Martin Compart


EASTENDBALLADE – DIE KRAYS 2/ by Martin Compart
5. März 2024, 11:41 am
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Bereits mit 16 hatten die Zwillinge sich ihre erste Handfeuerwaffe besorgt. Jetzt war es für Ronnie zur Manie geworden, Schusswaffen zu kaufen. Castros Männer auf Kuba wären ungefähr zur selben Zeit froh gewesen, wenn sie über eine ähnliche Feuerkraft verfügt hätten.

Aber es gab auch Wermutstropfen: Immer mehr Soldaten aus der Armee des Colonels desertierten. Sie wurden älter und begannen sich plötzlich mehr für Mädchen als für Schlägereien zu interessieren. Der ewige Kreislauf: Mädchen kennenlernen, heiraten, einen festen Job suchen, Wohnung und Kinder. Das Eastend erlebte in den 50er Jahren einen bescheidenen Aufschwung: neue Mietskasernen wurden gebaut, Supermärkte machten an den Ecken auf, Jobs waren zu kriegen, Autos wurden erschwinglicher, und abends konnte man sich zum Beifall der Ehefrau vor dem Fernseher amüsieren, statt mit den tollwütigen Krays einen Pub auseinanderzunehmen. Aber das war selbstverständlich keine Alternative für die Zwillinge. „Frauen sind unsere schlimmsten Feinde. Sie können sich nicht damit begnügen, ihr Heim in Ordnung zu halten. Sie wollen keine echten Männer mehr. Was sie wollen sind Waschlappen.

Ma Kray und ihre Buben.

Die Zeiten der Jugendkrawalle waren endgültig vorbei.

Aus der Krays-Bande sollte die „Firma“ werden. Sie suchten andere Mitstreiter um ihre Träume zu realisieren. Ihr Vorbild Capone hatte Chicago schließlich auch nicht mit Fightern aus der A-Jugend erobert. Ihr freundschaftlicher Kontakt zu einigen Knastbrüdern sorgte für einen guten Ruf bei den Berufsverbrechern. Denn wer aus dem Eastend ins Gefängnis wanderte, konnte darauf bauen, dass sich die Zwillinge um ihn kümmerten und für die Familie sorgten. Wer gerade rauskam, konnte im Regal vorbeischauen. Die Krays hatten immer ein paar Pfund übrig oder sorgten für einen Schlafplatz und ein Ding, in das man einsteigen konnte. Sie waren keine Gangleader mehr, sondern Bosse, die sich um ihre Leute kümmerten.

Reg: „Wenn einer, der auf unserer Liste stand, ins Gefängnis musste, sorgten wir für Frau und Kinder. Und wir machten klar, dass n i e m a n d etwas mit der Frau anfing. Ich ließ den Frauen immer von zwei Männern das Geld bringen. So kontrollierten sie sich gegenseitig, und keiner kam in die Versuchung, etwas mit ihr anzufangen.

Ronnie begann seine Pläne zu entwickeln, seine „Politics of Crime“. 1956 hatte sich ihr Einflussgebiet weit ausgedehnt. Sie hatten mit konkurrierenden Banden gründlich aufgeräumt fuhren nun die Ernte ein. Sie kontrollierten das Eastend bis Hackney, Mile End und Walthamstow. Jeder Dieb, jede Spielhölle, die meisten Pubs und viele Geschäfte zahlten Abgaben an die Zwillinge. Die „Profession of Violence“ lief auf Hochtouren. Unvorstellbare Summen Geld flossen durch ihre Hände.

Eastendsentimentalität und Solidarität mit den Schwächeren sorgten dafür, dass sie es mit vollen Händen rauswarfen. „Wir waren nur eine Durchgangsstation für das Geld. Es kam, erschreckte sich in unseren Taschen, und war auch schon verschwunden“, meinte Reggie. Sie hatten Autos, die beste Kleidung, Schmuck und konnten sich alles leisten. Wenn sie in einem Pub tranken, dann durfte niemand für sich selbst zahlen. Wenn jemand aus der Gegend in finanzielle Schwierigkeiten kam, erfuhren es die Zwillinge und halfen aus. Keine Wohltätigkeitsveranstaltung, ohne dass die Krays eine größere Summe spendeten. Kein Wunder, dass mir ein alter Eastender sagte: „Es war sicherer bei uns, als die Krays noch die Straßen beherrschten. Frauen, Kinder und alte Leute standen unter ihrem Schutz. Sie behandelten jeden mit Respekt. Und sie hatten immer ein offenes Ohr und eine gebende Hand, wenn man Probleme hatte. Gangster? Sie haben nicht halb so viel Blut an ihren Händen, wie die Regierung. Warum soll ich schlecht über sie reden? Zu mir waren sie immer gut.

Ihre wilden Feldzüge verschafften ihnen den Ruf als gefährlichster Mob Londons.

Jack Spot

Sogar die beiden Kingpins Jack Spot und Billy Hill, die die Unterwelt des Westends seit den 40er Jahren beherrscht hatten und sich gerade zerstritten, buhlten um ihre Gunst. Eine gute Gelegenheit, um von den führenden Halunken die Feinheiten des Geschäfts zu lernen. Reg erinnere sich: „Eines Nachts wollte ich mit zwei Freunden ins 21 Rooms im Westend gehen. Damals einer der exklusivsten Clubs, benannt nach den 21 Schlafzimmern des Ladens. Die beiden Türsteher wollten uns nicht reinlassen. Ich schlug den einen nieder und meine Kumpels den anderen. Dann dachte ich: Du bist hier nicht im Eastend. Das könnte eine Anklage wegen Körperverletzung geben. Einer der Türsteher hatte mich sicherlich erkannt. Ich wusste, dass Billy Hill den Club beschützte und fuhr zu ihm. Ich erklärte ihm die Sache. Statt sauer zu sein, grinste er und rief Harry Meadows an. Harry und sein Bruder Bert waren die Besitzer vom 21. Hill sagte: ‚Hier ist Bill. Ich habe gehört, ihr hattet Schwierigkeiten. Keine Sorge, ich kümmere mich darum. Es wird keinen weiteren Ärger geben. Ich erledige das sofort. ’ Dann warf er mir 3oo Pfund zu und sagte: ‚Nimm das Kleingeld, Junge. Es wäre teurer für mich, wenn ich jemanden hingeschickt hätte um ihnen zu zeigen dass sie mich brauchen. ’ Am nächsten Tag ging er zu den Meadows und holte sich fünf Riesen. Er machte den Brüdern klar, dass ihr Laden besonders schutzbedürftig sei. Für mich war Bill immer der professionelle Gangster schlechthin. Ich glaube, in manchen Sachen bin ich ihm nahegekommen. Aber auf anderen Gebieten steht er allein, ein Monument. Es wird nie wieder einen geben wie ihn.

