Martin Compart


THRILLER, DIE MAN GELESEN HABEN SOLLTE: P.M. HUBBARD by Martin Compart

„Mein absoluter Favorit, auch in literarischer Hinsicht, ist der leider völlig in Vergessenheit geratene P.M.Hubbard. Er schrieb nur sechzehn Thriller. Aber die gehören zum allerbesten. In keinem ein überflüssiges Wort. Wer lernen will, wie man einen erstklassigen Thriller schreibt, sollte Hubbard studieren.“ (Jonathan Gash)

Philip Maitland Hubbard gehört zu den literarischen Schätzen, von denen man nur ganz wenige in einem Leserleben heben wird. Einer dieser Autoren, die trotz ihrer überragenden Qualitäten nie die Bekanntheit erreichen, die ihnen zustehen würde.
Die Glücklichen, die diese Schriftsteller zufällig oder durch einen Hinweis entdecken, werden ihre Bücher – die sich unauslöschlich ins Hirn brennen – hüten, pflegen, und immer wieder zu ihnen greifen. Und sie reihen sich wahrscheinlich in eine Kult-Gemeinde ein, die nicht sehr groß ist, aber beglückt von dieser Lektüre, immer auf der vergeblichen Suche, vergleichbares zu entdecken.

Diese Autoren sind leider nicht für die Mehrheit der Leser bestimmt (wie ihr begrenzter Erfolg und ihre Vergessenheit belegen); sie gehören einer eifrigen Minderheit.

P.M. Hubbard gehört genau in diese Kategorie.

Wie Kafka ist er kein Schriftsteller, der einen überfällt. Er nimmt subtil von einem Besitz, indem er erst ganz zart an die Kehle greift und immer stärker zudrückt.

Philip Maitland Hubbard wurde am 9 November 1910 in Reading in Berkshire geboren. Aus gesundheitlichen Gründen zog sein Vater mit der Familie auf die Kanalinsel Guernsey. Hier entwickelte Hubbard wohl seine tiefe Liebe zum Meer und zur Natur. Sein Großvater, Henry Dickenson Hubbard (1824–1913), war ein Kirchenmann der Church of England und hinterließ ein beachtliches Vermögen.

Er besuchte das Elizabeth College, Guernsey, studierte dann am Jesus College in Oxford. Dort gewann er 1933 den Newdigate Prize for Poetry für das Gedicht „Ovid among the Goths“.

1934 trat er in den Dienst des Indian Civil Service. Er beendete seine Karriere als letzter District Commissioner des Punjab, bevor Indien 1947 unabhängig wurde.
Anschließend kehrte er nach England zurück und arbeitete in der Verwaltung des British Council, wurde dann stellvertretender Verwaltungsdirektor der Handelsgewerkschaft.

Ab 1960 arbeitete er hauptberuflich als freier Publizist und Schriftsteller. Er schrieb Artikel und Sketche für den „Punch“ und Gedichte. „Most of my `serious´ poetry has remained unpublishable in my period, because it rhymes and scans. I write a good deal of verse for Punch between 1950 & 1962. Of course a lot of comic, satirical, topical & occasional stuff, but occasionally, when the editor wasn’t looking too closely, lapses into poetry (as I see it.).”
Seit den frühen 1950ern schrieb er Science Fiction-Kurzgeschichten, u.a. für so renommierte Magazine wie „The Magazine of Fantasy and Science Fiction“.

1963 erschien sein erster Roman:FLUSH AS MAY. Ihm folgten fünfzehn weitere Thriller (nur sieben davon wurden für die Rowohlt-Thriller-Reihe ins Deutsche übersetzt) und zwei Kinderbücher. HIGH TIDE wurde 1980 fürs Fernsehen in der ITV-Reihe „Armchair Thriller“ mit Ian McShane verfilmt.

Er ließ sich im Horsehill Cottage, Stoke in Dorset nieder, wo er mit seiner Frau und den drei Kindern Jane, Caroline und Peter, bis zur Scheidung lebte. 1973 zog er in den Südwesten von Schottland, der sich von da an stark in seinen Büchern niederschlug.

Er starb am 17, März 1980 in Newton Stewart, Galloway. In seinem Testament bestimmte er eine Pension für seine Exfrau, ihr „unbehelligtes Leben“ im Horsehill Cottage und für seine Kinder einen Trust.


Sein letzter Roman war sein einziger Agenten-Thriller: KILL CLAUDIO, 1979 (der Titel ist ein Shakespeare-Zitat aus VIEL LÄRM UM NICHTS). In ihm findet der Geheimagent Ben Selby heraus, dass sein Freund statt seiner ermordet wurde. Die Witwe bittet ihn, den Mörder zu finden und zu töten. Der politische Hintergrund spielt keine wirkliche Rolle.

Das Thema ähnelt einigen von Hubbards vorherigen Thrillern und erlaubt ihm eine atemberaubende Menschenjagd in der Tradition von Buchan und Household.
Wie sein erster Thriller, FLUSH AS MAY (eher ein klassischer Detektivroman), beginnt er mit einem Leichenfund während eines Spazierganges. Mike Ripley und H.R.F. Keating nahmen KILL CLAUDIO 2000 in ihre 101 CRIME THRILLERS OF THE 20.CENTURY auf (Keating tat dies bereits 1987 in CRIME & MYSTERY – THE 100 BEST BOOKS).

Hubbard erfand nie einen Serienhelden (dabei dürfte sein Protagonist aus A HIVE OF GLASS, der fanatische Antiquitätenjäger Johnnie Slade, einen gewissen Einfluss auf Jonathan Gashs Helden Lovejoy ausgeübt haben) und Polizisten tauchen kaum in seinen Thrillern auf. In Hubbards atavistischen Welt haben Ordnungskräfte wenig bis keine Bedeutung.

Seine Protagonisten verfügen über einen scharfen Verstand und sie sind deduktionsfähig, aber mit klassischen Detektivromanhelden haben sie nichts zu tun. Sie leben in einer Welt voller Gier, Neid und Leidenschaft, die auf Mord und Totschlag zuläuft. In einer Atmosphäre wie in modernisierten gotischen Schauerromanen.

