Filed under: Comics, Politik & Geschichte, Science Fiction | Schlagwörter: Andreas C.Knigge, Auclair, comics, Cross Cult, Jean Giono, Science Fiction, Simon vom Fluss, Tintin
In den frühen 70er Jahren erschien SIMON VOM FLUSS in der Wochenzeitung „Tintin“. Sein Schöpfer, Claude Auclair (1943-90), stand kurz vor seinem dreißigsten Geburtstag und war noch nicht lange als Comiczeichner tätig. Nichtsdestotrotz entflammte sein Werk DIE BALLADE DES ROTSCHOPFS und dessen literarischer Ausdruck, in dem Auclairs Bewunderung für Jean Giono und dessen LIED DER WELT anklang, schon von Anfang an eine leidenschaftliche Debatte unter den Lesern der Zeitung.
„Als ich die BALLADE DES ROTSCHOPFS zu zeichnen begann, wollte ich Giono meine Anerkennung zollen und dem Geist seines Romans nachspüren, in dem ich mich so sehr wiedergefunden hatte. Ein anonymes Schreiben an den Verlag bezichtigte mich des Plagiats. Ich musste mich an Gionos Verlag Gallimard wenden. Die Antwort war: Ich hätte achttausend Francs für die Rechte zu zahlen und durfte meine Geschichte nicht nach der Erstveröffentlichung nachdrucken.“
Bald folgten CLAN DER ZENTAUREN und DIE SKLAVEN – mit ihnen ein düsterer Ausblick auf die Zukunft und Chroniken der kommenden Zeiten. Eine Comicklassiker, der entschieden ernst und eindringlich von einer postapokalyptischen Welt berichtet, die sich aus den Ruinen einer atomaren Katastrophe erheben muss.
Dieser umfangreiche Sammelband enthält die Alben DIE BALLADE DES ROTSCHOPFS (als deutsche Erstveröffentlichung), DER CLAN DER ZENTAUREN, DIE SKLAVEN sowie ein unveröffentlichtes 36-seitiges Dossier von Patrick Gaumer und ein neues Vorwort von Andreas C. Knigge.
Nach der neunbändigen Ausgabe durch den Carlsen-Verlag in den 1980ern ist dies der erste Band einer kompletten Serienedition in drei Bänden, prachtvoll gestaltet mit Hintergrundsmaterial als großformatiges Hardcover.
SIMON VOM FLUSS 1
GESAMTAUSGABE
von
Claude Auclair
Cross Cult
ISBN: 978-3-96658-532-3
35,00 €
Erscheinungsdatum: 22.11.2021
Sonderformat, HC, 4c, 186 Seiten
Als SIMON VOM FLUSS 1973 erstmals in „Tintin“ auftauchte, war das eine Sensation. DIE BALLADE DES ROTSCHOPFS hätte man eher in „Pilote“ erwartet oder in „Metal Hurlant“ (das aber erst ab 1975 erscheinen würde).
Zeichner und Texter Auclair legte die ersten Grundlagen für einen dystopischen SF-Comic, der zum Klassiker wurde und zu den besten gehört.
Die beiden großen Magazine „Tintin“ und „Spirou“ steckten bereits in den 1960 Jahren in einer Krise und versuchten neue Wege zu gehen, ohne die etablierten Konzepte ganz aufzugeben. Andreas C. Knigge beleuchtet die Situation in seinem Vorwort.
SIMON wurde der bisher radikalste Comic in Folge der 1968er Revolte in einem „Jugendmagazin“ der 9.Kunst.
Auclairs Comic ist voller Anspielungen auf die damalige Zeit des Aufbruchs und seine politische Haltung radikal links:
„Für mich ist Gewalt die logische Reaktion auf Unterdrückung. Sie entsteht durch eine ihr vorhergehende Gewalt, der sich nun mal nichts anderes entgegnen lässt. Obwohl das zutiefst bedauerlich ist, vermag ich doch nicht zu erkennen, dass Gewaltlosigkeit die Lösung ist. In SIMON wollte ich diese Gewaltspirale aufzeigen, indem ich sie so ungeschönt und realistisch wie möglich zeige.“
Seine Action-Szenen scheinen mir stark vom Italo-Western beeinflusst.
