Martin Compart


ENDLICH IN DEUTSCH: MEGAN ABBOTT by Martin Compart
16. Februar 2023, 12:27 pm
Filed under: Noir, Pulp Master/Frank Nowatzki | Schlagwörter: , ,

Dara hat ihr Leben im Schatten ihrer glamourösen Mutter verbracht. Zusammen mit ihrer Schwester Marie und ihrem Ehemann Charlie – dem ehemaligen Starschüler ihrer Mutter – leitet Dara jetzt die Ballettschule, die ihre Mutter einst gründete. So kultiviert ihre geschlossene Welt auch sein mag, ist sie doch auch geprägt von rücksichtslosem Ehrgeiz und einem intensiven Wettbewerb, den die Schwestern zwischen ihren Elevinnen und Eleven befördern. Als nach einem Brand ein Bauunternehmer in ihr Leben tritt, um die Sanierung vorzunehmen, überwindet er die sorgsam bewachten Grenzen dieser Welt und setzt eine Kettenreaktion aus Verlangen, Verführung und Verrat in Gang.

Mit allen Mitteln des Schauerromans beschwört Megan Abbott die Atmosphäre eines Unheils in Rosé — Neid und Eifersucht, sexuelles Verlangen und Erniedrigung — und entwickelt eine Geschichte verhängnisvoller Familienbande und des psychosozialen Netzes aus Macht und Weiblichkeit dahinter.

Pulp Master 58

Megan Abbott

Aus der Balance

Übersetzt von Karen Gerwig und Angelika Müller
Mit einem Nachwort von Thekla Dannenberg

415 Seiten

Pulp Master 2023, EUR 16,00

ISBN 978-3-946582-16-8

Seit fast zwanzig Jahren gilt nun Megan Abbott als eines, von ernstzunehmenden Theoretikern sogar als DAS, größte Talent der zeitgenössischen Noir-Literatur. In Deutschland blieb sie bisher unbeachtet. Dank Frank Nowatzki und PULP MASTER ändert sich das endlich. Er veröffentlichte jetzt ihren jüngsten Roman, den ich trotz des Sujets lese: Nichts interessiert mich weniger als Ballett (ausgenommen vielleicht noch Karneval). Aber das spielt keine Rolle, denn das Buch ist ja von einer der brillantesten Stilistin der amerikanischen Gegenwartsliteratur.

Und hoffentlich legt Frank bald nach.



WYATT IST WIEDER DA by Martin Compart
14. Oktober 2021, 12:44 pm
Filed under: Noir, Pulp Master/Frank Nowatzki, Rezensionen | Schlagwörter: , , , , ,

Wyatt stiehlt. Und das ziemlich gut, denn er istvorsichtig wie eh und je, effizient und erfinderisch.Bei der Auswahl seiner Jobs greift er diesmal aufeinen Informanten im Knast zurück, der direkt ander Quelle sitzt: Sam Kramer. Bis zu dessen Entlassung kümmert sich Wyatt im Gegenzug um Kramers Familie. Doch der Afghanistan-Veteran NickLazar erfährt von dieser Vereinbarung. Über seinenInsider erfährt Lazar zudem, dass Kramer – undsomit auch Wyatt – zu Ohren gekommen ist, dassdem schlitzohrigen Finanzberater Jack Tremayne eine satte Anklage ins Haus steht und sein Koffermit einer Million schon griffbereit ist: Tremaynewill die Flatter machen …

Garry Disher trägt der Logik und Dynamik der globalen Finanzialisierung Rechnung und konfrontiert Berufsverbrecher Wyatt mit dem Ponzi-Schema:einem finanziellen Betrugssystem, womit Investitionen reicher Anleger verschleiert werden.

PULP MASTER Bd.53, 2021
Gary Disher:
MODER
9.Bd. der Wyatt-Serie
Original: KILL SHOR, 2018
Deutsch von Ango Laina u. Angelika Müller
Taschenbuch, 300 Seiten; € 14, 80. e-Book 9,99€.

Natürlich stand der große Donald Westlake als Richard Stark im Geburtssaal von Wyatt: „Ich habe alle Parker-Romane früh in meiner Schreibkarriere gelesen und wollte herausfinden, was ich mit einem cleveren Kriminellen als Hauptfigur anstellen kann. Ich wollte die Parker-Romane natürlich nicht kopieren, sondern meine eigene Herangehensweise entwickeln. Ich glaube, dass Wyatt ein reichhaltigerer Charakter als Parker ist, außerdem ist auch mein Plot dichter und sind die Nebencharaktere stärker entwickelt

Während Westlakes Parker-Romane immer schlechter wurden, werden Dishers Wyatt-Romane immer besser (und sind genauso wenig noch reine Hommagen wie Max Allan Collins Nolan-Bücher):
But Disher is more interested in emotion and less in surgical detail than Stark. Wyatt, though impatient with stupidity in others, is more social and susceptible than Parker. For one thing, he lets himself become involved with a woman during the caper’s planning, which Parker avowedly would never do. And when he does become involved, the feelings are more than just sexual. There are tenderness and vulnerability in Wyatt’s feelings for this novel’s femme fatale. There are also touches of humor here, both on the author’s part and the protagonist’s, where there would be none in a Parker book.
(http://detectivesbeyondborders.blogspot.com/2006/11/kickback-garry-dishers-thriller-and.html)



Schon wieder ein Tom Franklin! Die Freude ist groß by Martin Compart

Dank der Kernerarbeit von Frank Nowatzkis PULP MASTER bescheren uns die Abstauber von HEYNE HARDCORE nun Tom Franklin im Hardcover.

Aber wir wollen nicht ungerecht sein: die erste deutsche Übersetzung von Franklin war in der Allgemeinen Reihe von Heyne:

Es illustriert einmal mehr die heutigen Strategien der Großverlage:

1. Wir wurden – wodurch auch immer(Agent?) – auf einen neuen, vielversprechenden Autor aufmerksam.

2. Wir kaufen ihn und präsentieren ihn im Markt.

3. Er verkauft nicht soviel wie Dan Brown ab seinem dritten Buch. Wir sind nicht mehr interessiert.

4. Wir beobachten höhnisch, wie ein Kleinverlag seine weiteren Bücher in einer uninteressanten Nische des deutschen Marktes pflegt. „Naja, für ihn als Kleinverlag wirds ja reichen.“

5. Um den scheint sich sowas wie „Kult“ zu entwickeln. Und wir verkaufen von neuen Autoren immer weniger…

6. „Der kriegt immer mehr Aufmerksamkeit – auch im Buchhandel.“

7. Holen wir ihn zurück. Machen wir daraus ein Hardcover in der doppelten Auflagenhöhe von ungefähr der Auflage, die der Kleinverlag unter die Leute bringen konnte. Sonst hätte er ja keine drei Bücher durchgehalten. Und wenn wir als Großverlag ein paar Dollar mehr bieten, hat der Kleine keine Chance. Außerdem können wir ihm großherzig sagen: Das nützt ja auch Deiner Backlist.