Seine “Helden” (weibliche Protagonisten gibt es nur in zwei Romanen, FLUSH AS MAY und THE QUIET RIVER) sind meistens gebildete Männer (etwa Schriftsteller), die sich gut ausdrücken können und über einen starkem Willen verfügen. Sie teilen häufig die Interessen ihres Schöpfers: Jagdsport, Segeln, Volksglaube oder Shakespeare.
Sie geben wenig Auskunft über ihr Vorleben, haben anscheinend nichts mit Institutionen zu tun und so gut wie kein gesellschaftliches Leben. Falls doch, leben sie zum Beginn der Handlung in ihren urbanen Professionen wie getarnte Psychopathen:

„Ich ließ nur das schmallippige Lächeln sehen, das ich mir in der Schule einem bestimmten Direktor gegenüber angewöhnt hatte. Soviel Hass wie auf den Direx hätte ich für Mr. Hastings gar nicht aufgebracht. Hauptsächlich wünschte ich mich weg. Weg aus London.“

Sie sind so isoliert wie die Welt, in die sie ihr Autor versetzt. Der konzentriert sie ganz auf das ablaufende Geschehen und ihre emotionalen Effekte.
Sie kommen oft aus einem scheinbar vorenthaltenen Leben mit kargen Freuden scheuen weder Risiken noch Chancen. Besonders dann nicht, wenn sie eine verbotene Fruchtpflücken wollen (vor allem in Form von Liebe zu einer verbotenen Frau).
Und sie kommen fast immer von außen in eine schwer durchschaubare Welt, die sie zu umklammern beginnt.

Jochen Schmidt schrieb über Hubbards amoralische Protagonisten:
„Hubbard selbst lässt mit keinem Wort erkennen, dass er das Tun und Lassen seines Helden missbilligt… Die Inhumanität – also auch die Schuld des Erzählers – ergibt sich nur aus dem Sprachduktus dieser unsentimentalen Rollenprosa… Vielleicht ist es diese Gefühlskälte vieler Hubbardscher Figuren, die den ständig ins kalte Wasser geschickten Leser dieser vorzüglichen Romane gelegentlich frösteln lässt“ (GANGSTER, OPFER, DETEKTIVE; Ullstein, 1988, S.321f.).

“The place is generally in fact the principal character in the book, because, again, places mean more to me than people.”

Hubbards Bücher sind “rurale Thriller” oder “Country Noir”. Keiner von ihnen spielt in einer Metropole oder in einer urbanen Umgebung. Handlungsorte sind Küstenstriche, Highlands, Inseln oder unheimliche Wälder mit noch unheimlicheren Häusern (sein Können, die Natur beklemmend erfahrbar zu machen, wird gelegentlich mit dem nicht minder großartigen Arthur Machen verglichen), gelegentlich von Überresten paganer Kultur durchdrungen. Grenzgebiete einer atavistischen Welt, die auch das Bewusstsein der Figuren widerspiegelt. Immer wieder betonen Theoretiker eine gewisse Nähe zur Gothic Novel bei Hubbard, dort, wo „erhabene Natur die Komplizin des Bösen“ (Hans Richard Brittnacher) ist.

In diesem Sinne könnte man Hubbards Romane gar als Backwood-Thriller einordnen.

Mentale und physische Isolation gehört zu den wiederkehrenden Motiven.
Hubbard ist ein Konservativer, der das moderne großstädtische Leben kaum kannte.
So behauptete er ernsthaft 1969 in COLD WATERS:
„In London gab es nur ein oder zwei Räumlichkeiten, wo man für so viele Leute (Jahresparty eines Unternehmens) ein Essen arrangieren konnte.“

Er hatte auf Guernsey gelebt, über ein Jahrzehnt in Nordindien und nach seiner Rückkehr wohl einige Zeit in London, bevor er sich in einem ländlichen Cottage niederließ, wo er einsam seiner schriftstellerischen Tätigkeit nachging. Bis auf gelegentliche Besuche beim „Punch“ oder bei Verlagen, dürfte er wenig großstädtisches Leben erfahren haben. Die schockierenden Swinging Sixties sind wohl einigermaßen spurlos an ihm vorbei gegangen.

Er kommt mir vor wie von der Nachkriegszeit enttäuschter Brite, den der Verlust des Empires desillusioniert in die Wälder und aufs Wasser getrieben hat. Von Britannien war für ihn nur noch der rurale Kern (bis in die schottischen Highlands) akzeptabel und lebenswert. Aber da er kein Reaktionär war, sah er auch den dort möglichen Horror. Seine Verbrechen entspringen weniger gesellschaftlichen Umständen, sondern der menschlichen Natur im Hobbesschen Sinne oder der Psychopathie.

Jochen Schmidt hat darauf hingewiesen, dass merkwürdiger Weise Hubbards langjähriger Aufenthalt in Indien keinen oder kaum einen Niederschlag in seinem Werk gefunden hat. Lediglich THE COUNTRY OF AGAIN spielt hauptsächlich in Pakistan (Punjab).

Die Geschichten entwickeln sich langsam aber treibend, bauen eine Atmosphäre zunehmender Paranoia auf, getragen von der bedrückenden Umgebung, bis sie schließlich in Morden explodieren. Vor dem Ende gibt es nur wenige physische Konfrontationen, aber eine immer gegenwärtige, sich steigernde Atmosphäre der Gewalt. Ein großer Reiz dieser Thriller ist diese drohende Stimmung einer unmittelbar bevorstehenden Zerstörung.

Die Gewalt baut sich unterschwellig auf und wird dann immer bedrohlicher. Das Gewaltpotential wird zurückgehalten, steigert sich latent bis zum Ausbruch. Hubbard lässt es den Leser spüren, benutzt seine Phantasie antizipatorisch. Der innere Dialog entwickelt die Spannung von Seite zu Seite.
Wenn diese Gewalt dann explodiert, trifft sie den Leser wie ein Faustschlag in den Bauch. Schockierender als Splatter-Punk.