Die Twins mischten sich nicht zu sehr in den Krieg der beiden ehemaligen Freunde. Sie ahnten, dass das Ende des Krieges ein Machtvakuum erzeugen würde, in das sie selbst eindringen könnten. Nur war das Westend etwas anderes. Wie Peru vor Pizarro schien es vor ihnen zu liegen und darauf zu warten, tüchtig abgemolken zu werden. Noch hatten sie nicht begriffen, wie im Westend das Spiel gespielt wird. Und dass sie es nie wirklich begreifen wollten und als Eastender vielleicht auch nicht konnten, brach ihnen am Ende das Genick.

Spot und Hill herrschten über die noch illegalen Spielhöllen und Klubs, durch Diskretion. Keine Schießereien um Marktanteile störten die verbotenen Vergnügungen. Ihre Macht lag in den Schlachten, die sie vermieden. Alle ehrgeizigen Bemühungen Ronnies, eine Allianz mit einer Westendgang herzustellen scheiterten. Der brutale Ruf der Krays sorgte dafür, dass sich das Westend geschlossen gegen sie stellte. Die Stärke des Westmobs war es, Gewalt zu vermeiden. Nur das garantierte ein florierendes Geschäft und Ruhe vor der Polizei. Die besseren Leute aus dem Westend wollten ruhig und diskret ihren Lastern nachgehen können und nicht in Gangsterkriege mit ungehobelten Eastendern verwickelt werden. Spot und Hill mit ihren gepflegten Umgangsformen wussten, dass Gewalttätigkeiten nicht in die Klubszene des Adels und der reichen Möchtegerne gehörten. Das machte sie respektabel und sorgte für ein gutes Verhältnis zur Polizei. Denn jede Polizei weiß, dass die Kriminalität unausrottbar ist. Solange aber der einfache Bürger nicht offen mit ihr konfrontiert wird und clevere Bosse für Ruhe und Ordnung sorgen, ist friedliche Koexistenz möglich. Für die Krays und ihren pathologischen Bullenhass war eine friedliche Allianz mit der Polizei unvorstellbar. Eintritt verboten, vorläufig.

Während Ronnie fröhlich pfeifend seine Kugeln zu Dum-Dum-Geschossen ritzte, lernte Reggie, wie ein echter Geschäftsmann zu denken.

Crime, London, England, Circa 1960’s, The Kray Twins, Reg (left) and Ronnie Kray smoking a cigarette and drinking tea (Photo by Popperfoto via Getty Images/Getty Images)

Das wiederum scherte Ronnie einen Dreck. Er wollt Action: General Gordon vernichtet die Taiping. Damals zeichnete sich ab, was der englische Schriftsteller Robin Cook alias Derek Raymond, der einige Zeit selbst indirekt für die Krays gearbeitet hat, lakonisch auf den Punkt bringt: „Das Problem war, dass Reggie mit Ronnie nicht fertig wurde.“ Nachdem Ronnie jemanden, der sich „liberties“ – ein Schlüsselwort für die Krays – erlaubt hatte, ins Bein schoss, ohne dass das irgendwelche Folgen mit sich brachte, galten die Krays im Eastend als für die Polizei unberührbar.

Aber schließlich erwischten sie ihn doch. Wegen schwerer Körperverletzung wurde er Ende 56 zu drei Jahren verurteilt. Ronnie hatte damit keine Probleme. Er war der König des Knasts. Sein Bruder versorgte ihn ordentlich mit Tabak und Kaffee, die internationale Knastwährung.

Währenddessen legte Geschäftsmann Reggie weitere Grundsteine fürs Krays-Imperium. Er eröffnete nacheinander zwei erfolgreiche Klubs, den Double R-Club in der Bow Road und das Kentucky auf Mile End Road. Der Double-R-Club war der einzige Saloon im Eastend, in den Männer auch ihre Frauen mitbringen konnten, ohne dass sie angepöbelt wurden.
Reggie sorgte schon dafür, dass es in seinem Laden gesittet zuging.

Als sie Ronnie während seines letzten Knastjahrs nach Camp Hill auf die Isle of Wight verlegt wurde, brach seine Krankheit durch. Nie wieder würde er wie vorher sein. Paranoide Schizophrenie. Er begann Wahnvorstellungen zu bekommen und hielt seinen Bruder für einen russischen Spion, der sich als Reggie Kray ausgab.
Rita, eine Cousine der Zwillinge, meinte zu mir, Schuld waren die Elektroschocks, die man ihm verpasste.

Reggie holte ihn raus.
Sie tauschten im Besucherzimmer ihre Mäntel, und Ronnie spazierte einfach in die Freiheit. Als die Wärter merkten was los war, sagte Reggie lakonisch: „Es ist eure Sache auf ihn aufzupassen, nicht meine.

In den nächsten Jahren hatten sie immer mal wieder Ärger mit dem Gesetz, sackten aber nur kurze Haftstrafen oder Freisprüche ein. Ronnie mutierte auch äußerlich, wurde immer breiter, und die Ähnlichkeit der Zwillinge schwand. Sein Geisteszustand wurde bedenklicher. Nur Stematol und Alkohol hielten ihn einigermaßen im Gleichgewicht. Aber er rastete auch oft genug aus, und dann floss Blut.