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Das gilt ja nicht nur für Heyne.
Seitdem Controlletis und Marketing in den Großverlagen die Macht übernommen haben, bestimmt die Logistik das Kriegsziel.



GESCHÄFTSMÄNNER UND WILDERER – Neues von Pulp Master by Martin Compart

Wenn mich auch die Frühjahrsvorschauen der meisten Publikumsverlage enttäuschten (nein, nicht wirklich enttäuschten; wer enttäuscht wird, muss Erwartungen haben), fängt das Jahr doch gut an:

Frank Nowatski hat in seiner Pulp Master-Reihe endlich zwei neue Bücher herausgegeben (die Copyrights beziehen sich noch auf 2020). Angesichts der Pandemielage sind zwei neue „Präsenz-Bücher“ mal eine gute Nachricht!

Eines ist die längst überfällige Neuauflage von Ted Lewis´ SCHWERE KÖRPERVERLETZUNG (GBH, 1980). Es war der letzte Roman, den die britische Noir-Ikone zu Lebzeiten veröffentlicht hat, und ich habe ein besonderes Verhältnis zu dem Buch: 2005 adaptierte ich es als Hörspiel für den WDR. Keine besonders erfreuliche Erfahrung, denn Lewis Werk musste für den Hörfunk auf ca. 55 Minuten zusammengestutzt werden, was ihm nicht gerecht werden konnte. Da hätte man besser zwei Folgen produzieren sollen, aber dafür reichten wohl weder Budget noch Sendeplätze.

Ted Lewis selbst gilt als „Vater“ des modernen Brit Noir und sein Roman JACK´S RETURN HOME als der Klassiker des Genres. Die Verfilmung von Mike Hodges mit Michael Caine unter dem Titel GET CARTER als bester britischer Gangsterfilm. Der jung gestorbene Autor hat diese Anerkennung nicht mehr erlebt (mehr zu Ted Lewis und Brit Noir in diesem Blog unter https://martincompart.wordpress.com/category/ted-lewis/ ).

Diese Ausgabe bietet nicht nur 333 ungekürzte Seiten, sondern auch ein Vorwort des großen Derek Raymond, der inzwischen selbst eine Noir-Ikone ist.
In seinem Nachwort von 1990 erzählt er auch von seinen Begegnungen mit Lewis, den er im selben Pub erlebte, da sie damals im selben Verlag veröffentlicht wurden:

„Alles, was ich jetzt noch tun kann, ist, ihm meinen Respekt für seinen Mut zu zollen, der es ihm ermöglicht hat, so zu schreiben, wie er es tat, solange er es tat, den Horror draußen mit Begriffen seines eigenen inneren Horrors zu beschreiben, wenn nötig mit der Hilfe von Alkohol oder irgendeiner anderen Waffe, die es ihm ermöglichte, seine Sache durchzuziehen… Er ist ein Beispiel dafür, wie gefährlich das Schreiben sein kann, wenn man es ernsthaft betreibt, und Ted Lewis‘ Werke beweisen, dass er nie vor irgendwas davongerannt ist.“

KLAPPENTEXT:

George Fowler ist der Kopf eines weitverzweigten Londoner Unterweltimperiums. Pornografie, im Großbritannien der 1970er illegal, ermöglicht ihm unschätzbare Einnahmen; Gewalt und Korruption halten die Maschine in Gang. Dieses hochgefährliche Gemisch droht zu explodieren, als er herausfindet, dass einige seiner Leute in die eigene Tasche wirtschaften. Als die Situation trotz einiger Säuberungsaktionen weiter eskaliert, taucht er für eine Weile in Mablethorpe unter, einem langweiligen Kaff an der Küste, um aus der Schusslinie und aus den Schlagzeilen zu verschwinden. Dies scheint fürs Erste zu gelingen, doch wohin mit den grausamen Erinnerungen, wenn man zu viel Zeit zum Nachdenken hat? George Fowler legt sie auf Eis und gießt Scotch darüber … viel Scotch …

Lewis‘ GBH gilt auch heute noch als einer der brillantesten Kriminalromane, die in Paranoia und in den Wahnsinn der Londoner Unterwelt der späten 1970er eindringen und eine faszinierende Geschichte von Macht, Liebe, Hybris und Verrat entfesseln.

Vor der Legalisierung Anfang der 1980er Jahre war Pornographie der größte Wachstumsmarkt in England. Dank gesetzlicher Schlupflöcher konnte sie halblegal an bestimmten Orten vertrieben werden, und die Porno-Produzenten wurden in Halb- und Unterwelt so mächtig wie die Gangster früherer Jahrzehnte (Sabinis, Krays, Richardsons etc.). Michael Apted nahm sich dieses Themas bereits 1977 in seinem grandiosen Film THE SQUEEZE nach einem Roman von David Craig (d.i. James Tucker alias Bill James) an.
Insofern ist GBH über die literarische Qualität hinaus auch ein bemerkenswertes Zeitdokument.

Mit der zweiten Neuerscheinung setzt Nowatski seine Tom Franklin-Edition innerhalb von PULP MASTER fort. Die Kurzgeschichtensammlung WILDERER (POACHERS) war 1999 Franklins erste Buchveröffentlichung, und die Titelgeschichte brachte ihm einen Edgar-Allan- Poe-Preis ein.

Als herausragender Vertreter des Country Noir, Southern Gothic oder einfach der US-amerikanischen Südstaatentradition wird sein bisher schmales Werk gerne mit Cormac McCarthy oder Flannery O´Connor verglichen.

KLAPPENTEXT:

Im Süden Alabama war es einst üppig und grün. Doch der alte Süden liegt in den letzten Atemzügen, während der neue, moderne Süden das Leben der einfachen Leute in die Hand nimmt. Der Kampf um die Vorherrschaft und das ruhige, selbstbestimmte Dasein sind längst vorbei, doch die alten Wunden müssen erst noch heilen. Sie sprechen von einer Welt der Jagd und des Fischfangs, des Glücksspiels und der Niederlage, des Trinkens und Wilderns. Männer sind hier untreue Ehemänner, Wildfrevler, skrupellose Intriganten, unsympathische Mörder. Sie betrügen ihre Arbeitgeber, erpressen einander, machen Schulden, trinken zu viel und ignorieren Gesetze. Mit dieser Sammlung von zehn Geschichten gelang Tom Franklin der Durchbruch. Diese seltsame, aber faszinierende Welt ist gefüllt mit mutigen Charakteren, die verloren sind, vertrieben wurden oder sich in einer Welt gefangen fühlen, die sich längst in die Zukunft bewegt hat, bevor sie sich darauf vorbereiten konnten.