Im Eingeständnis der Verzweiflung über die gescheiterte Revolution sucht Auclair stilistisch und inhaltlich neue Wege zu gehen – wie es sein Landsmann Manchette zeitgleich für den Noir-Roman tat.
Für mich eine der besten und wichtigsten Neuerscheinungen der letzten Jahre. Beklemmend aktuell. „SIMON VOM FLUSS ist seiner Zeit in vielerlei Hinsicht voraus. Das reicht von den starken autonomen Frauenfiguren… bis hin zur Unterschiedlichkeit der Protagonisten durch Hautfarbe oder individuelle Lebensform: Fast scheint es, als seien die heutigen Debatten um Identität und Diversität schon längst geführt.“ (Andreas C. Knigge in seinem Vorwort)
Weihnachtsgefühle werden bei der Lektüre allerdings nicht aufkommen.
http://www.claude_auclair.hjschumacher.nl
Filed under: Dr. Horror, Science Fiction | Schlagwörter: Ataman Kalmykow, Daniel Galouye, Dr.Horror, George Orwell, Perry Rhodan, Philip K.Dick, Rolf Giesen, Science Fiction, Stanislaw Lem
Was für eine Zeit für Science-Fiction-Autoren!
Man kann die Zukunft mit Händen greifen. Die aktuelle Pandemie beschleunigt letztlich die Zeitenwende.
Aber wo sind diese Autoren in Deutschland?
Wo sind Schriftsteller wie George Orwell, der Neusprech beschrieben hat, wohinter wir heute mit Leichtigkeit die Computersprache der neuen digitalen „Übermenschen“ (frei nach Nietzsche) erkennen: komplett mit USB-Sticks, Android-App, WhatsApp, Clouds, ALGOL, BASIC, Backup, Base Memory, Excel, Scan und Drive, influencing und monitoring (Überwachung, aha!), Slash. Für sie, die diese Sprache sprechen, existiert kein Problem, alles wird zur Challenge und ist sofort online. Wenn die Digitalen die neuen „Übermenschen“ sind, was lässt sich dann über die Analogen sagen?
Stanisław Lem sah Nanotechnologie, künstliche Intelligenz und Virtuelle Realität voraus, die er Phantomatik nannte: künstlich und medial erzeugte Bewusstseinstäuschung. Während Wernher von Braun (I Aim at the Stars – but sometimes I hit London) in Peenemünde an Hitlers sogenannten Vergeltungswaffen arbeiteten, kämpfte der in Lemberg (Lwów) geborene Lem im besetzten Polen um sein Leben. Der Medizinstudent verschleierte mit gefälschten Papieren seine jüdische Herkunft und überlebte, im Gegensatz zu Familie und Verwandten, den Holocaust. In seinen utopischen Büchern finden sich die Spuren einer traumatischen Vergangenheit als Holocaust-Überlebender.
Daniel Francis Galouye, der in seinem Roman Simulacron-3 (im deutschen Fernsehen bekannt als Fassbinders Welt am Draht) das Höhlengleichnis Platons weiterspann und schon 1964 eine virtuelle Parallelgesellschaft erfand, die nichts von ihrer Scheinhaftigkeit ahnt. Eine schöne neue Welt – wie Aldous Huxley sie nannte.
Philip K. Dick, Paranoiker und Visionär: „Ich habe mal eine Geschichte geschrieben, in der es um einen Mann geht, der einen Unfall hat und ins Krankenhaus gebracht wird. Als er auf dem Operationstisch liegt, zeigt sich, dass er kein Mensch, sondern ein Android ist, was er selbst aber nicht weiß. Man muss ihm die Neuigkeit schonend beibringen.“
Der Bedeutendste unter diesen aber ist der vergessene, verdrängte Tscheche Karel Čapek, denn ohne sein 1920 erschienenes Drama R.U.R. (Rossumovi Universálni Roboti) würden wir heute gar nicht von Robotern sprechen. 1937 wurde sein Stück Bílá nemoc von und mit Hugo Haas verfilmt: Die weiße Krankheit.