Inzwischen kontrollierten sie auch Klubs im Westend. Sie hatten einen Nachteil zum Vorteil umgemünzt: Der schreckliche, aber auch großzügige Ronnie begann die bessere Gesellschaft zu faszinieren. Showstars, wie George Raft, Lita Roza, Diana Dors oder Judy Garland ließen sich gern mit ihnen fotografieren.

Manchmal musste Ronnie untertauchen. Dann saß er in einem völlig verdunkelten Appartement. Während er zwischen den Vorhängen aus dem Fenster nach der Polizei späte, hatte er eine Pistole in der Faust und hörte unentwegt seine Lieblingsschallplatten: die Durchhaltereden von Churchill. Wenn gar nichts mehr half, bestellte er seinen Psychiater zum Trafalger Square. Er ließ sich mit einer Sonnenbrille auf der Nase in einer dunklen Limousine hinfahren. Der Arzt stieg zu, hörte sich Ronnies Fantasien an und schrieb Rezepte aus.

Das Westend erwies sich als Goldgrube.
Die Legalisierung des Glücksspiels Anfang der 60er Jahre kam ihnen zugute: Sie beherrschten die Orte, die seit Jahren Reputation bei den Spielern genossen. Ronnie war das alles zu langweilig. Immer wieder zettelte er Schlachten an oder warf das eingenommene Geld mit vollen Händen raus.

Irgendwann fuhren sie gar nach Nigeria, um sich an einem abenteuerlichen Projekt zu beteiligen: Mitten im Dschungel sollte eine moderne Stadt aus dem Boden gestampft werden. Ronnie interessierte sich mehr für die Geheimgesellschaft der Leopardenmenschen und als der Minister fragte, was er Ronnie in Nigeria sonst noch zeigen solle, wollte dieser den Knast sehen. Der war gar nicht nach seinem Geschmack. Das Afrika-Abenteuer wurde zu einem finanziellen Fiasko. Trotzdem träumte Ronnie immer mal wieder davon, in Afrika auf Schatzsuche zu gehen oder mit einem Söldnerheer einen mittleren Staat zu erobern.

Reggie hatte inzwischen geheiratet.

Der Ehe war kein Glück beschieden. Die elf Jahre jüngere Frances Shea war eine mental instabile wohlbehütete Tochter. Reggie machte sie zu seiner Eastendprinzessin. Reibereien mit ihren Eltern und der ewige Störfaktor Ronnie sorgten schließlich dafür, dass Frances nicht mehr mit Reggie zusammenlebte. Er besuchte sie aber täglich und versuchte sie zurückzugewinnen.
Ein Eastender meinte, Frances sei verrückt gewesen.
1967 brachte sie sich nach zwei erfolglosen Versuchen mit Schlaftabletten um. In Reggie zerbrach etwas. Er begann hart zu trinken und hatte nicht mehr die Kraft, Ronnie etwas entgegenzusetzen. Kein Interesse mehr, ein angesehener Geschäftsmann zu werden. Ronnie wollte das sowieso nie. Sein erklärtes Berufsziel war schon immer Gangster.
Jetzt wurde er noch dominanter und intensivierte die Kontakte mit der amerikanischen Mafia. Gegnerische Gangs waren ausgeschaltet, und alles schien bestens zu laufen.

Aber in Südlondon tauchte eine neue Bedrohung auf: die Richardson-Gang, benannt nach zwei Brüdern, die ihre Zentrale auf einem Schrottplatz hatten.
Zu ihnen gesellte sich auch der Eastender Myers, der sich jetzt George Cornell nannte. „Abschaum“, wie Ronnie bemerkte, „ihm machte es Freude, Menschen zu quälen.“

Gegen die Richardson-Gang wirkten die Krays wie Waisenknaben, behaupteten sie jedenfalls. „Wenn wir jemanden einschüchtern wollten oder eine Rechnung zu begleichen hatten, schlugen wir ihn zusammen oder schossen ihm ins Bein. Die Richardson folterten. Ihr verdammter Schrottplatz war eine Folterkammer und Cornell ihr oberster Folterknecht.“

Die Richardsons


Erst versuchte man sich gütlich zu einigen: Keine der beiden Gangs sollte die Themse zur anderen Seite überschreiten.

Die Krays konnten keinen Ärger gebrauchen. Sie kamen gerade mit der amerikanischen Mafia richtig ins Geschäft, und die würde einen Gangsterkrieg gar nicht zu schätzen wissen. Aber die Richardsons gaben keine Ruhe.

George Cornell vorher…


Cornell, der von Ronnie mal einen Korb bekommen hatte als er ins Pornogeschäft einstieg, stachelte sie immer wieder auf. Die Zwillinge hatten ihre Spione überall, auch in Südlondon. Sie bereiteten sich auf einen unvermeidbaren Krieg vor. Ronnie putzte seine neuen Maschinenpistolen und war bester Laune.

„Sie hatten sich von unten hochgearbeitet. Und wer einmal oben sitzt, der lässt sich die Zügel nicht mehr aus der Hand reißen. Man überrollt den Feind, man zermalmt ihn unter den Rädern“, wie es bei William Kennedy heißt.

Nach einigen kleineren Plänkeleien, schickten die Richardsons ein Rollkommando:
Am 8. März 1966 stürmte die Gang Mr.Smith’s Club an der London-Eastbourne Road in Catford. Sie waren der Fehlinformation aufgesessen, dass die Krays und ihre Firma dort wären. Aber nur lokale Gangster und ein einziges Firmenmitglied, Richard Hart, labten sich an Getränken oder zockten bei Mr.Smith.
Zur Überraschung der Richardsons ballerten die einheimischen Gangster respektlos zurück. Eine echte Filmschießerei, in der sich die Combatanten hinter Black-Jack-Tischen verbarrikadierten.

