebenden sein, der mit ihm die burmesische Gefangenschaft überlebt hat. Um die eigenen Dämonen zu bezwingen, beginnt er die Fahndung nach ihm, die Bowman bis in den Wilden Westen führt, unter Goldsucher, Sklaven und Indianer. Immer auf der Spur weiterer bestialisch zugerichteter Leichen. Bowmans Quest ist nicht nur die Verfolgung des Mörders, sondern auch eine Odyssee des Überlebens und ein episches historisch-soziologisches Fresko von Wucht und innerer Tiefe. Ganz nebenbei zeigt der Roman, was Folter aus den Menschen macht, wie sie für den Rest ihres Lebens als gequälte Kreaturen kaum noch ihre Persönlichkeit bewahren können. Varenne lässt keinen Zweifel daran, dass Folter nur einen Zweck hat: Den kranken Sadismus kranker Menschen zu befriedigen. Auch wenn lächerliche Vereine wie die CIA als Schutzbehauptungen vorschieben, es ginge ihnen um das Erlangen von Informationen. Was sollen das wohl für Informationen sein, wenn man dafür Menschen über Jahre foltert?
Varenne wurde 1973 geboren. Seine Eltern führten ein rastloses Leben und zogen mit ihm durch Frankreich; einige Zeit lebten sie auf einem Segelboot. Er studierte Philosophie in Nanterre und schrieb seine Abschlussdissertation über Machiavelli. Danach führten ihn Jobs als Gebäudekletterer oder Zimmermann um die Welt: Indonesien, Island, Mexiko, schließlich die USA, wo er seine Frau kennen lernte. Er legte verdientes Geld zurück und schrieb dort seinen ersten Roman: LE FRUIT DE VOS ENTRAILLES, der 2006 veröffentlicht wurde. Daraufhin kehrte er mit seiner Frau, Kind und seinem mexikanischen Hund nach Frankreich zurück und ließ sich im Département Creuse nieder. 2008 folgte der Roman LE GATEAU MEXICAIN. Der große Durchbruch kam dann 2009 mit FAKIRS, der mit zwei Preisen für Kriminalliteratur ausgezeichnet wurde und ihn als den wahrscheinlich originellsten französischen Noir-Autor seit Manchette etablierten. Dies bestätigte 2011 sein Noir-Roman LE MUR, LE KABYLE ET LE MARIN. Ein Meisterwerk, das die Schrecken des Algerienkrieges mit dem Horror der Gegenwart verknüpft. Weitere Literaturpreise. Nach diesen düsteren Büchern wollte er zum Spaß einen Western schreiben. Heraus kam das hier vorliegende Buch, das ihm nicht minder „noir“ geraten ist, auch wenn er verschiedene Genre – historischer Abenteuerroman, Detektivroman, Sittenbild, Thriller und Western – zu etwas völlig eigenständigen verbunden hat. Die Filmrechte an FAKIR sind inzwischen verkauft und man hat ihm angeboten, eine Fernsehserie zu entwickeln. Aber das interessiert Varenne nicht, der auch ein höchst anspruchsvoller Leser ist. Einen der letzten Romane von Ellroy hat er nach halber Lektüre wütend an die Wand geworfen. Für mich gut nachvollziehbar: Der Unterschied zwischen einem Bluffer und einem Nihilisten.
P.S.: Wer sich vielleicht an die Bücher von Richard Laymon und Walter Satterthwait über die Jagd auf Jack the Ripper durch den Wilden Westen erinnert fühlt, sei beruhigt: Varenne ist eine ganz andere Klasse (wobei ihre beiden Romanen durchaus Spaß machen)!