Dieser Kurzgeschichtenband bestätigt meine eingängige Bemerkung:
Welcher Großverlag würde es heute noch wagen, einen Band mit Short Stories für den deutschen Markt zu veröffentlichen? Und man kann es ihnen nicht mal verübeln: In einem Land, in dem literarische Kretins wie ein Fitzek die Bestsellerliste anführen, muss man als Wirtschaftsunternehmen das Niveau des Produkts weitgehend nach unten kalkulieren, wenn man ein Geschäft machen will. Wie es Malraux ausdrückte: „Der eigentliche Tod ist der Verfall.“

Die Figuren in Franklins Süden sind Verlorene und Gefangene in einer Welt, deren Bewegungen sie nicht verstehen. Fast so etwas wie die Typologie von Trump-Wählern.
Die Titelgeschichte ist eine Backwood-Novelle, die man fast als Hintergrundsbericht über die Hillbillys aus DELIVERANCE lesen kann.

Tom Franklin über sein Buch:
Oddly, I didn’t realize that poaching was the theme until the stories–as a collection– were nearly done. I thought the main theme was contamination, how we’re screwing up our environment. The book was originally going to be called “Don’t Touch the Ground,” after a story that we took out. The three brothers (in der Titelgeschichte) are based on the the Wiggins brothers I mention in the book’s introduction. These guys were amazing and fluid in their surroundings. They could catch any fish, kill any deer. They were like mountain men to me. I envied how at ease they seemed, where I felt alien in my childhood.

https://martincompart.wordpress.com/category/tom-franklin/

SCHWERE KÖRPERVERLETZUNG
PULP MASTER Bd.44; 1., 1. Auflage 2020 (18. Dezember 2020)
Originaltitel: G.B.H.
Deutsch von Angelika Müller
334 Seiten; 14, 80 €
ISBN 978-3-927734-04-5

WILDERER
PULP MASTER Bd.54; 1. Auflage 2020 (18. Dezember 2020)
Originaltitel : Poachers
Deutsch von Nikolas Stingl
256 Seiten; 14,80 €
ISBN 978-3-946582-07-6



JIM NISBET – WELT OHNE SKRUPEL von JOCHEN KÖNIG by Martin Compart
25. Juni 2019, 5:45 pm
Filed under: JIM NISBET, Jochen König, Noir, Rezensionen | Schlagwörter: , , ,

Klinger ist ein Kleingauner, ein Loner wie er im Buche steht. Geich sein erster Auftritt zeigt wie Jim Nisbets „Welt ohne Skrupel“ funktioniert: Nach einem missglückten Überfall auf der Flucht vor der Polizei opfert Klinger seinen Komplizen ohne Umschweife den Verfolgern, damit er unbeschadet entkommen kann.

Lapidarer Gedankengang: Chainbang (kleine Anspielung auf Rex Miller?) war sowieso ein Idiot und ist damit selbst schuld an seinem Schicksal.

Klinger zieht weiter, besucht eine alte Freundin, schnorrt Geld und hängt in Bars ab, säuft, trifft Bekannte und macht einen Ausflug in die ehemaligen Bergwerksanlagen unter San Francisco. Sucht Nuggets und findet einen Schädel unter einem Friedhof. Hamlet ist ein Loser und Dänemark weit weg.

Später versucht Klinger mit einem Kumpel einen reichen Schnösel auszurauben. Dürfte nicht schwer zu erraten sein, dass diese Aktion in einem Desaster endet.

Immerhin erbeutet Klinger das Smartphone des Opfers. So ergibt sich ein Kontakt zu Marci, der Chefin und Ex-Freundin des Überfallenen. Ganz ehrlicher Finder, ist Klinger bereit das Telefon zurückzugeben. Kleiner Finderlohn sollte drinsitzen.

Marci hat andere Pläne. Auf dem Telefon ist eine neuartige Dating-App, die Philipp Wong, der Handy-Besitzer, entworfen hat. Wäre doch schön, wenn man die ohne den Entwickler vermarkten könnte. Klinger findet sich plötzlich in einer Welt wieder, die er nicht versteht und von der er keine Ahnung hat, verführt von einer Frau, der er nicht gewachsen ist. Eine App, die Femme Fatales identifiziert, besitzt Klinger leider nicht. Und wenn, könnte er vermutlich nicht damit umgehen.

Jim Nisbet ist ein Meister des Understatements.

Seine „Welt ohne Skrupel“ ist kein Sündenpfuhl, in dem Mord- und Totschlag herrschen und krawalliges Drama Katastrophen heraufbeschwört.

Nisbet erzählt Alltagsgeschichten von Losern und Aufsteigern, die ohne Bedenken Freunde und Bekanntschaften über die Klinge springen lassen. Klinger geht dabei mit unbeschwerter Dreistigkeit vor, während Marci die Frau mit einem Plan ist. In Klingers Umfeld (und bei seiner Arbeit) sterben Menschen, weil er mögliche Auswirkungen keine Sekunde überdenkt, Marci hat tödliche Konsequenzen von Beginn an im Blick.

Zwischen den beiläufig inszenierten oder ganz im Off ablaufenden Verbrechen, wird der Alltag bewältigt. Klinger ist ein Flaneur im späten Gefolge Charles Bukowskis (ohne dessen derbe Anzüglichkeiten), er findet immer jemand, dem er Geld abknöpfen kann, um es in einer ranzigen Bar mit einem Kneipenphilosophen am Tresen unter die Leute zu bringen.

Er trifft andere Gestrandete, räsoniert über sein leben und das der anderen, trinkt zu viel, ab und an fällt etwas Sex ab. Just an oldfashioned Guy, der seine Perspektivlosigkeit vermutlich als bewusstes Leben im Hier und Jetzt empfindet. So jemand braucht kein Smartphone. Anfragen gibt es eh keine, und Gespräche kann man von Angesicht zu Angesicht führen.

Eigentlich hätte es Klinger stutzig machen müssen, dass ihn eine Frau wie Marci, die offensichtlich in einer ganz anderen Liga spielt, verführt und mit auf eine gemeinsame Tour nimmt. Doch Klinger erfreut sich am Sex und lässt sich freudig aushalten. So kann er es gar nicht ausschlagen, zum Handlanger zu werden. Er hat Spaß gehabt, und der kostet eben. Klinger nimmt’s gelassen hin, irgendwie wird es schon weitergehen.