Čapek musste noch erleben, wie kurz vor seinem Tod Hitler in die Prager Burg marschierte und die Staatsbank um ihr Gold erleichterte. In der Weißen Krankheit beschrieb er einen Autokraten wie Hitler (und – mit diesem nicht zu vergleichen, doch traut man auch ihm mittlerweile einen Staatsstreich zu: Donald T., die Karikatur eines Präsidenten, die Carl Barks nicht besser hätte zeichnen können). Diesem Diktator sind die Jungen wichtiger, denn sie braucht er zum Kriegführen. Menschen im fortgeschrittenen Alter werden derweil von einem Virus hinweggerafft, das sich durchs Händeschütteln verbreitet und, weil zuerst in einem chinesischen Krankenhaus nachgewiesen, das chinesische (!) heißt.
Leider haben wir in Deutschland keinen Čapek, nicht mal ein schnelles Internet (da hinkt es dann auch mit der Intelligenz, zumal der künstlichen): nur noch die traurigen Reste von Perry Rhodan, dem einstigen Star der sogenannten Raketenhefte, wir haben Andreas Eschbach, der immerhin ein Perry-Rhodan-Prequel schrieb, wir haben Wolfgang Hohlbein, der in Goethes Weimar geboren wurde, aber an diesen trotz seiner Auflagenrekorde nicht heranreicht, Andreas Brandhorst mit seinem ersten Roman Die Unterirdischen im Zauberkreis-Verlag, sie alle nicht die „Erben des Universums“, sondern Epigonen von Kurd Laßwitz, Hans Dominik & Co. Es mag Ausnahmen geben: Timo Leibig (vielleicht mit Nanos), aber der setzt inzwischen auch nur auf seine Serienfigur Leonore Goldmann, Tom Hillenbrand, nein, nicht Frank Schätzing, bitte nicht: „Wir haben die Chance, die Welt nach Corona besser zu machen.“
Rolf Giesen
Filed under: CALEB CARR, Crime Fiction, Film, Krimis,die man gelesen haben sollte, Noir, Politik & Geschichte, Porträt, Sherlock Holmes, thriller, TV-Serien | Schlagwörter: Caleb Carr, Dr.Kreisler, Netflix, New York, Noir, Söldner, Science Fiction, Sherlock Holmes, Thriller, TV-Serie
Der folgende Artikel stammt aus 2014:
Ein Serienkiller, der es auf sich prostituierende Knaben abgesehen hat, treibt in New York sein Unwesen. Nichts ungewöhnliches, wenn man die Unterhaltungsindustrie der letzten 30 Jahre betrachtet. Aber THE ALIENIST (DIE EINKREISUNG; Heyne 1994) holte etwas neues aus diesem nervigen Subgenre.
Ungewöhnlich an diesem Roman sind aber Personen, Schauplatz und die literarische Umsetzung. Die Personen sind zum Teil fiktional, zum Teil reale Figuren der Geschichte. Der Schauplatz ist New York 1896 und ein Beleg dafür, dass die Vergangenheit die Gegenwart nicht bestimmt, sondern verflucht. Die literarische Umsetzung geschieht mit leichter Hand, die Brillanz von Caleb Carrs Stil ist erst auf dem zweiten Blick sichtbar, denn er findet für seinen Ich-Erzähler einen Ton, der sowohl modern ist, wie auch vergangene Eigenheiten berücksichtigt und beides zu einer Synthese führt.