Als die Polizei eintraf, waren Eddie Richardson und sein Hitman Frankie Fraser schwer verwundet. Die Polizei steckte die ganze Gang in den Knast, bis auf George Cornell, der rechtzeitig entwischen konnte. „Die Natter kroch unbemerkt durchs Gras vondannen“, wie es Ronnie sah.
Ein Toter blieb zurück: Richard Hart, Firmenangehöriger. Jetzt hätten die Krays es wirklich in der Hand gehabt: Ihre schlimmsten Rivalen hatten sich selbst schachmatt gesetzt, und sie hätten lässig ihr Königreich bis Brixton ausdehnen können.

Stattdessen tobte Ronnie vor Wut: Einer seiner Leute war umgelegt worden. Das konnte er nicht hinnehmen. Außerdem hatte Cornell ihn öffentlich eine „fette Tunte“ genannt. Dumm wie Cornell wohl war, setzte er sich am nächsten Tag mitten im Herzen von Krays-County in den Blind Beggar. Ronnie hörte es, ließ sich hinfahren, ging durch den ganzen Pub auf Cornell zu und schoß ihm mit seiner 9mm Mauser zu den Juke-Box-Klängen von THE SUN AIN’T GONNA SHINE ANY MORE der Walker Brothers in den Kopf.


..und nach dem Besuch des Blind Beggar.

P.S.: George Cornell’s son breaks 50-year silence: „I hate the Krays but people who hero worship them are worse“https://www.mirror.co.uk/news/uk-news/george-cornells-son-breaks-50-7571399

FORTSETZUNG FOLGT



GANGS OF LONDON – Es gibt ein Sterben nach den Krays oder Tod den Investoren by Martin Compart

London 2020.

Lange vorbei sind die Zeiten liebgewonnener Folklore, in der die Kray-Twins die Unterwelt beherrschten. Auch die Yardie-Romantik gehört weitgehend der Vergangenheit an. Ja, es gibt ein Leben nach den Krays, deren Eastend-Mythos den britischen Gangsterfilm bis heute beeinflusst. Heute ist London einer der größten moralischen Slums der Welt, in dem sie Evil-Twins kaum noch eine Chance hätten.

Aber nun werden neue Töne angeschlagen.

Das wird einem innerhalb der ersten drei Minuten der Eröffnungsszene klar, die an Brutalität in filmischer Eleganz alles übertrifft, was man bisher auf dem Bildschirm gesehen hat.

Die TV-Serie GANGS OF LONDON zeigt ein aktuelles, sicherlich überzeichnetes, Bild, wie Organisierte Kriminalität in der Finanzmetropole heute abläuft: Alle ethnischen Gruppen, von Albanern über Asiaten bis hin zu den Iren, haben sich in einem Aufsichtsrat zusammengeschlossen und die Märkte aufgeteilt. Hinter ihnen stehen Investoren (die in der Serie erstmal im Dunkel bleiben), die renditiert werden. Denn die City – immer auf der Suche nach lukrativen Anlagemöglichkeiten – schätzt das steuerfreie Geschäft mit Rauschgift, Mord, Prostitution und anderen illegalen Spezialgebieten. Hier sind die Kursgewinne gigantisch, hier tobt der Feudal-Kapitalismus ungehemmt auf höchstem Niveau.

Der Wahnsinn wirkt authentisch. Die Krays kennt hier niemand mehr.

Stattdessen romantisiert man den Zusammenschluss unterdrückter Ethnien zum ökonomischen Vorteilsstreben. Die Allianz zwischen dem irischen Kingpin und seinem schwarzen Adlatus resultiert aus Diskriminierungszeiten der 1970er: „No Blacks, No Irish. Illegitimate bastard children of the great British Empire. A city of closed doors brought us together.

Der Finanzmakler, eine Art irischer Mayer-Lansky, der dieses Profitmodell entwickelt hatte und anführt, wird in der Pilotfolge umgebracht, und sein nachfolgender Sohn löst durch eine falsche Marktstrategie („Alle Geschäfte stehen still, bis ich den Mörder meines Vaters habe.“) gewalttätige Tumulte aus, die an die Substanz der Unternehmen gehen.
Gespielt wird der Tycoon von Colm Meaney, Hackfresse und Legende des britischen Gangsterfilms.

Über den Bildschirm laufen nun gnadenlos choreographierte Brutalitäten, wie man sie zuvor noch nie gesehen hat. Dagegen wirken die meisten Martial-Arts-Filme wie Vorabend-Serien.

Heike Hupertz beschreibt das im F.A.Z.-Net vortrefflich: „…stimmig choreographierte Folge von Kampfszenen, die den Betrachter visuell überwältigen und unter Dauerspannung halten. Superbrutal, extraordinär, meisterlich geschnitten, auf präzise Weise gespielt, stimmen hier die Details, die Augenblicke, die Zeitlupen, die Zooms, die dramatischen Verzögerungen, jeder berserkerhaft gefilmte Kontrollverlust. Der Waliser Gareth Evans, zusammen mit dem Kamermann Matt Flannery Verantwortlicher der neunteiligen Actionserie Gangs of London, führt lediglich in der Pilotfolge und in der fünften Folge selbst Regie. Regie, die Maßstäbe für das Genre Untergrundkrieg der organisierten Kriminalität setzt.“
Sie weist auch zu Recht darauf hin, dass die Serie ebenfalls als Charakter-Drama funktioniert. Tatsächlich wirken die Gewaltorgien nie anorganisch in dieser komplexen Erzählung, die durch die ungewöhnlichen Charaktere und ihrer Gier nach Rache oder neoliberalem Wirtschaftsstreben vorangetrieben wird.