„Welt ohne Skrupel“ ist eine Mischung aus finsterem Schelmenroman und klassischem Noir in modernem Gewand. Das Aufeinanderprallen von Anachronismen und digitaler Herrschaftshoheit findet beiläufig statt, ist ein lakonischer Kommentar, der auf genauer Beobachtungsgabe basiert und kein moralinsaurer Diskurs eines alternden Autors, der sich in der Gegenwart unwohl fühlt. Nur Klinger wäre ohne Smartphone besser dran gewesen. Aber zurück geht’s nicht mehr. Nie.

„Mach mir noch einen.“ Natürlich muss der Roman so enden. Kneipenphilosophie auf dem Prüfstand.

Jim Nisbet

WELT OHNE SKRUPEL

Originaltitel: Snitch World
PULP MASTER 2019
200 Seiten

TB 14,80
ebook 9,99

Jim Nisbet – Welt ohne Skrupel



TOM FRANKLIN IS BACK by Martin Compart

Die deutsche Verlagswelt ist wahrlich im Umbruch: Ein US-Autor, der mit Faulkner und McCarthy in einem Atemzug genannt wird und dessen Roman CROOKED LETTER, CROOKED LETTER in Baden-Württemberg zur Abiturs Prüfung gehört, erscheint bei Pulp-Master: Tom Franklin hätte man noch vor einigen Jahren eher bei Hanser oder Rowohlt beheimatet gesehen (und ein Schundautor, den man bei Droemer vermuten könnte, bei Suhrkamp).

Seit dem Noir-Western DIE GEFÜRCHTETEN (Heyne, 2008) ist Tom Franklin ein Begriff für Noir-Fans, denen Cormac McCarthy nicht genügend Lesestoff liefert. Wie Lansdale gelegentlich, beschäftigt sich Franklin in den GEFÜRCHTETEN und im nun bei Pulp-Master vorgelegtem SMONK mit dem Süden der USA kurz vor und nach der Jahrhundertwende. Zu einer Zeit also, als der Slogan „go west young man“ bedeutete, dass die Bestie nach dem Völkermord an den Indianer bereit und willens war, den Rest des Planeten zu zerfleischen.

Wie man so was machen kann, zeigt uns E.O.Smonk im Kleinen, indem er das Städtchen Old Texas in Alabama tyrannisiert in Franklins ultrabrutalen, wahnsinnig komischen (Betonung liegt auf wahnsinnig) , erhellenden und erschreckendem Pageturner.


http://www.pulpmaster.de/wp/order/

„Old Texas, Alabama, 1911. Fernab und inmitten abgebrannter Maisfelder gelegen, leidet die kleine Gemeinde nicht nur unter den Folgen des Bürgerkrieges. E.O. Smonk, ein schießwütiger, einäugiger Farmer, tyrannisiert das Städtchen, insbesondere Dutzende Witwen und junge Mädchen, an denen er sich vergeht. Als ihm der Prozess gemacht werden soll, kann Smonk dem Lynchmob entkommen. Doch es scheint eine Verbindung zu geben zwischen Smonk, dem geheimnisvollen religiösen Witwen-Kult und der Truppe um einen christlichen Hilfssheriff, der eine mordende minderjährige Hure entlang der Golfküste verfolgt.“

Im hinreißendem Vorwort, in dem man auch eine Menge über Franklin erfährt, erklärt Frank Nowatzki, wieso Pulp Master nun zum Schulbuchverlag geworden ist (CROOKED LETTER, CROOKED LETTER erscheint dort ebenfalls).

Eine überraschend gute deutsche Rezension zum „neuen“ Tom Franklin, mit bestechendem Hintergrundwissen, das mir teilweise neue Aspekte eröffnet hat, fand ich unter: http://www.spiegel.de/kultur/literatur/tom-franklin-suedstaaten-romangroteske-smonk-a-1176717.html von Markus Müntefering.



„ICH LACHE AUF DER FAHRT IN DIE HÖLLE“ – DER NEUE DAVID ZELTSERMAN by Martin Compart
14. September 2017, 1:28 pm
Filed under: Krimis,die man gelesen haben sollte, Noir, Rezensionen | Schlagwörter: , ,

Rechtzeitig als Kontrastprogramm zu Don Winslows CORRUPTION, legt Frank Nowatzki als PULP MASTER Bd.43 Dave Zeltsermans SMALL CRIMES vor, damit man merkt, was die Buben von den harten Kerlen unterscheidet.

In beiden Romanen geht es um kriminelle Bullen – und das ist es dann auch schon an Gemeinsamkeiten. Winslows Buch plätschert durchaus angenehm – aber nie spannend – so vor sich hin. Zeltserman macht in Stil (bewundernswert!) und Handlung klar, dass der Autor nach seinem Tod in den Himmel kommt, denn die Hölle hat er bereits hinter sich, lachend genommen.

Ein Noir-Thriller für Anspruchsvolle, die sich auch gerne mal auf Hinterhöfen rumtreiben. Und für Typen, die ansonsten nur abgegriffene Geldscheine lesen.


http://www.pulpmaster.de/wp/order/

Cop Joe Denton wird auf Bewährung entlassen. Sieben Jahre zuvor verletzte er den Bezirksstaatsanwalt der Kleinstadt Bradley schwer und verübte einen Brandanschlag auf dessen Büro. Damals nahm Joe alle Schuld auf sich und deckte den korrupten Polizeiapparat. Inzwischen jedoch liegt der örtliche Mafiaboss Manny Vassey mit Krebs im Endstadium auf Intensiv und der einst attackierte Staatsanwalt versucht seit Wochen, Vassey ins Gewissen zu reden und ihn zu einem umfassenden Geständnis zu bewegen. Das würde weitere zehn bis zwanzig Jahre Knast für Denton bedeuten, etliche andere Beamte ebenfalls belasten und die Cops mit dem Rotlichtmilieu in Verbindung bringen …
Der nihilistische Thriller von Dave Z. steht in der Tradition Jim Thompsons und James M.Cains und entwirft das Bild eines desillusionierten Kriminellen, dem allmählich dämmert, dass er alles nur noch verschlimmbessert.

Die Verfilmung von Evan Katz wird weltweit auf Netflix ausgestrahlt, mit Nikolaj Coster-Waldau als Joe Denton.



ACHTUNG ADVENT! SCHMACKHAFTES FÜR DEN GABENTISCH by Martin Compart

Nun stehen sie wieder vor der Tür, die besinnlichen Tage, an denen wir Ebola, Bänker und die kollabierende Umwelt ausblenden und uns ganz dem lärmenden Konsum und dem stillen Gedenken an die Märtyrer des Kapitalismus, von Maschmeyer bis Middelhoff, widmen.

Für diese stillen Stunden braucht es natürlich auch ein wenig erbauliche Lektüre, die uns auf die Kirchenfeste einnormt und das fromme Absingen der Choräle zeitweilig unterbricht. Gottseidank erleuchten uns die Schaufenster mit der Hoffnung auf Glück durch Kauf. Unten stehendes kann man kaufen, Glück gibt´s dabei oft nur als Erkenntniszuwachs.