“I have too little sympathy with other people to be a good novelist (a general male failing, which is why most of the great novels are written by women), but my English rests on a severely traditional classical education, which I have no doubt is the only sound basis for using English properly…. . By this I mean that I am in myself a egotist, and tend to see people mainly as factors in my own situation, whereas I should have thought that a novelist must (or at least on occasion be able to) take a God’s-eye view of them. Of course all fiction writers are egotists, and a certain degree of egotism is necessary to impose a unity on their imagined world and people. But they ought to be able to envisage other people’s feeling more clearly than probably I can.” (Briefe an Tom Jenkins in 1973)

Hubbards intensive Ich-Erzähler monologisieren sehr filmisch. Deshalb sind seine Thriller ein Geheimtipp für intelligente Regisseure. Bisher wurde lediglich ein Buch von ihm für das Fernsehen adaptiert.

Die Romane sind relativ kurz und lesen sich schnell. Das entspricht Hubbards Suspense-Konzept und erfüllt es maximal. Im Gegensatz zu den meisten Page-Turnern bleiben die Bücher im Gedächtnis. Spannung, Charaktere und Atmosphäre sind so originell, so ungewöhnlich, dass man sich noch Jahrzehnte später rudimentär erinnert.

Jedes Buch enthält lediglich vier Hauptpersonen mit der Konzentration auf den Protagonisten, der fast immer der Ich-Erzähler ist. Der erzählt in klaren, kurzen Sätzen, vermeidet Adjektive und Wortschwall. Die Geschichten erzählen sich von selbst durch die Augen des Protagonisten. Kontrafaktisches ist für den Leser kaum erkennbar.
Unter der Meisterschaft von Hubbard baut sich alles zu einem literarischen Universum zusammen, dass in der Thriller-Literatur nichts Vergleichbares kennt. Obwohl ihm Jonathan Gash manchmal nahekommt (besonders in den Action-Szenen der frühen Lovejoys).

In kurzen Sätzen voller Eleganz beschreibt er brutale, geradezu mythische Konflikte in einer einsamen Natur. Bei ihm gibt es keine sinnlosen Sätze, keine Redundanz (durch die fast alle heutigen Thriller ihren voluminösen Umfang erreichen). In der Regel geht es um einen amoralischen Protagonisten, der durch Umstände zu einer Aktion gezwungen wird, die weitere Handlungen nach sich zieht – bis zu einem entweder desaströsen oder „befriedigendem“ Ende.

Die düstere Psychologie in Hubbards Romanen rief bei einigen Kritikern Vergleiche mit Patricia Highsmith hervor. Seine Faszination für Wasser und Segeln ließen andere Kritiker an Andrew Garve denken, der aber ein viel optimistischeres Weltbild hat und weniger getrieben ist.

Dem literaturgeschichtlichen Sortierzwang entzieht er sich weitgehend.

Und so hat Philip Maitland Hubbard gearbeitet:

„I start with the one or two characters necessary to carry the theme, and then I just start writing and see what happens. Fresh characters introduce themselves, existing characters do unexpected things and the thing just goes on growing. At some point, obviously, I have to stop and say, in effect, “Well, what is this about? What really is going to happen?” But I may be two-thirds of the way through the book by then. Even then I don’t conceive the solution in more than general terms, but of course the further I go, the more precisely I can see ahead. I do very occasionally have to go back and change a few details at the start of the book which no longer fit its outcome, but it is odd how seldom this happens. This is because the thing is conceived and built up as an organic growth. the later parts fit the earlier parts simply because they have developed naturally out of them. Even the final solution is not something imposed from the outside, but is precisely the explanation of all that has gone before. In detail, I write very much as it falls out, writing in my own minuscule hand (700+ words to a quarto page), and changing very little, and that only for purely verbal reasons, so that you may get several consecutive pages of ms. with no corrections at all. When I have finished, I copy it out laboriously on my typewriter, and the result is the text as printed. I cannot consider such a thing as a re-draft, because once the book is down on paper, it is dead so far as I am concerned, and a postmortem may be possible, but not surgery.“

BIBLIOGRAPHIE:

Flush as May (1963)
Picture of Millie (1964)
A Hive of Glass (1966)
The Holm Oaks (1966)
The Tower (1968)
The Custom of the Country (as The Country of Again in US) (1969)
Cold Waters (1969)
High Tide (1971)
The Dancing Man (1971)
A Whisper in the Glen (1972)
A Rooted Sorrow (1973)
A Thirsty Evil (1974)
The Graveyard(1975)
The Causeway (1976)
The Quiet River (1978)
Kill Claudio (1979)

JUGENDBÜCHER:
Anna Highbury (1963)
Rat Trap Island (1964)

Eine Bibliographie der deutschen Übersetzungen für Rowohlt findet sich unter:

Hubbard, P.M.



http://zerberus-book.de/



THRILLER, DIE MAN GELESEN HABEN SOLLTE: DIE LOVEJOY-SERIE VON JONATHAN GASH by Martin Compart

Als 1977 mit THE JUDAS PAIR (LOVEJOYS DUELL) der erste Lovejoy-Roman von Jonathan Gash in England veröffentlicht wurde, ahnten sicherlich die wenigsten Kritiker und Leser, daß hier eine der erfolgreichsten Serienfiguren der britischen Pop-Kultur ihr Debut gab.

41msDJA-RPL._SL500_SS500_Zwar konnte man sofort erkennen, welche Potenz der liebenswerte Mistkerl hat, aber würde der bisher unbekannte Autor Jonathan Gash auch das Stehvermögen haben, auf diesem hohen Niveau regelmäßig weitere Abenteuer vorzulegen?

Zu unser aller Glück gelang das Mr.Gash bis 2008 mit 23 Fortsetzungen (wobei nicht verschwiegen werden soll, dass auch die Lovejoy-Serie Höhen und Tiefen mit besseren und schlechteren Romanen durchläuft).