Polizeichef Theodore Roosevelt, der spätere Präsident der USA, setzt eine Sonderkommission ein um den Killer zu finden. Wegen der ungeheuren Korruption in der Polizei(lange vor SERPICO), müssen die Ermittler unabhängig vom Apparat agieren. Die Sonderkommission wird von dem Psychologen Dr. Laszlo Kreisler geleitet und ihm assistiert ein Team interessanter Figuren, die höchst amüsant und informativ die zeitgenössischen Entwicklungen der Kriminalistik nutzen. „An der Person Roosevelt hat mich fasziniert, dass er sein ganzes Leben an seinen Kindheitsidealen festgehalten hat. Solche Personen inspirieren mich. Als Historiker versuche ich die realen Figuren mit ihren eigenen Worten sprechen zu lassen und sie so authentisch wie möglich zu zeichnen. Ich missbrauche sie nicht, um einen Standpunkt von mir zu verdeutlichen, der vielleicht ins Romankonzept passt.“
Neben der spannenden Handlung ist es das facettenreiche Bild New Yorks, eigentlich Manhattans, das den Roman zum modernen Klassiker macht.
Die Atmosphäre der Stadt, deren Zeitgeist überzeugend eingefangen erscheint, ist nicht nur grimmig und gemein, sie ist bedrohlich böse. Ich kenne keine überzeugendere, alle Schichten und Interessen durchleuchtende, Darstellung des historischen Manhattan. New York als Zentrum des Verbrechens: „In New York sind Korruption und Sittenverfall kein vorübergehendes Unglück, sondern ein Dauerzustand.“
Carr beschäftigt sich besonders eindringlich mit homosexueller Kinderprostitution: „New York war vielleicht die Hauptstadt des Verbrechens in den USA, vor allem bei Gewalt gegen Kinder, aber auch der Rest der Staaten bemühte sich um eine ausgeglichene Statistik… Man hielt Kinder damals für kleine Erwachsene. Wenn sie ihr Leben dem Laster widmmen wollten, dann war das nach den Gesetzen des Jahres 1896 ihre Sache, und niemand konnte sie daran hindern.“
Mir fällt lediglich Herbert Asburys Sachbuch THE GANGS OF NEW YORK von 1927 ein, das ein ähnlich beeindruckendes Sittenbild der Metropole zeichnet. Und das ist, wie gesagt ein Sachbuch, noch dazu in geringerer zeitlicher Distanz entstanden.
Carr gelingt es, die komplexesten Themen in die Handlung zu integrieren. Dies funktioniert so gut, weil sein Ich-Erzähler, der Journalist Moore, eine überzeugende Tonlage triff, die den Leser in seine Zeit und Welt hinein saugt.
Mit der weiblichen Figur Sara, die unbedingt Kriminalistin werden will, schafft er eine ebenso außerordentliche wie überzeugende Heldin (im Sequel arbeitet sie als Privatdetektivin). „Ich wollte ein Buch schreiben, in dem die Frau nicht die übliche Funktion hat, sich zu verlieben oder mit jemanden ins Bett zu gehen.“
Man könnte Dr.Kreisler als einen Holmes-Nachfolger sehen oder ihn in die Tradition der „großen Detektive“ des klassischen Detektivromans einordnen. Aber das stimmt nicht, denn im Gegensatz zu den großen Detektiven des Golden Age antizipiert Kreisler die Kriminalpsychologie des 20.Jahrhunderts, zu der Holmes & Co. noch keinen Zugang hatten.
„Kreisler kann Verbrechen aufklären, die Holmes nie hätte lösen können, da sie nicht alleine durch das Analysieren physischer Indizien gelöst werden können; es bedarf forensischer Psychologie.“
Diese Einkreisung des bestialischen Mörders nimmt den Leser auf einen historischen Bildungstrip, der keine Sekunde langweilt. Kreisler und sein Team benutzen alle kriminalistischen (Fingerabdrücke) und psychologischen Möglichkeiten, die ihnen in der Zeit zur Verfügung stehen, um sich über ein Profil dem Mörder zu nähern. „Eine der größten Herausforderungen war das Studium der damaligen psychologischen Wissenschaftsliteratur. Meine Charaktere durften nicht mehr wissen als den aktuellen Stand der Dinge. Damals hatte Freud gerade sein erstes Buch veröffentlicht.“
Der Begriff Psychopath oder psychopathischer Killer existierte noch nicht. Ebenso wenig eine Architektur des Bösen, die von sozio-psychologischen Grundlagen ausging. Dieses Herantasten an neue Erkenntnisse, die im nächsten Jahrhundert eine so wichtige Rolle spielen würden, verleiht dem Roman zusätzlich aufklärerische Spannung. Die Passagen, in denen die Ermittler neue Fakten oder Erkenntnisse analysieren, sind die unterhaltsamsten Pro-Seminare forensischer Medizin, die man sich vorstellen kann. Sie konterkarieren ihre düsteren Expeditionen in den Bauch von Manhattan.