Gerade noch rechtzeitig, bevor das Fest der Verlogenheit den Stecker zieht, beschert uns Frank Nowatzkis PULP MASTER einen neuen Roman von DAVE ZELTSERMAN, der aus dem Stand heraus zu einem der wichtigsten zeitgenössischen Noir-Autoren katapultierte. In KILLER erzählt er die Story des alt gewordenen Auftragskillers Leonard March, der sich nach 28 Jahren Knast auf einen Deal mit der Staatsanwaltschaft einlässt, um seinen ehemaligen Boss hinzuhängen. Bedroht von seinem Ex-Boss und Verwandten seiner Opfer, schlägt er sich durch eine Kloake, die von sich behauptet, das Land der Freien zu sein.

http://www.amazon.de/Killer-Dave-Zeltserman/dp/3927734500/ref=sr_1_3?s=books&ie=UTF8&qid=1418742227&sr=1-3&keywords=dave+zeltserman

Hans-Rudi Wäscher war DER Pionier des deutschen Abenteuer-Comics. Noch heute können seine Serien SIGURD, NICK, TIBOR oder FALK durch ihr episches Storytelling begeistern. Nach vielen Vorarbeiten durch Fans, hat der „deutsche Comic-Papst“ (ja, ich weiß: Du hasst diese Bezeichnung) Andreas C.Knigge das entscheidende Buch zu Wäscher geschrieben. Es ist brillante Analyse und optischer Prachtband in einem. Jede Wäscher-Serie wird akribisch unter die Lupe genommen. Dabei steigt die Lust, sich die alten Hefte wieder vorzunehmen und zum Beispiel in NICKs Universum erneut einzutauchen. Niemand, der sich für die deutsche Comic-Kultur (bescheiden genug) interessiert, kann auf dieses voluminöse Buch verzichten.

http://www.amazon.de/Allm%C3%A4chtiger-Andreas-C-Knigge/dp/3941694111/ref=sr_1_5?s=books&ie=UTF8&qid=1417433580&sr=1-5&keywords=andreas+knigge

SIMON KERNICK ist der Traum eines Thriller-Fans: Er veröffentlicht regelmäßig und schreibt Bücher, die einen an den Rand eines Herzinfarktes treiben. Meisterlich beherrscht er die schockierende Eröffnung, die fast immer die Zertrümmerung der Normalität ist: „Ihr wurde bewusst, wie verletzlich sie war und das sich das Leben mit einem Lidschlag völlig verändern konnte.
Ausführlich zu Kernick unter: https://martincompart.wordpress.com/2011/12/14/brit-noir-simon-kernick-speedking-1/

Normalerweise jagt er seine Protagonisten durch die Betondschungel der Städte, in TREIBJAGD wird seine Protagonistin fünf Stunden durch die Backwoods der schottischen Highlands gejagt. Perfekt konzipiert, äußerst brutal und von einem Drive, wie ihn nur wenige hinkriegen. Nach einem furiosen Auftakt, nimmt er im ersten Drittel durch Rückblenden das Tempo raus (der erfahrene Thriller-Leser bekommt eine Ahnung, dass nicht alles ist, wie es scheint), um dann Vollgas zu geben. Zugegeben: Es gibt ein paar Unwahrscheinlichkeiten und bei genauer Betrachtung schwerlich zu akzeptierende Motive und Begründungen, aber das wird für mich vom Tempo überrollt. Sowas kann eben passieren, wenn man das Gaspedal so weit durchtritt, dass es schon über den Asphalt schleift.
Kernick strickt auch weiter am Personal seines Suspense Kosmos. Wieder dabei sind Sam Bolt, Mo Kan und zum zweiten Mal nach SIEGE Glenn Scopeland, alias Scope.

http://www.amazon.de/Treibjagd-Thriller-Simon-Kernick/dp/3453417887/ref=sr_1_2?s=books&ie=UTF8&qid=1417099901&sr=1-2&keywords=simon+kernick


Matthew Dunn wurde 1968 geboren, studierte Politologie und trat mit 27 Jahren in den MI6 ein, wo er als field operative an etwa 70 Geheimoperationen in der ganzen Welt teilnahm. Er muss ein Typ wie Adam Halls Quiller gewesen sein: “The loneliness, the isolation, is the real thing. The moment you step on the plane you are on your own.” Für einen Einsatz, über den er nicht sprechen darf, erhielt er vom damaligen Außenminister Cook eine Belobigung, die er nicht zeigen darf. Nach fünf Jahren stieg er aus. Er heiratete, zeugte zwei Kinder und wurde geschieden. Seit 2011 schreibt er Spionageromane über den Geheimagenten Will Cochrane (Deckname: Spartan), der ganz in der Tradition der Superagenten wie Bond und Quiller steht. Leider hat Cochrane eine düstere Vergangenheit, die jeder Melodram-Autor im Setzkasten hat.Dunn ist zwar kein Adam Hall, verfügt aber über ein ähnlich literarisches Talent, den Leser in die Handlung einzusaugen. Seine Erfahrungen bei MI6 nutzend, geben den Operationen einen faszinierenden realistischen Touch. Aber er ist zynisch genug, um nicht als kompletter politischer Idiot zu erscheinen. Witzigerweise kommen im ersten Roman, EIN TOD IST NICHT GENUG, die Deutschen besser weg als Briten und Amerikaner, die bekanntlich die Folter wieder hoffähig gemacht haben. Die Deutschen nehmen nämlich keine Gefangene (für Verhöre mit “Motivationsoptimierung”), um keinen Ärger wegen Menschenrechtsverletzungen zu bekommen.
Wer knallharte, böse Agenten-Thriller liebt, wie ich, wird von MATTHEW DUNN bestens bedient. Es kracht und rummst auf intelligente Art. Literarisch setzt Dunn effektiv genau das um, was ein guter Action-Thriller braucht. Inhaltlich bedient er alle Fans zünftiger geopolitischer Realpolitik. Bei BLANVALET sind die ersten beiden SPARTAN bzw. SPYCATCHER-Thriller jetzt auf Deutsch erschienen.

http://www.amazon.de/gp/product/3442382475/ref=pd_lpo_sbs_dp_ss_2?pf_rd_p=556245207&pf_rd_s=lpo-top-stripe&pf_rd_t=201&pf_rd_i=0062037862&pf_rd_m=A3JWKAKR8XB7XF&pf_rd_r=1YTQHYHY2JC8QV8131YN