Das Lovejoys erstes Auftreten gleich den John Creasey Award der Crime Writers Association als bester Erstling des Jahres erhielt, war nur noch eine Formsache. In den nächsten Jahren erschienen in immer höheren Auflagen weitere Romane und machten aus dem Antiquitätenhändler einen der populärsten fiktionalen Helden der angelsächsischen Literatur. Vielleicht nicht in derselben Liga wie Sherlock Holmes, James Bond, Phil Marlowe, Tarzan oder Flashman – aber sein Ruhm wächst ja noch. Nachdem er die Länder des Commonwealth erobert hat, ist sein Erfolg in den die USA, wo die TV-Serie äußerst erfolgreich im Kabel ausgestrahlt wurde und die Romane im renommierten Verlag Mysterious Press erscheinen, eher begrenzt.

Die bisherigen Versuche, die Serie auch bei uns zu etablieren, sind leider gescheitert: Scherz veröffentlichte den ersten Lovejoy in der damaligen Krimi-Reihe (ohne weitere folgen zu lassen), und ich die ersten drei Romane in der DuMont-Noir-Reihe. Vielleicht ist die Mischung aus hartem Thriller, höherem Bildungsniveau und Zynismus nichts für das deutsche Publikum, das sich eher mit flachen Regionalkrimis oder tumben Serienkiller-Blutorgien erfreut. Gash ist eher etwas für Leser mit einem gewissen Anspruch (und die lesen wahrscheinlich sowieso nur die Originale).

Gash

Lovejoy war eine neue Form des Antihelden, der einiges den angry young men der 50er Jahre verdankt. Ein Frauenheld, immer etwas schmuddlig, skrupellos und tierlieb. Ein Ich-Erzähler, der den Leser von der ersten Zeile an in den Bann schlägt und nicht mehr los lässt.

Auch wenn die Plots des Autors Gash manchmal ziemlich schräg sind und gelegentlich auch schon mal weniger originell, legt man die Romane befriedigt aus der Hand. Denn letztlich liest man Lovejoys haarsträubende Abenteuer vor allem wegen des Tons und der Stimme des Ich-Erzählers, der einen mit Witz und Sarkasmus durch die Seiten jagt und dem es trotzdem gelingt atemlose Thrillerspannung aufzubauen. Es gibt zwar immer deduktive Elemente in den Romanen, aber sie sind doch eher dem Thriller als dem Detektivroman zuzuordnen. Gash ist großartig, wenn er Lovejoy durch physische Ausnahmesituationen hetzt.

Jonathan Gash ist ein Pseudonym des britischen Autors John Grant (ein weiteres ist „Graham Gaunt“, unter dem er 1981 den Thriller THE INCOMER veröffentlichte).

Er wurde am 30.September 1933 in Bolton, Lancashire geboren. Er studierte Medizin in London und absolvierte seinen Wehrdienst im Sanitätscorps, das er im Rang eines Majors verließ. Als Pathologe arbeitete er u.a. von 1962 bis 1965 in Hannover und Berlin. Anschließend führte ihn ein Lehrauftrag an die Universität von Hongkong. Er war von 1970 bis 1988 Mitglied der Royal Society of Medicine und war abt 1988 privater Spezialist für Infektions- und Tropenkrankheiten. 1955 heiratete er Pamela Richard, mit der er drei Töchter hat, die ihn bisher zum vierfachen Großvater machten.

Seinen ersten schriftstellerischen Erfolg feierte er am Theater: 1976 wurde in Chester, Cheshire sein Stück TERMINUS aufgeführt. Ein Jahr später betrat sein Held Lovejoy die Bühne im ersten Roman: LOVEJOYS DUELL (THE JUDAS PAIR).
205 Nach seiner Rückkehr aus Hongkong hatte Gash mit dem ersten Lovejoy-Roman begonnen. „Ich dachte an eines dieser Phantome, die durch die Literatur und Kunstwelt geistern: Shakespeares verloren gegangenes Stück oder die verschwundenen Tagebücher von Dr.Johnson. Und ich dachte an diese Antiquitätenjägerlegenden wie der zufällig auf einem Dachboden entdeckte Rembrandt. Das Judas-Paar ist so ein Mythos. Man weiß, dass Durs zwölf Paare Duellpistolen angefertigt hat, aber kein dreizehntes.“

Gash wählte bewusst ein Pseudonym, da Ärzte damals keine Werbung für sich machen durften und auch die Veröffentlichung eines Buches als unerlaubter Wettbewerbsvorteil zu seinem Ausschluss aus der Ärztekammer hätte führen können. Der Slangausdruck „gash“, der unter den Antiquitätenhändlern des Eastends viel benutzt wurde, entsprang ursprünglich der Roma-Sprache des 18.Jahrhunderts und bedeutet soviel wie „absolut wertlos“.

Gashs Interesse für Antiquitäten entwickelte sich in jungen Jahren. Als Medizinstudent arbeitete er für einen Antiquitätenhändler in der Cutler Street, um sein Studium zu finanzieren. Hier traf er viele der merkwürdigen Typen, die später verschlüsselt als Charaktere in den Romanen wieder auftauchten.

„In den 5oer Jahren war das Business in den Händen einiger wirklich harter Jungs. Ich nenne keine Namen, aber einige sind heute noch bekannt und berüchtigt. Wenn man für die arbeitete, musste man schnell lernen und durfte keinen Fehler machen. Sonst bekam man Ärger, schlimmen, lebensgefährlichen Ärger.“ Einige der brutalsten Szenen in den Büchern sind nicht der Phantasie des Autors entsprungen, sondern der Realität entlehnt.