Schon jetzt ist klar, dass GANGS OF LONDON neue Maßstäbe setzt. Ästhetisch vergleichbar innovativ wie MIAMI VICE in den 1980er Jahren. Für das Genre des britischen Gangsterfilms ein stilistischer Quantensprung, der selbst die Aficionados schockiert und verwirrt. Um die dysfunktionale Zivilisation vorzuführen findet GANGS OF LONDON bisher nie gesehene Bilder und Szenen neben den genrespezifischen Topoi.

Der ehemals gefeierte „Erneuerer“ Guy Ritchie wirkte mit seinen Werken schon immer gestriger als VILLAIN, SEXY BEAST oder GET CARTER (deren Klassiker-Status nie zur Disposition steht).

Bereits mit dem Pilot-Film hat GANGS OF LONDON seine eigene Mythologie geschaffen und inszeniert. Wie bei VILLAIN und im Gegensatz zu Ritchie dient die erschreckende Brutalität nie dazu, pickeligen Popcornfressern ein debiles Lachen zu entlocken. Evans und Flannery meinen es ernst und mildern nichts durch ironische Seitenblicke. Schönes, heroisches Sterben, wie in französischen Gangsterfilmen (vor allem mit Alain Delon), gab und gibt es nicht im britischen Pendant.

Zwischen deutschen Produktionen und den besten internationalen liegen inzwischen Lichtjahre.
Das ist auch Jan Freitag aufgefallen; er schreibt im „Tagesspiegel“:
„Anders als deutsche Produktionen. Diese Wortkargheit ist es auch, mit der sich „Gangs of London“ von deutscher Redundanz distanziert. Eine Szene wie jene, als Sean 30 endlose Sekunden lang schweigend am offenen Sarg seines Vaters steht und Mutter Marian mit den Augen allein offenbart, wie abgrundtief sein Hass ist, wie übermächtig sein Ehrgeiz, scheint in deutscher Produktion schlicht undenkbar.“

Höhnisch meinte „The Indipendent“, dem die Serie weniger gut gefiel: „Evans’ series is an unholy combination of The Raid and EastEnders.“
Wie so viele Gangstergeschichten ist auch GANGS neben anderem eine Familien-Saga. Und anders als bei den Waltons oder Cartwrights hat hier jedes Familienmitglied etwas zu verbergen.

Gangsterepen sind inzwischen zu Symbolen des Kapitalismus geworden. Zeigen sie doch wunderbar in der beginnenden Endzeit der Klimakatastrophe, dass diese Form des Wirtschaftens auf denselben Vernichtungsstrategien eines Dschingis Khans beruht, nur effektiver dank technologischer Fortschritte. Mit Zivilisation hat das so viel zu tun wie das Morden und Plündern barbarischer Horden.

Man könnte über gelegentliche Klischees und Unstimmigkeiten der Serie mäkeln: Eine Gang-Organisation handelt gar mit Silikon-Puppen. Aber ich schließe mich da gerne GQ an: „sex dolls (we’re not sure why, given these are legal and easily available on the internet, but OK)“. Aber es sagt auch etwas über Klischeebruch aus, wenn ausgerechnet der mörderische Boss der Albaner-Gang wie der nette Nachbar rüberkommt.

Entwickelt wurde die Serie für Pulse-Films von dem preisgekrönten Filmemacher Gareth Evans (The Raid: Redemption) und seinem kreativen Partner Matt Flannery (Kamera). Beide arbeiteten schon für indonesische Martial-Arts-Filme. Evans nennt sein ästhetisches Konzept für London „Gothamized“.

Und „Empire“ erkennt: „Where Gangs Of London makes its biggest mark, however, is in an area that will surprise nobody who’s seen The Raid or its sequel. Having made their name in the Indonesian film industry, Evans and Flannery now import their own brand of hyper-kinetic, unflinchingly ferocious screen violence to the streets of our capital, with each episode featuring at least one virtuoso action sequence (even after Evans hands the directing reins to Corin Hardy, who in the fourth episode shows he’s as adept at action as he is horror).“

In England gab es wegen der Gewaltdarstellung viel Protest. Das hinderte aber nicht daran, dass die durchschnittlichen Zuschauerzahlen auf fast 1, 5 Millionen stiegen und die downloads im Mai 16,6 Millionen erreichten. Sie ist nach GAME OF THRONES die zweiterfolgreichste Serie von Sky Channel – und das „Okay“ zu einer zweiten Season war nur eine Formsache.

„The British gangster thriller has never fackin’ seen anything like this before.“ (Empire)

Autoren: Peter Berry, Claire Wilson, Carl Joos, Lauren Sequeira, Gareth Evans, Matt Flannery
Regisseure: Corin Hardy, Xavier Gens (drehte den Backwood-Kracher FRONTIER(S)), Gareth Evans
Hauptdarsteller: Joe Cole (Peaky Blinders), Sope Dirisu (Humans), Colm Meaney (Star Trek), Lucian Msamati (His Dark Materials), Michelle Fairley (Game of Thrones), Paapa Essiedu (Press), Pippa Bennett-Warner (Harlots).
Production Company: Pulse Films
Vorlage war ein gleichnamiges PSP-Video-Spiel von 2006.

P.S.:
Schön ist auch, was im Blog der freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft von Uwe Breitenborn zu der Serie zu lesen ist:

„Um es vorwegzunehmen: Ein außerordentlich hohes Gewaltlevel prägt die meisten Episoden, so dass sich der FSF-Prüfausschuss bei fünf der neun Episoden erst für eine Freigabe ab 18 Jahren entschied…

Auch wenn die Gewalthandlungen genretypisch exzessiv und zuweilen überchoreografiert sind, haben sie durchaus einen spekulativen Grundton. Eine gewisse Gewaltlust ist der drastischen Inszenierung nicht abzusprechen, was als sozialethisch desorientierend gewertet wurde. Einge Episoden erhielten aber auch eine Freigabe ab 16 Jahren. Bei ihnen wird dieser Altersgruppe zugetraut, sich von den Gewaltexzessen distanzieren und diese Szenen einordnen zu können. Die Gewaltexzesse sind dramaturgisch zumeist angebahnt und einordenbar. Es gibt zudem kaum deutlich positive Identifikationsfiguren…