In diesen heiligen Tagen sollte man kurz den Neid unterbrechen, mit dem wir ansonsten auf ein Land wie Mexiko schauen, dass dank dem Handelsabkommen mit den USA zum Exportweltmeister (neben dem inoffiziellen US-Bundesstaat Kolumbien) für Freizeitpharmazeutika prosperiert. In der aufregendsten Verlagsneugründung des Jahres, der EDITION FAUST, ist ein Prachtband erschienen, der uns in grandiosen Bildern und Texten die Idylle der us-mexikanischen Grenze näher bringt. Oder wie es im Klappentext des zweisprachigen (auch Spanisch) Buches heißt: “La Frontera, die Grenze zwischen Mexiko und den USA, zerschneidet Dörfer und Städte. Sie teilt Familien und unterbricht Lebenszusammenhänge im bikulturellen Grenzgebiet. Und sie ist eine der gefährlichsten Grenzen der Welt. Hunderte von Menschen lassen jährlich ihr Leben beim Versuch, sie illegal zu überqueren. Stefan Falke hat jahrelang Künstler entlang des Zauns fotografiert, die den Schlagzeilen über Drogenkrieg und Menschenhandel in den Medien ein hoffnungsvolles Bild entgegensetzen und mit ihren Kreationen den Widerstand gegen die Gewalt dokumentieren.
Davon und vom Verlust von Sprache und Identität handeln die Geschichten der international angesehenen mexikanischen Autoren, deren Reportagen, Prosatexte und Erzählungen hier erstveröffentlicht werden. Das sind aufrüttelnde, heitere, verstörende und aufklärende Texte wissender Grenzgänger.“
http://www.amazon.de/Frontera-mexikanisch-US-amerikanische-Grenze-ihre-K%C3%BCnstler/dp/3981589351/ref=sr_1_1?s=books&ie=UTF8&qid=1416576240&sr=1-1&keywords=stefan+falke

Bisher wurde David Raker von Carsten Maschmeyer noch nicht beauftragt, den verschwundenen Kanzler Proll-Gert aufzufinden. Das hat zwei Gründe: 1, ist der niedersächsische Schiffsschaukelbremser (fährt NSU Prinz mit Fuchsschwanz) leider noch nicht verschwunden, und 2.würde Raker den Auftrag ablehnen, da er keine Empathie für den Vermissten aufbringen könnte. Der Ex-Journalist Raker, Jung-Witwer und Spezialist für das Auffinden Verschwundener, ist der Serienheld von TIM WEAVER. Die Briten schütteln ja in den letzten Jahren wieder talentierte Autoren aus dem Ärmel, dass es eine Freude ist.
Thomas Hattenhoff hat in seinem großartigen Blog unter
http://englischekrimis.wordpress.com/tag/tim-weaver/
treffendes und lesenswertes zu Weaver geschrieben. Für mich ist er ein Erneuerer des Privatdetektivromans (auch wenn Raker sich auf Vermisste spezialisiert hat), der zeitgemäße Technologie clever in seine Plots einbaut und dazu noch überzeugend die Strukturen des Ermittler-Romans mit denen des Thrillers verbindet. Alles fängt erstmal langsam an,,, aber dann! Er hat ein gutes Auge für Charaktere, die selten eindimensional bleiben, einen scheinbar mühelosen Stil, dessen Qualität sich erst bei genauer Betrachtung offenbart. Natürlich sind die Eröffnungen (PI erhält Auftrag vom Klienten) abgedroschene Klischees, ebenso wie verlässliche Schacheröffnungen. Der Privatdetektiv steht in der Tradition des Flaneurs, der, wie Walter Benjamin bemerkte, das städtische Leben beobachtet und bewertet. Dies tun Weaver und Raker aktuell und originell. Und, wie der GUARDIAN und Hattenhoff bemerken, er wird immer besser. Bei GOLDMANN sind bisher drei Bücher erschienen, davon das erste nur als eBook.

http://www.amazon.de/Ohne-jede-Hoffnung-Tim-Weaver/dp/344248197X/ref=sr_1_1?s=books&ie=UTF8&qid=1416573829&sr=1-1&keywords=tim+weaver

Es ist mir ziemlich egal, ob ein Buch „Novitätencharakter“ hat oder älter ist, wenn ich der Meinung bin, es müsse mehr Leser finden.
MASSIMO CARLOTTO ist einer der wichtigsten und besten italienischen Noir-Autoren der Gegenwart. Seine Romane speisen sich häufig aus seinen biographischen Erfahrungen: Als Linksradikaler entzog er sich 1976 der Justiz, die ihn unschuldig einen Mord anhängen wollte, floh nach Paris und Mexiko und führte das Leben eines Outlaws. Mit DER FLÜCHTLING legte der TROPEN Verlag bei KLETT-COTTA Carlottos Autobiographie vor, die jeder Noir-Aficionado gelesen haben sollte. Schonungslos und in seinem bekannten verstörend brutalen Stil, verdeutlicht er seinen Fans, warum er wurde, wer er wurde. Auch wenn es politisch irrelevant ist, wer Outsider-Biographien liebt, sollte sich antiquarisch besorgen: CIZIA ZYKE: ORO (Goldmann, 1988).Der Autor erzählt, eine Magnum 357 in der Hand und einen Joint zwischen den Lippen, wie er sich durch Costa Rica schlägt, immer auf der Suche nach einem schnellen Deal, Gold und Sex. Dabei trifft der Autor, der selber kein angenehmer Typ ist, so ziemlich auf jedes Arschloch in Lateinamerika, das gleichzeitig aus ähnlich altruistischen Motiven den Dschungel durchpflügt. Echte Weihnachtslektüre, die man gut vor der Mitternachtsmette genießen kann.

http://www.amazon.de/Fl-chtling-Roman-Massimo-Carlotto/dp/360850205X/ref=tmm_hrd_swatch_0?_encoding=UTF8&sr=1-4&qid=1416580061

Der TROPEN-Verlag verdient übrigens höchsten Respekt dafür, dass er noch Essay-Sammlungen veröffentlicht, was ja fast publizistischen Seppuku gleichkommt. Zum Beispiel die unbedingt lesenswerten Bände BEKENNTNISSE EINES TIEFSTAPLERS von JONATHEM LETHEM und MISSTRAUEN SIE DEM UNVERWECHSELBAREN GESCHMACK von WILLIAM GIBSON („Kann es am Ende des 20.Jahrhunderts etwas Beängstigenderes geben als ein optimistischer SF-Autor?“) . Beide ebenso originell wie politisch unkorrekt über die „Zukunft als Gegenwart“.
http://www.amazon.de/Misstrauen-Sie-dem-unverwechselbaren-Geschmack/dp/3608503145/ref=sr_1_6?s=books&ie=UTF8&qid=1416580193&sr=1-6&keywords=william+gibson