Er begann sich auch dafür zu interessieren, wie Kunstwerke hergestellt werden, welche handwerklichen Voraussetzungen nötig sind. Er nahm Malunterricht bei Tom Keating, und er entwickelte ein Talent zum Aufspüren von Antiquitäten. Sein Doppelleben faszinierte ihn: „In der Medizin muss man einfach stur gewisse Dinge lernen. Weiß ist weiß und schwarz ist schwarz. Es gibt Gesetze, auf die man sich verlassen kann. Im Antiquitätengeschäft gilt das nur teilweise. Vieles hat mit Instinkt zu tun. Es gibt Leute, die brauchen einen Gegenstand nur anzusehen und wissen, ob er echt ist. Die machen keine Untersuchungen oder Spektralanalysen. Die wahren Könige der Szene. Ich wurde oft mit einem Stück zu so einem Kerl, Divvie genannt, geschickt. Manchmal sah er nur kurz aus den Augenwinkeln hin und schüttelte den Kopf. Das war’s dann. Er fasste es nichtmal an. Bis zu einem gewissen Grad verfüge ich ebenfalls über diese Fähigkeit. Aber sie läßt mit dem Alter nach.gashrag

Jonathan Gash nimmt seine Lovejoy-Romane nicht besonders ernst. Das heißt nicht, dass er sich nicht sehr viel Mühe mit ihnen gibt. Aber das zunehmende Interesse durch Akademiker an der Figur verwundert ihn. „Es ist reine Unterhaltung. Aber heutzutage kann man ja schon eine Doktorarbeit schreiben, wenn man herausfindet, wo G.K.Chesterton seinen Tabak gekauft hat.“ Da fröhnt ein großartiger englischer Autor dem typisch britischen understatement. Schließlich verlangt es einem Schriftsteller ein hohes Maß an Können ab, sich in eine Figur wie Lovejoy konsequent über hunderte von Seiten zu versetzen und die Welt durch seine Augen zu betrachten, den oft kunstvollen Handlungsaufbau gar nicht berücksichtigt. Gash erreicht, was nur den wirklich großen Autoren des Genres gelingt: eine völlig individuelle, unverwechselbare Figur erzählen zu lassen, die in ihrem Kosmos absolut glaubwürdig ist. Ohne Titel und Autor zu kennen, wüsste der Gash-Leser nach wenigen Sätzen, dass er einen Lovejoy-Roman vor sich hat.

Gash ist ein instinktiver Schriftsteller: „Ich plane nichts, mache keine Outline. Ich setze mich vor ein leeres Blatt Papier und weiß nicht, was dabei rauskommt“, sagt er. „Erst beim Schreiben überlege ich, was als nächstes passieren wird.“ Er schreibt seine Bücher mit dem Füllfederhalter. Dann korrigiert er das Manuskript zuerst mit roter Tinte und bei einem zweiten Durchgang mit grüner. „Am Ende sieht es aus wie der Plan der Londoner U-Bahn.“ Anschließend geht das Manuskript zum Abtippen. „Für meine medizinische Arbeit benutze ich einen Computer, aber einen Roman könnte ich nie darauf schreiben.

In seiner spärlichen Freizeit ist er ein leidenschaftlicher Leser, der sich für alles interessiert. Auch Kriminalliteratur liest er gerne, nur keine police procedural mehr. „Wahrscheinlich habe ich zulange als Pathologe gearbeitet. Ich kann diese harten Sachen von Wambaugh und seinen Epigonen nicht mehr lesen. Ich liebe William Goldman und Elmore Leonard, und ich mag Colin Dexter und Ruth Rendell. Ich mag Trevanian sehr und Adam Halls Quiller-Romane. Und ich bewundere Mario Puzo, Morris West und James Hadley Chase. Mein absoluter Favorit, auch in literarischer Hinsicht, ist der leider völlig in Vergessenheit geratene P.M.Hubbard. Er schrieb nur sechzehn Thriller. Aber die gehören zum Allerbesten. In keinem ein überflüssiges Wort. Wer lernen will, wie man einen erstklassigen Thriller schreibt, sollte Hubbard studieren.“ Der Schotte Philip Maitland Hubbard (1910-1980) konnte ähnlich schweißtreibende Menschenjagden erzählen wie Gash.

lovejoy-season-3

Der Bestsellererfolg in der englischsprachigen Welt führte 1987 zu einer langlebigen Fernsehserie der BBC, in der Ian McShane bis 1994 in 90 Folgen einen gesofteten Lovejoy spielte. Selbst bei den Wiederholungen lockt die Serie in Großbritannien bis zu vierzehn Millionen Zuschauer an und ist damit eine der erfolgreichsten englischen TV-Serien. Es sagt einmal mehr negatives  über die deutsche Fernsehlandschaft mit ihren andauernden Wiederholungen der immer selben Serien aus, dass kein Sender diesen potentiellen Hit auf deutsche Bildschirme gebracht hat.

„Anfangs hat mir das nicht gefallen. Sie haben einiges verändert, aber das Fernsehen gehorcht anderen dramaturgischen Prinzipien. Außerdem sind sie erfolgreich. Man muss sich damit abfinden, dass eine TV-Adaption eben eine Interpretation der Bücher ist. McShane ist nicht schlecht. Der Charakter von Lovejoy ist da, auch wenn es eine harmlosere TV-Version ist.“

Gerade der Erfolg in den USA führte dazu, dass Lovejoys Charakter in der TV-Serie immer mehr verwässert wurde. Während er in den Büchern immer am Rande des völligen Bankrotts agiert, war der Volvo-Fahrer der Fernsehserie nie ohne Strom und Gas und nahm als anerkannter Weinkenner an den Polospielen der Windsor Castle-Elite teil. „Ich mag die Serie, weil sie das wunderschöne ländliche England zeigt. Ich mochte sie aus mehreren Gründen, aber keiner davon hat etwas mit den Originalgeschichten zu tun. Die Produzenten haben mich x-mal gebeten Drehbücher zu schreiben. Aber das ist eine Horrorvorstellung. Damit will ich nichts zu tun haben.“

Trotz aller berechtigter Kritik: Für mich wird Lovejoy immer das Gesicht von Ian McShane haben.