Bemerkenswert ist die Komplexität und Vielschichtigkeit des Plots, der ein weit aufgefächertes Figurenensemble aufweist, eine faszinierende, aber auch zynische Inszenierung des neoliberalen Londons. Die Skrupellosigkeit des turbokapitalistischen Zeitgeistes durchweht jede Pore des Films. Luxus und Gosse sind fest verwoben, etwas Durchschnittliches gibt es hier nicht, nur Extreme. Das gilt für die exzellente Besetzung ebenso wie für die überbordende Gewalt, die sich wild über Genrekonventionen hinwegbewegt. Hier werden Bauernhäuser zu Kriegslandschaften, Gangrivalitäten zu Massakern und Beziehungen zu Folterhöhlen. Kriegsfilm, Splatter, Western, Gangsterdrama – ja, Oper müsste man eigentlich sagen. Ein Epos ohne Grenzen. All das muss man aushalten, man kann es auch bewundern. Aber getreu dem Motto eines regionalen Radiosenders ist zu sagen: Nur für Erwachsene!“


P.S.: Noch schlimmer, stärker in ihrem Nihilismus ist die zweite Staffel von 2022. Wie in der Realität geht auch in der Fiktion die organisierte Kriminalität in  den „normalen“ wirtschaftlichen und politischen Kreislauf über (das war schon immer so, aber nie so dreist). Eine Crime-Serie als Dystopie. Und eine Anthologie der Gier und der durch sie bedingten Verrohung.

<a href=“https://vg06.met.vgwort.de/na/4930d68d12bd404dae0843c48de2b69f?l=https://martincompart.wordpress.com/2020/07/30/gangs-of-london-es-gibt-ein-sterben-nach-den-krays/



Villain oder Die alles zur Sau machen by Martin Compart

Für Alle, die noch nach einem Weihnachtsgeschenk suchen: Wieder auf DVD erhältlich!

Vic Dakin (Richard Burton) ist ein Londoner Gangsterboss, der seine Kohle vor allem mit Schutzgelderpressung eintreibt. Vor Gewalt schrecken weder er noch seine Handlanger zurück: Da wird das Rasiermesser schon beim bloßen Verdacht, dass jemand geredet haben könnte, vom Chef höchstpersönlich gezückt und blutig zum Einsatz gebracht. Als ein Informant Dakin steckt, dass der Überfall auf einen Lohntransporter eine lohnende Unternehmung sein könnte, trommelt der Verstärkung zusammen und macht keine langen Faxen. Ohne große Vorbereitung wird der Coup gestartet und endet in einem totalen Clusterfuck, bei dem es zahlreiche demolierte Autos und zu Klump geschlagene Teilnehmer gibt. Der Kriminalbeamte Matthews (Nigel Davenport), der Dakin eh auf dem Kieker hat, braucht bei so viel Unfähigkeit gar keine großen Ermittlungen anstrengen …
(Remember it for later)

Wie gut kann ein reaktionärer Noir-Roman sein?

Fatalistische Noir-Romane von hoher Qualität gibt es reichlich im Genre (ich denke besonders an David Goodis oder James M.Cain). Aber diese sind eben fatalistisch, also resignativ und schicksalsergeben. Das Gegenteil von progressiv. Und doch haben sie progressive Aspekte, indem sie uns die Augen öffnen und zeigen, wie die Welt im Feudal-Kapitalismus funktioniert (der „reine“ Kapitalismus kennt keine feudalistischen Perversionen wie Erbrecht). Sie zeigen uns nur nicht, wie wir das ändern können. Dafür ist genremäßig wahrscheinlich eher die Science Fiction zuständig.

Aber was ich hier meine. Ist: Kann ein böser schwarzer Roman von einem zutiefst reaktionären Autor geschrieben werden und trotzdem gut sein?

Und ich meine nicht alttestamentarische Rachephantasien, die sich gerne mit Accessoires der Noir-Ästhetik ausstatten, wie etwa Mickey Spillane oder Cleve Adams.

Tatsächlich gibt es so einen Roman: THE BURDEN OF PROOF, 1968, des Briten James Barlow (1921-73). Der Ton ist so reaktionär wie heutige Rechts-Populisten und Marktideologen. Die Haltung eines zurückgebliebenen Tory. Und deshalb liest er sich 50 Jahre nach der Erstausgabe auch so aktuell wie Fake News von Boris Johnson:

“The pigeons excreted as they stood on the heads of statues of forgotten men of a time despised now by the liberals who knew better …”
“Nobody could do anything now without being accountable to the scorn of the liberal intellectuals in print or on television. England was too articulate at the top. Nobody, even in a Socialist liberal permissive society, had the slightest notion of the wishes of the people, out there beyond the great conversational shop of London.”

Es wimmelt von homophoben und rassistischen Äußerungen. Gangsterboss Vik Dakin ist ein schwuler Sadist, der nur die Mammi wirklich lieb hat (auch dies eine Reminiszenz an Ronnie Kray) – und dann noch den Striche Wolfe; jedenfalls auf seine spezielle Weise.

‘James Barlow is one of the most able thriller writers in the business, with an alarmingly acute eye for the degenerate quirks of society and the knack of unraveling a plot as complicatedly knit as spaghetti’
The Spectator

‘A wild and dizzy tale of crime and vice told at Barlow’s characteristic speed, which is furious …’
New Yorker

‘An outstandingly good “serious” crime novel, all the more enthralling for being moralistic, and with an ominous ending’
The Sunday Times

London ist ein bizarrer moralischer Sumpf für Barlow – es sind die Swinging Sixties, die alles in Frage stellen, was ein Krypto-Faschist so liebt.