Carlotto ist natürlich auch in der Anthologie KOKAIN-CRIME STORIES (FOLIO VERLAG). Neben ihm sind GIANCARICO CAROFIGLIO und GIANCARLO De CATALDO (ROMANZO CRIMINALE) vertreten um die unterschiedlichenAspekte dieses Zuwachsmarktes und seiner Anlagemöglichkeiten zu erörtern.Diese Autoren in der glorreichen Traditon von Sciascia und Scerbanenco bestätigen auch stilistisch das hohe und eigenwillige Niveau der italienischen Noir-Kultur (es ist schön zu hören, dass eine TV-Serie nach DIABOLIK entsteht; hoffen wir das Beste!).

http://www.amazon.de/Kokain-Crime-Stories-Giancarlo-Cataldo/dp/3852566282/ref=sr_1_6?s=books&ie=UTF8&qid=1416573967&sr=1-6&keywords=carlotto

„Als ich die maskierten Männer in den grünen Kampfanzügen erkannte und die ölig glänzenden Maschinenwaffen auf uns gerichtet sah, hatte ich die Bestätigung, dass es reiner Wahnsinn ist, so kurz nach einem brüchigen Waffenstillstand die Front zu überschreiten. Wenigstens für einen Mann, der auf der anderen Seite steht.“
So cool fängt UNTERGRUND an, und so cool geht es auch weiter in dieser autobiographischen Schrift, die einmal eine der wenigen deutschen Polit-Thriller auf internationalem Niveau war. Autobiographisch steht Willi Voss´ Buch irgendwo auf demselben Regal wie Ernst von Salomons DIE GEÄCHTETEN oder Jack Blacks YOU CAN´T WIN.
Als ich 1986 zu Bastei-Lübbe ging, lernte ich Willi Voss kennen, der damals für den Verlag schrieb. (siehe auch: https://martincompart.wordpress.com/2013/06/05/noir-fragen-an-willi-voss/
Ich kannte seine beiden Polit-Thriller, die er unter dem Pseudonym E.W.Pless veröffentlicht hatte: GEBLENDET und GEGNER. Es war ganz deutlich, dass der Autor wusste, worüber er geschrieben hatte: Bürgerkrieg im Libanon und der verzweifelte terroristische Kampf der Palästinenser. Wie ich, fuhr Jörg Fauser auch sofort auf GEGNER ab. Und irgendwann haben wir dann zu dritt in Witten und Bergisch-Gladbach ein Wochenende durchgesoffen und gequatscht und gequatscht und gequatscht. Jörg, der immer alles genau wissen wollte, zog Willi alles über seine Erfahrungen im bewaffneten Kampf für die Palästinenser aus der Nase, was er nur ziehen konnte.
Willi
Mit Willi in Spanien.

Und seit 2012 gibt es nun endlich eine überarbeitete Neuausgabe von GEBLENDET unter dem Titel UNTERGRUND, die nun nicht mehr der Roman ist. Hätte Fauser noch gelebt, hätte er bestimmt ein enthusiastisches Nachwort zu diesem authentischen und autobiographischen Nahost-Thriller geschrieben, der in der deutschen Thriller-Literatur (und darüber hinaus) als einzigartiges Monument dasteht. Willi hat alles geschrieben: Polit-Thriller, Conspiracy, Western, Polizei- und Privatdetektivromane. Gut sind sie alle. Aber GEBLENDET und GEGNER entstanden zu einer Zeit, als die Wunden noch frisch waren und er den Pulverdampf noch in der Nase hatte.
Passt gut zur Lektüre von Carlottos DER FLÜCHTLING.
Einen relativ fairen Bericht über Willi als Fatah-Kämpfer und CIA-Agent auf:
http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-90334819.html

http://www.amazon.de/UnterGrund-Willi-Voss/dp/3944223004/ref=sr_1_1?s=books&ie=UTF8&qid=1416849005&sr=1-1&keywords=willi+voss

Seit ANUBIS GATE von TIM POWERS (oder einigen Romanen von Michael Moorcock, der jede Menge Steampunk-Elemente vorweg genommen hat) bin ich ein Steampunk-Fan. Leider finde ich zu selten wirklich überzeugendes in diesem Subgenre. Was mich überzeugt hat, ist die Burton & Swinburne-Serie von MARK HODDER, deren drei ersten Bände, DER KURIOSE FALL DES SPRINGHEELED JACK, DER WUNDERSAME FALL DES UHRWERKMANNS und AUF DER SUCHE NACH DEM AUGE VON NAGA bei BASTEI-LÜBBE erschienen. Die Helden sind die Abenteuer- und Forscher-Legende Sir Richard Burton und der dekadente Dichter Algernon Charles Swinburne, die als Spezialagenten der Krone agieren. Hodder nimmt reale Personen (etwa Oscar Wilde als Zeitungsjunge), mehr oder weniger bekannte Mythen und lässt sie in einem durch Steampunkfantasien veränderten Paralleluniversum (abweichende Zeitlinien) agieren. Voll gestopft mit aberwitziger Action und intelligenten Kulturkommentaren, einer gehörigen Portion viktorianischer Atmosphäre, sind die dicken Schwarten ein fast nostalgisches Lesevergnügen. Besonders der dritte Band mit seinem afrikanischen Schauplatz á la Rider Haggard und der Konfrontation zwischen Briten und Preußen vor dem großen Krieg hat mir gefallen.

http://www.amazon.de/Auf-Suche-nach-Auge-Naga/dp/3404207491/ref=sr_1_2?s=books&ie=UTF8&qid=1416574089&sr=1-2&keywords=mark+hodder

Der FESTA VERLAG beginnt mit SHOOTER die längst überfällige deutsche Ausgabe von Stephen Hunters Serie um den militanten Swagger-Clan. Der erste Roman über den Scharfschützen Bob Lee Swagger, der vor fast zwanzig Jahren schon mal bei Goldmann erschienen ist und zu Horrorsummen gehandelt wurde, macht den Anfang und ist ein lupenreiner Conspiracy-Thriller. Das Buch wurde 2007 recht ordentlich mit Mark Wahlberg verfilmt und der Film eignet sich bestens als Weihnachts-DVD. Der Waffnfetischist Hunter war langjähriger und einflussreicher Filmkritiker (u.a. bei der WASHINGTON POST) und seine Filmbücher, wie VIOLENT SCREEN (Bancroft Press, 1995), sind genauso kontrovers wie lesenswert. Früher nannte man Hunters Thriller „Bücher für Männer (oder Jungs)“. Oft knallharte politisch unkorrekte Conspiracy-Thriller, spannend geschrieben, voller ungewöhnlicher Details und Charaktere, aber auch mit viel Atmosphäre. Wie Figaro macht Hunter keinen Unterschied zwischen Politik und Intrige. Im Gegensatz zum erfolgreicheren Kollegen Lee Child, der nur noch ein langweiliges Weichei ist, kann Hunter plotten und auch den abgewichsten Thriller-Leser überraschen. Es bleibt zu hoffen, dass FESTA Hunters Bücher zügig den deutschen Lesern zugänglich macht (wie auch die MICHAEL SLADE-Thriller). SHOOTER hat über 600 Seiten, aber die saugt man bei der Lektüre in Hochgeschwindigkeit weg.