Merkwürdigerweise sind die meisten Fans des nicht gerade angenehmen Weiberhelden Lovejoy Frauen. Gashs Verlag hatte vor einigen Jahren eine Untersuchung gemacht. Demnach werden seine Bücher zu 63% von Frauen und zu 37% von Männern gekauft. „Ich dachte schon, ich bin ein Autor für Frauen. In der Woche nach der Veröffentlichung eines neuen Romans bekomme ich ungefähr fünfzig Briefe; sie sind immer von Frauen. Ich glaube, Frauen kriegen genau mit, dass Lovejoy kein dumpfer Macho ist, sondern ein großer Junge. Wie die meisten Kerle tief in ihrem Inneren. Frauen durchschauen uns: Sie wissen, wann wir bluffen und den starken Mann markieren. Immer wieder fragt man mich in Interviews nach Lovejoys Chauvinismus. Es ist ein beharrliches Missverständnis, das offensichtlich nicht auszurotten ist. Er ist kein Chauvi, er ist das ganze Gegenteil davon. Und es sind immer Männer, die damit anfangen.“
Seit einigen Jahren schreibt Gash auch noch historische Romane und eine weitere Thriller-Serie um die Protagonistin Dr.Clare Burtonall,

DIE LOVEJOY-ROMANE:

1. LOVEJOYS DUELL (THE JUDAS PAIR), 1977
2. LOVEJOYS GOLD (GOLD FROM GEMINI), 1978.
3. LOVEJOYS GRAL (THE GRAIL TREE), 1979.
4. SPEND GAME, 1980.
5. THE VATICAN RIP, 1981.
6. FIREFLY GADROON, 1982.
7. THE SLEEPERS OF EDEN, 1983.
8. THE GONDOLA SCAM, 1983.
9. PEARLHANGER, 1985.
10. THE TARTAN RINGERS, 1986.
11. MOONSPENDER, 1986.
12. JADE WOMAN, 1988.
13. THE VERY LAST GAMBADO, 1989.
14. THE GREAT CALIFORNIA GAME, 1990.
15. THE LIES OF FAIR LADIES, 1992.
16. PAID AND LOVIN EYES, 1993.
17. THE SIN WITHIN HER SMILE, 1993.
18. THE GRACE IN OLDER WOMEN, 1995.
19 .POSSESSIONS OF A LADY, 1996.
20. THE RICH AND THE PROFANE, 1999.
21. A RAG, A BONE AND HANK OF HAIR, 1999
22. EVERY LAST CENT, 2001.
23. TEN WORD GAME, 2003.
24, FACES IN THE POOL, 2008.


 



Villain oder Die alles zur Sau machen by Martin Compart

Für Alle, die noch nach einem Weihnachtsgeschenk suchen: Wieder auf DVD erhältlich!

Vic Dakin (Richard Burton) ist ein Londoner Gangsterboss, der seine Kohle vor allem mit Schutzgelderpressung eintreibt. Vor Gewalt schrecken weder er noch seine Handlanger zurück: Da wird das Rasiermesser schon beim bloßen Verdacht, dass jemand geredet haben könnte, vom Chef höchstpersönlich gezückt und blutig zum Einsatz gebracht. Als ein Informant Dakin steckt, dass der Überfall auf einen Lohntransporter eine lohnende Unternehmung sein könnte, trommelt der Verstärkung zusammen und macht keine langen Faxen. Ohne große Vorbereitung wird der Coup gestartet und endet in einem totalen Clusterfuck, bei dem es zahlreiche demolierte Autos und zu Klump geschlagene Teilnehmer gibt. Der Kriminalbeamte Matthews (Nigel Davenport), der Dakin eh auf dem Kieker hat, braucht bei so viel Unfähigkeit gar keine großen Ermittlungen anstrengen …
(Remember it for later)

Wie gut kann ein reaktionärer Noir-Roman sein?

Fatalistische Noir-Romane von hoher Qualität gibt es reichlich im Genre (ich denke besonders an David Goodis oder James M.Cain). Aber diese sind eben fatalistisch, also resignativ und schicksalsergeben. Das Gegenteil von progressiv. Und doch haben sie progressive Aspekte, indem sie uns die Augen öffnen und zeigen, wie die Welt im Feudal-Kapitalismus funktioniert (der „reine“ Kapitalismus kennt keine feudalistischen Perversionen wie Erbrecht). Sie zeigen uns nur nicht, wie wir das ändern können. Dafür ist genremäßig wahrscheinlich eher die Science Fiction zuständig.

Aber was ich hier meine. Ist: Kann ein böser schwarzer Roman von einem zutiefst reaktionären Autor geschrieben werden und trotzdem gut sein?

Und ich meine nicht alttestamentarische Rachephantasien, die sich gerne mit Accessoires der Noir-Ästhetik ausstatten, wie etwa Mickey Spillane oder Cleve Adams.

Tatsächlich gibt es so einen Roman: THE BURDEN OF PROOF, 1968, des Briten James Barlow (1921-73). Der Ton ist so reaktionär wie heutige Rechts-Populisten und Marktideologen. Die Haltung eines zurückgebliebenen Tory. Und deshalb liest er sich 50 Jahre nach der Erstausgabe auch so aktuell wie Fake News von Boris Johnson:

“The pigeons excreted as they stood on the heads of statues of forgotten men of a time despised now by the liberals who knew better …”
“Nobody could do anything now without being accountable to the scorn of the liberal intellectuals in print or on television. England was too articulate at the top. Nobody, even in a Socialist liberal permissive society, had the slightest notion of the wishes of the people, out there beyond the great conversational shop of London.”

Es wimmelt von homophoben und rassistischen Äußerungen. Gangsterboss Vik Dakin ist ein schwuler Sadist, der nur die Mammi wirklich lieb hat (auch dies eine Reminiszenz an Ronnie Kray) – und dann noch den Striche Wolfe; jedenfalls auf seine spezielle Weise.

‘James Barlow is one of the most able thriller writers in the business, with an alarmingly acute eye for the degenerate quirks of society and the knack of unraveling a plot as complicatedly knit as spaghetti’
The Spectator

‘A wild and dizzy tale of crime and vice told at Barlow’s characteristic speed, which is furious …’
New Yorker

‘An outstandingly good “serious” crime novel, all the more enthralling for being moralistic, and with an ominous ending’
The Sunday Times

London ist ein bizarrer moralischer Sumpf für Barlow – es sind die Swinging Sixties, die alles in Frage stellen, was ein Krypto-Faschist so liebt.