„London was tired, seedy, cunning, ugly, here and there beautiful. In 1914 it had been at its most powerful; in 1940 at its most heroic. Now, in the 1960s, it was impotent: it had the principles and self-importance of an old queer… And, too often, views were accepted by the Government because they were proposed by the new establishment of Socialist MPs, liberal journalists and the apparatus of dons, students, South Bank churchmen, pop singers, professional satirists and pundits, none of whom must be offended. England was still in social ferment, with new variations of the class war….“

Barlow tobt durch die Seiten, wütet mit voller Feuerkraft gegen die Swinging Sixties und den Niedergang eines konservativen Britanniens, das es so nie gegeben hat, wie es sich sein reaktionäres Hirn ausmalte. „Bitter and brillant“, beschrieb ein Leser das Buch. Und es hat die Kraft großer Zorn-Literatur.

Richtig lustig wird es, wenn der konservative sadistische homosexuelle Gangsterboss Vik Dakin (deutlich an Ronnie Kray orientiert), sich darüber aufregt, dass die Arbeiter eines Unternehmens, dass er zu überfallen plant, streiken wollen.

‚These people are nothing,‘ he whispered savagely. ‚They’re statistics. They’re curves on a lot of graphs. Birthrates and VD and Protestants and readers of the Daily Express and purchasers of soap powder and visitors to Weymouth. They cry out to be exploited. They think because they can vote in Draycott they’re powerful, it’s a democracy. I’ll tell you what they are. Fools. There’s nothing special about them even when they’re English. Blood flows from a hole in the head whether you’re English or African or a Chinese tram driver. Well, you know, don’t you? Suckers to be exploited,‘ he concluded in contempt.

Ja, Vik Dakin erweist sich als wahrer Held der Evolution.

Auch Barlow zeigt ein realistisches Bild der Londoner Unterwelt. Dem Sadisten Dakin gelingt es dank der herrschenden Korruption, genau wie den Krays, lange Zeit vom Gesetz unangetastet seine Terrorherrschaft über das Eastend auszuüben

Bevor Barlow 1969 wutschnaubend England verließ, um nach Tasmanien zu gehen, schrieb er noch seine persönliche Abrechnung GOODBYE ENGLAND.

Wirklich positiv sind nur die Copper, allen voran DI Bob Matthews (im Film von dem ikonographischen Nigel Davenport gespielt), die aber von Politik und Justiz allein gelassen, bzw. verraten werden. Matthews Mission ist es, den Gangsterboss Vik Dakin für alle Zeiten hinter Gitter zu bringen, da es die Todesstrafe ja leider nicht mehr gibt.
Auch dies ist an der Realität orientiert: Der Scotland Yard Detektiv „Nipper“ Read hatte eine Sonderkommission gegründet, um die Krays-Zwillinge aus dem Verkehr zu ziehen. Der Roman erschien in dem Jahr, als die Krays verhaftet wurden (am 8.Mai), um für den Rest ihres Lebens ins Gefängnis zu gehen. Zwischen Matthews und Dakins Hass ist nicht genug Platz für Sonnenlicht.

Die Widmung des Romans lautet: „To the policemen of England, who are still the salt of the earth“. Der amerikanische Verlag unterschlug die Widmung.

Während der Film sich auf die Londoner Unterwelt, insbesondere auf Vik Dakin konzentriert, will das Buch das Versagen des Systems, insbesondere die Justiz, aufzeigen.

Die Justiz repräsentiert ein Richter: „He had not been in a public bar for forty years or in a café or cinema for sixteen. He was accorded the pomp which belonged to medieval times and this tended to guard him from the realities of life. Because he heard so many things in court and others at the High Table of his Inn of Court, at the Reform Club and the Oxford and Cambridge, and from the pages of the Times, he was able to, and often did, offer opinions on matters which interested or irritated him. He had recently ordered out of court a girl wearing a mini-skirt and had then spoken for five minutes on modern morality and youth. But in fact he knew about them only from the pages of newspapers. He regarded with amused contempt the psychiatrists who came before him. He was honest and perhaps earned a quarter of his £10,000 a year. He would not have believed it if he had been told that one witness now about to appear before him had been intimidated and that one counsel was more or less employed by gangsters, not in a condition of impartiality (for anyone is entitled to employ a barrister if he can find the money), but of willing purchase. He sat for 225 days each year with the wig over his head and his glasses cutting his nose slightly, and believed that England was unique because her government and law were not corrupt. But neither was true any more.“

Für Barlow zeigt sich Justiz als institutionalisierte Unfähigkeit.

Barlows Blick auf London spiegelt auch die Schockwirkung der Jugendrebellion auf das Establishment. Für ihn steht England vor dem Kollaps. Der Niedergang Englands interessiert die Film-Version weniger.
Er konzentriert sich ganz auf das Charisma von Burton und die Londoner Unterwelt. Burton ist ein furchterregendes Monster, dass seine Umwelt terrorisiert (bis auf Mammi, mit der er schöne Ausflüge nach Brighton macht). Seine Gewalt bricht hervor wie ein Vulkanausbruch, nicht immer vorhersehbar. Er verachtet die Schwachen, verschmäht die „normalen Bürger”, deren Leben „telly all week and screw the wife on Saturdays“ ist. Er lebt unter denen, die er terrorisiert, ist gerne in seinem Stamm-Pub, um Furcht und Schrecken zu verbreiten. Auch Dakin hasst gesellschaftlichen Fortschritt. Gangster sind konservativ und überzeugte Kapitalisten, logisch. Jugendlicher Vandalismus gefährdet einen Coup, denn dadurch wurde ein Münztelefon zerstört. Dakins Empfindungswelt besteht überwiegend aus Verachtung der Mitmenschen. Er fühlt sich als Souverän, der über das Kriegsrecht entscheidet. Trotz seiner systemimmanenten Gier nach materiellem Wohlstand, ist seine normzersetzende anarchische Brutalität zu diesem historischen Moment unakzeptabel. Warlords in einer westlichen Großstadt sollten erst später in der Finanzkriminalität legitimiert werden.