http://www.amazon.de/Shooter-Vom-Kriegshelden-zum-Staatsfeind/dp/3865523161/ref=sr_1_2?s=books&ie=UTF8&qid=1416574141&sr=1-2&keywords=stephen+hunter

In England ist bei Network eine 6-DVD-Box mit allen drei Seasons der SANDBAGGERS erschienen. Die von Ian Mackintosch für ITV erfundene Spy-Serie lief von 1978 bis 1980 und setzte Maßstäbe für Polit-Thriller im Fernsehen. Die Serie nahm Kalte-Kriegs-Klischees, die man für felsenfest gehalten hatte, ließ sie durch luftleeren Raum irren und dann brachial auf den Boden knallen. Als hätten Adam Hall und Len Deighton Drehbücher über eine Spezialeinheit von MI6 entwickelt. Aber der Ruhm gebührt nun mal dem genialen Mackintosh, der alle Folgen der ersten beiden Staffeln geschrieben hatte, bevor er unter mysteriösen Umständen verschwand: „During the shooting of the third series in July 1979, Mackintosh and his girlfriend, a British Airways stewardess, were declared lost at sea after their single-engine aircraft mysteriously went missing over the ocean near Alaska following a radioed call for help. Some of the details surrounding their disappearance have caused speculation about what actually occurred, including their stop at an abandoned United States Air Force base and the fact that the plane happened to crash in the one small area that was not covered by either US or USSR radar”, Wikipedia). Ein klarer Fall für David Raker.
Zu den härtesten Fans dieser Kult-Serie (hier stimmt dieser kaum noch aussagekräftige Terminus mal wieder) gehört das amerikanische Allround-Talent Greg Rucka. Er sieht seine als Comic und Roman erscheinende QUEEN & COUNTRY-Serie als Reminiszenz an THE SANDBAGGERS. Eine der absoluten Top-Serien der letzten Jahre, SPOOKS, wäre ohne SANDBAGGERS nicht vorstellbar (wie die Creator auch zugegeben haben).

http://www.amazon.de/Sandbaggers-Complete-UK-keine-Untertitel/dp/B002NZBD74/ref=sr_1_sc_2?s=dvd&ie=UTF8&qid=1416574333&sr=1-2-spell&keywords=sanbaggers

Natürlich hatte Elmore Leonard häufig unglaubliches Glück mit seinen Kino-Adaptionen – von HOMBRE über MR.MAJESTIC bis JACKIE BROWN. Aber die beste audiovisuelle Umsetzung eines Elmore Leonard-Stoffes ist kein Kinofilm, sondern die TV-Serie JUSTIFIED, die auf einer Kurzgeschichte basiert. Sie ist fast so etwas wie eine Synthese aus Crime-und Western-Genre.

Alles, was Leonards beste Unterweltsromane auszeichnet, findet man spätestens ab der zweiten Staffel (die erste ist mir zu episodisch): Durchgeknallte White-Trash-Ganoven, wie sie nur in einem Land vorkommen, deren weiße Besiedler aus Europa einst rausgeschmissen worden sind, ein ambivalenter Protagonist und Landschaften (Kentucky), um die MAD MAX einen großen Bogen machen würde. Das Personal der Serie, allen voran der großartige Walton Goggins, das Arschloch aus SHIELD, rast voll motiviert in ihr herum, immer unterwegs zu noch boshafteren Tiefständen menschlichen Verhaltens. Leute, wie wird´s da erst aussehen, wenn sie mit dem Fracking durch sind? Nicht mal Darwin könnte erklären, wo und wie diese Geschöpfe in der Evolution anzusiedeln sind.
Jetzt ist eine teure Box erschienen mit den ersten vier Seasons, so schmutzig wie drei Tage liegengebliebener Weihnachtsschnee in Berlin.

Sonja Hartl analysiert in ihrem Blog ZEILENKINO ausführlich die unterschiedlichsten Aspekte der Serie:
http://zeilenkino.de/pronto-justified-raylan-givens

http://www.amazon.de/Justified-Season-exklusiv-Amazon-Limited/dp/B00NP54M6K/ref=sr_1_3?s=dvd&ie=UTF8&qid=1416574601&sr=1-3&keywords=justified

Kein Weihnachten ohne Western.
Hoffentlich verschonen uns die TV-Anstalten mit abermaligen Abspielen von John Fords Tunten-Western!
Dank HEYNE HARDCORE ist seit langem mal wieder ein Roman von JAMES LEE BURKE auf Deutsch erschienen: REGENGÖTTER ist ein Spätwestern als Noir-Thriller, der an der texanischen Grenze zu Mexiko spielt. Zusammen mit LA FRONTERA genau das Richtige für einen Salsa-Adventsabend.
Es ist natürlich Blödsinn, wenn ein Rezensent behauptet: „James Lee Burke schreibt, als wäre Cormac McCarthy unter die Krimiautoren gegangen“. Es gibt eben viele Rezensionen, die den Eindruck vermitteln, sie wollen Themmen lediglich abhaken, anstatt sie für uns zu öffnen. McCarthy hat bereits mit NO COUNTRY FOR OLD MAN einen Noir-Thriller geschrieben (wie auch mit THE ROAD eine Science Fiction-Dystopie oder mindestens einen Western mit BLOOD MERIDIAN). Wo Burke elaboriert ist und in breiten Naturschilderungen mäandert, ist McCarthy in seinen gewaltigen Bildern karg und punktgenau. Aber wie viele Protagonisten des späten McCarthy, kriecht auch Burkes Sheriff Holland (der Vetter von Billy Bob Holland, dem Anwalt)mit hängenden Schultern verbittert durch das Alter dem Tod entgegen.

http://www.amazon.de/Regeng%C3%B6tter-Thriller-James-Lee-Burke/dp/3453676815/ref=sr_1_1?s=books&ie=UTF8&qid=1416579264&sr=1-1&keywords=james+lee+burke+regeng%C3%B6tter

…und wer immer noch nicht Flashman liest, ist selber schuld.

http://www.amazon.de/Flashman-die-Roth%C3%A4ute-Nordamerika-Flashman-Manuskripte/dp/3942270978/ref=sr_1_3?s=books&ie=UTF8&qid=1416579486&sr=1-3&keywords=flashman