„London was tired, seedy, cunning, ugly, here and there beautiful. In 1914 it had been at its most powerful; in 1940 at its most heroic. Now, in the 1960s, it was impotent: it had the principles and self-importance of an old queer… And, too often, views were accepted by the Government because they were proposed by the new establishment of Socialist MPs, liberal journalists and the apparatus of dons, students, South Bank churchmen, pop singers, professional satirists and pundits, none of whom must be offended. England was still in social ferment, with new variations of the class war….“

Barlow tobt durch die Seiten, wütet mit voller Feuerkraft gegen die Swinging Sixties und den Niedergang eines konservativen Britanniens, das es so nie gegeben hat, wie es sich sein reaktionäres Hirn ausmalte. „Bitter and brillant“, beschrieb ein Leser das Buch. Und es hat die Kraft großer Zorn-Literatur.

Richtig lustig wird es, wenn der konservative sadistische homosexuelle Gangsterboss Vik Dakin (deutlich an Ronnie Kray orientiert), sich darüber aufregt, dass die Arbeiter eines Unternehmens, dass er zu überfallen plant, streiken wollen.

‚These people are nothing,‘ he whispered savagely. ‚They’re statistics. They’re curves on a lot of graphs. Birthrates and VD and Protestants and readers of the Daily Express and purchasers of soap powder and visitors to Weymouth. They cry out to be exploited. They think because they can vote in Draycott they’re powerful, it’s a democracy. I’ll tell you what they are. Fools. There’s nothing special about them even when they’re English. Blood flows from a hole in the head whether you’re English or African or a Chinese tram driver. Well, you know, don’t you? Suckers to be exploited,‘ he concluded in contempt.

Ja, Vik Dakin erweist sich als wahrer Held der Evolution.

Auch Barlow zeigt ein realistisches Bild der Londoner Unterwelt. Dem Sadisten Dakin gelingt es dank der herrschenden Korruption, genau wie den Krays, lange Zeit vom Gesetz unangetastet seine Terrorherrschaft über das Eastend auszuüben

Bevor Barlow 1969 wutschnaubend England verließ, um nach Tasmanien zu gehen, schrieb er noch seine persönliche Abrechnung GOODBYE ENGLAND.

Wirklich positiv sind nur die Copper, allen voran DI Bob Matthews (im Film von dem ikonographischen Nigel Davenport gespielt), die aber von Politik und Justiz allein gelassen, bzw. verraten werden. Matthews Mission ist es, den Gangsterboss Vik Dakin für alle Zeiten hinter Gitter zu bringen, da es die Todesstrafe ja leider nicht mehr gibt.
Auch dies ist an der Realität orientiert: Der Scotland Yard Detektiv „Nipper“ Read hatte eine Sonderkommission gegründet, um die Krays-Zwillinge aus dem Verkehr zu ziehen. Der Roman erschien in dem Jahr, als die Krays verhaftet wurden (am 8.Mai), um für den Rest ihres Lebens ins Gefängnis zu gehen. Zwischen Matthews und Dakins Hass ist nicht genug Platz für Sonnenlicht.

Die Widmung des Romans lautet: „To the policemen of England, who are still the salt of the earth“. Der amerikanische Verlag unterschlug die Widmung.

Während der Film sich auf die Londoner Unterwelt, insbesondere auf Vik Dakin konzentriert, will das Buch das Versagen des Systems, insbesondere die Justiz, aufzeigen.

Die Justiz repräsentiert ein Richter: „He had not been in a public bar for forty years or in a café or cinema for sixteen. He was accorded the pomp which belonged to medieval times and this tended to guard him from the realities of life. Because he heard so many things in court and others at the High Table of his Inn of Court, at the Reform Club and the Oxford and Cambridge, and from the pages of the Times, he was able to, and often did, offer opinions on matters which interested or irritated him. He had recently ordered out of court a girl wearing a mini-skirt and had then spoken for five minutes on modern morality and youth. But in fact he knew about them only from the pages of newspapers. He regarded with amused contempt the psychiatrists who came before him. He was honest and perhaps earned a quarter of his £10,000 a year. He would not have believed it if he had been told that one witness now about to appear before him had been intimidated and that one counsel was more or less employed by gangsters, not in a condition of impartiality (for anyone is entitled to employ a barrister if he can find the money), but of willing purchase. He sat for 225 days each year with the wig over his head and his glasses cutting his nose slightly, and believed that England was unique because her government and law were not corrupt. But neither was true any more.“

Für Barlow zeigt sich Justiz als institutionalisierte Unfähigkeit.

Barlows Blick auf London spiegelt auch die Schockwirkung der Jugendrebellion auf das Establishment. Für ihn steht England vor dem Kollaps. Der Niedergang Englands interessiert die Film-Version weniger.
Er konzentriert sich ganz auf das Charisma von Burton und die Londoner Unterwelt. Burton ist ein furchterregendes Monster, dass seine Umwelt terrorisiert (bis auf Mammi, mit der er schöne Ausflüge nach Brighton macht). Seine Gewalt bricht hervor wie ein Vulkanausbruch, nicht immer vorhersehbar. Er verachtet die Schwachen, verschmäht die „normalen Bürger”, deren Leben „telly all week and screw the wife on Saturdays“ ist. Er lebt unter denen, die er terrorisiert, ist gerne in seinem Stamm-Pub, um Furcht und Schrecken zu verbreiten. Auch Dakin hasst gesellschaftlichen Fortschritt. Gangster sind konservativ und überzeugte Kapitalisten, logisch. Jugendlicher Vandalismus gefährdet einen Coup, denn dadurch wurde ein Münztelefon zerstört. Dakins Empfindungswelt besteht überwiegend aus Verachtung der Mitmenschen. Er fühlt sich als Souverän, der über das Kriegsrecht entscheidet. Trotz seiner systemimmanenten Gier nach materiellem Wohlstand, ist seine normzersetzende anarchische Brutalität zu diesem historischen Moment unakzeptabel. Warlords in einer westlichen Großstadt sollten erst später in der Finanzkriminalität legitimiert werden.