„Dakin ist eben nicht, wie es bei so vielen Gangsterfilmen der Fall ist, ein Antiheld, dessen Außenseitertum der Zuschauer insgeheim bewundern soll, sondern ein unentschuldbares Arschloch.“ (Oliver Nöding in REMEMBER IT FOR LATER)

Der Film, der in den USA ein Flop war und bei uns unter dem schönen Titel DIE ALLES ZUR SAU MACHEN in Vorort-Kinos lief, gehört zu den unterschätztesten und unbekanntesten britischen Noir-Filmen. Neben JACK RECHNET AB und DER AUS DER HÖLLE KAM ist er aber sicherlich der beste Brit-Noir-Film der 1970er! VILLAIN hatte nur wenige Wochen nach GET CARTER Premiere.

Um so erschreckender, wie wenig er gewürdigt wird. In Steve Chibnail und Robert Murphys verdienstvollem Werk BRITISH CRIME CINEMA (Routledge, 1999) kommt VILLAIN nur ganz am Rande vor (ausführlich werden nur die Eingriffe des Zensors Trevalyan dargestellt).

Die Adaption des Romans besorgte dem amerikanische Schauspieler und Theaterregisseur Al Lettieri – unsterblich als Heavy in GETAWAY und MR.MAJESTIC!
Nach seinem Treatment schrieben die beiden Fernsehautoren Dick Clement und Ian LaFresnais, die vor allem als Comedy-Autoren für das britische Fernsehen bekannt waren, das Drehbuch.

Als Regisseur stand der in Berlin geborene Michael Tuchner fest, der zuvor ausschließlich für das Fernsehen gearbeitet hatte. Tuchner ging nach VILLAIN in die USA, um dort zu arbeiten.

Ursprünglich sollte Derren Nesbitt die Hauptrolle in dem als B-Picture geplanten Film spielen. Aber Liz Taylor, die damals mit Burton zum ersten Mal verheiratet war, drehte in London, und Richard suchte nach einem Film, den er gleichzeitig in London drehen konnte.

Der amerikanische Produzent Elliott Kastner (zusammen hatten sie gerade WHERE EAGLES DARE gemacht) bot ihm VILLAIN an, der mit Burtons Zusage umgehend zum A-Picture mutierte. Burton bekam damals pro Film eine Million Dollar, was das Budget nicht hergab. Deshalb verpflichtete sich Burton dazu, ohne Honorar zu spielen und dafür einen hohen Prozentsatz an den Einspielergebnissen (man munkelt 30%) zu erhalten.

Burton war ein begeisterter und leidenschaftlicher Leser von Crime Fiction; zu seinen Lieblingsautoren zählte John D. MacDonald.

Als Fan von Edward G. Robinson, James Cagney und Humphrey Bogart wollte er schon lange mal einen Gangster verkörpern. „I suppose like the fat man who would have loved to be a ballet dancer… I usually play kings or princes or types like that“, sagte er während der Dreharbeiten, „I’ve never played a real villain… Interesting type. I’m not sure about this film. We’ll see.“ ´In seinem Tagebuch vermerkte er: “It is a racy sadistic London piece about cops and robbers – the kind of ‚bang bang – calling all cars‘ stuff that I’ve always wanted to do and never have. It could be more than that depending on the director. I play a cockney gangland leader who is very much a mother’s boy and takes her to Southend and buys her whelks etc but in the Smoke am a ruthless fiend incarnate but homosexual as well. All ripe stuff.”

Dass der Film sich trotz seines relativ geringen damaligen Erfolges für Burton gelohnt hatte, geht aus der Tagebuchaufzeichnung vom 21 August 1971 hervor: „Received a cable… from [executive] Nat Cohen saying the notices for [the film]… superb and great boxoffice, and another cable said we expect a million pounds from UK alone. That means about $1/2 m for me if I remember correctly. There is no accounting for differing tastes of Yanks and English critics. Villain was received badly in the US and with rapture in the UK. I know it is cockney and therefore difficult for Yanks to follow but one would have thought the critics to be of sufficiently wide education to take it in their stride. The English critics, after all, are not embarrassed when they see a film made in Brooklynese. Anyway I am so delighted that it is doing well in UK. Otherwise I would have doubted E'(lizaberh)s and my judgement in such matters. I thought it was good and she said she knew it was good. The American reaction was therefore a surprise.”

In der Nebenrolle als bisexueller Stricher Wölfi (dem Burtons ganzes Liebesinteresse gilt und mit dem er nur Sex haben kann, wenn er ihn zuvor prügelt) ist der junge Ian McShane zu sehen. Kein Wunder, dass ihn diese frühen traumatischen Erfahrungen direkt nach DEADWOOD führten.

In einem Interview von 2013 erinnerte sich McShane an die Arbeit mit Burton:
„After kissing me, he’s going to beat the hell out of me and it’s that kind of relationship – rather hostile. It was very S&M. It wasn’t shown in the film. He said to me, ‚I’m very glad you’re doing this film.‘ I said, ‚So am I Richard.‘ He said, ‚You know why, don’t you?‘ I said, ‚Why?‘ He said, ‚You remind me of Elizabeth.‘ I guess that made the kissing easier.
Die Szene wurde dann aus dem Film herausgeschnitten, und man erkennt nur aus dem off, was die Beiden so treiben. Sie erschien den Produzenten wohl als unzumutbar für das sensible Publikum, das VILLAIN ansprechen sollte.

Gedreht wurde VILLAIN 1970 zehn Wochen in London, natürlich auch im East End.

BARLOW-BIBLIOGRAPHIE:

Protagonists (1956)
One Half of the World (1957)
The Man with Good Intentions (1958)
The Patriots (1960)
Term of Trial (1961)
The Hour of Maximum Danger (1962)<a
This Side of the Sky (1964)
One Man in the World (1966)
The Love Chase (1967)
The Burden of Proof (1968)
aka Villain
Goodbye, England (1969)
Liner (1970)
Both Your Houses (1971)
In All Good Faith (1971)