„Dakin ist eben nicht, wie es bei so vielen Gangsterfilmen der Fall ist, ein Antiheld, dessen Außenseitertum der Zuschauer insgeheim bewundern soll, sondern ein unentschuldbares Arschloch.“ (Oliver Nöding in REMEMBER IT FOR LATER)

Der Film, der in den USA ein Flop war und bei uns unter dem schönen Titel DIE ALLES ZUR SAU MACHEN in Vorort-Kinos lief, gehört zu den unterschätztesten und unbekanntesten britischen Noir-Filmen. Neben JACK RECHNET AB und DER AUS DER HÖLLE KAM ist er aber sicherlich der beste Brit-Noir-Film der 1970er! VILLAIN hatte nur wenige Wochen nach GET CARTER Premiere.

Um so erschreckender, wie wenig er gewürdigt wird. In Steve Chibnail und Robert Murphys verdienstvollem Werk BRITISH CRIME CINEMA (Routledge, 1999) kommt VILLAIN nur ganz am Rande vor (ausführlich werden nur die Eingriffe des Zensors Trevalyan dargestellt).

Die Adaption des Romans besorgte dem amerikanische Schauspieler und Theaterregisseur Al Lettieri – unsterblich als Heavy in GETAWAY und MR.MAJESTIC!
Nach seinem Treatment schrieben die beiden Fernsehautoren Dick Clement und Ian LaFresnais, die vor allem als Comedy-Autoren für das britische Fernsehen bekannt waren, das Drehbuch.

Als Regisseur stand der in Berlin geborene Michael Tuchner fest, der zuvor ausschließlich für das Fernsehen gearbeitet hatte. Tuchner ging nach VILLAIN in die USA, um dort zu arbeiten.

Ursprünglich sollte Derren Nesbitt die Hauptrolle in dem als B-Picture geplanten Film spielen. Aber Liz Taylor, die damals mit Burton zum ersten Mal verheiratet war, drehte in London, und Richard suchte nach einem Film, den er gleichzeitig in London drehen konnte.

Der amerikanische Produzent Elliott Kastner (zusammen hatten sie gerade WHERE EAGLES DARE gemacht) bot ihm VILLAIN an, der mit Burtons Zusage umgehend zum A-Picture mutierte. Burton bekam damals pro Film eine Million Dollar, was das Budget nicht hergab. Deshalb verpflichtete sich Burton dazu, ohne Honorar zu spielen und dafür einen hohen Prozentsatz an den Einspielergebnissen (man munkelt 30%) zu erhalten.

Burton war ein begeisterter und leidenschaftlicher Leser von Crime Fiction; zu seinen Lieblingsautoren zählte John D. MacDonald.

Als Fan von Edward G. Robinson, James Cagney und Humphrey Bogart wollte er schon lange mal einen Gangster verkörpern. „I suppose like the fat man who would have loved to be a ballet dancer… I usually play kings or princes or types like that“, sagte er während der Dreharbeiten, „I’ve never played a real villain… Interesting type. I’m not sure about this film. We’ll see.“ ´In seinem Tagebuch vermerkte er: “It is a racy sadistic London piece about cops and robbers – the kind of ‚bang bang – calling all cars‘ stuff that I’ve always wanted to do and never have. It could be more than that depending on the director. I play a cockney gangland leader who is very much a mother’s boy and takes her to Southend and buys her whelks etc but in the Smoke am a ruthless fiend incarnate but homosexual as well. All ripe stuff.”

Dass der Film sich trotz seines relativ geringen damaligen Erfolges für Burton gelohnt hatte, geht aus der Tagebuchaufzeichnung vom 21 August 1971 hervor: „Received a cable… from [executive] Nat Cohen saying the notices for [the film]… superb and great boxoffice, and another cable said we expect a million pounds from UK alone. That means about $1/2 m for me if I remember correctly. There is no accounting for differing tastes of Yanks and English critics. Villain was received badly in the US and with rapture in the UK. I know it is cockney and therefore difficult for Yanks to follow but one would have thought the critics to be of sufficiently wide education to take it in their stride. The English critics, after all, are not embarrassed when they see a film made in Brooklynese. Anyway I am so delighted that it is doing well in UK. Otherwise I would have doubted E'(lizaberh)s and my judgement in such matters. I thought it was good and she said she knew it was good. The American reaction was therefore a surprise.”

In der Nebenrolle als bisexueller Stricher Wölfi (dem Burtons ganzes Liebesinteresse gilt und mit dem er nur Sex haben kann, wenn er ihn zuvor prügelt) ist der junge Ian McShane zu sehen. Kein Wunder, dass ihn diese frühen traumatischen Erfahrungen direkt nach DEADWOOD führten.

In einem Interview von 2013 erinnerte sich McShane an die Arbeit mit Burton:
„After kissing me, he’s going to beat the hell out of me and it’s that kind of relationship – rather hostile. It was very S&M. It wasn’t shown in the film. He said to me, ‚I’m very glad you’re doing this film.‘ I said, ‚So am I Richard.‘ He said, ‚You know why, don’t you?‘ I said, ‚Why?‘ He said, ‚You remind me of Elizabeth.‘ I guess that made the kissing easier.
Die Szene wurde dann aus dem Film herausgeschnitten, und man erkennt nur aus dem off, was die Beiden so treiben. Sie erschien den Produzenten wohl als unzumutbar für das sensible Publikum, das VILLAIN ansprechen sollte.

Gedreht wurde VILLAIN 1970 zehn Wochen in London, natürlich auch im East End.

BARLOW-BIBLIOGRAPHIE:

Protagonists (1956)
One Half of the World (1957)
The Man with Good Intentions (1958)
The Patriots (1960)
Term of Trial (1961)
The Hour of Maximum Danger (1962)<a
This Side of the Sky (1964)
One Man in the World (1966)
The Love Chase (1967)
The Burden of Proof (1968)
aka Villain
Goodbye, England (1969)
Liner (1970)
Both Your Houses (1971)
In All Good Faith (1971)