Nicht nur die Morde werden brutal und erbarmungslos gezeigt, die ganze Stadt ist von bösartiger Rücksichtslosigkeit. Alles ist zu kaufen, alles steht im Schaufenster: Sex mit Kindern und allen anderen, Drogen, Politik und Kultur. Das Bild der Stadt verbreitet genau so durchdringenden Horror, wie der Serienkiller. Viktorianische Kriminalität und Geschäftemacherei mit der Barbarei der Neuen Welt. Dem Historiker und dem Romancier ist eine perfekte Synthese aus Geschichtsbetrachtung und Detektivroman gelungen.
„Über die Vergangenheit zu schreiben, wiegt den Leser in Sicherheit und gibt ihm ein wohliges Gefühl. Denn – egal wie schlimm das ist, was man beschreibt – es ist ja bereits passiert. Es ist Vergangenheit.“
Dank seiner unerfreulichen Kindheit ist der Autor fasziniert von Mördern, die sich mit ihren Taten von erlittenen Qualen befreien wollen. „Ein Autor hat zwei Jobs: zu lehren und zu unterhalten. Ich bin nicht daran interessiert, als so genannter ernsthafter Schriftsteller anerkannt zu werden, aber ich bin an dem interessiert, was schreiben leisten sollte. In einem Land, in dem die Bildung ständig abnimmt, erscheit es mir wichtig, das man aus Büchern etwas lernt. Natürlich auf unterhaltsame Weise.“
Carr bot das Buch seinem Agenten und dem Verlag als Non-fiction an, da er damals für sie als Sachbuchautor eine erkennbare Größe als Militärhistoriker war und man sich von ihm keinen Roman vorstellen konnte. Random House bot schließlich einen Vorschuss von 60.000 Dollar und die Taschenbuchrechte wurden für 1.001.000 Dollar versteigert.
ALIENIST war 24 Wochen auf der Bestsellerliste der New York Times. Von der Taschenbuchausgabe wurden 1,5 Millionen Exemplare verkauft. Es wurde in 20 Sprachen übersetzt.
Über seinen zweiten Kreisler-Roman, ANGEL OF DARKNESS, über eine Frau, die ihr Kind und andere umbringt, sagt er: „Serienkiller sind Stars, denen die Öffentlichkeit zu Füßen liegt. Ganz anders ist es mit Müttern, die ihre eigenen Kinder töten. Das verschwindet ganz schnell aus den Medien. Es ist die ultimative Obszönität. Ich wollte herausfinden, was eine Frau und Mutter dazu bringt. Eine gute Mutter zu sein ist ja für Frauen die Konditionierung schlechthin.“
Während ALIENIST von dem trinkfreudigen Journalisten Moore erzählt wurde, ist in DARKNESS Stevie der Ich-Erzähler. Stevie war ein jugendlicher Rabauke und Straftäter in ALIENIST, der von Dr.Kreisler unter seine Fittiche genommen wurde.
Das Buch spielt drei Jahre später und Stevie ist inzwischen ein gewitzter Teenager.
„Er steht mir näher als Moore. Ursprünglich wollte ich eine Serie schreiben, in der in jedem Roman eine andere Figur die Geschichte erzählt. Für den ersten Roman wählte ich Moore als Erzähler, weil er der modernste Charakter des Romans ist. Mit ihm sollten die Leser die wenigsten Schwierigkeiten haben. Stevie ist auch für mich eine Herausforderung, denn er ist natürlich nicht so wortgewandt. Er hat eine andere Sicht auf New York, da er von ganz unten kommt. Er entspricht meinen eigenen Erfahrungen. Wo ich aufgewachsen bin, kamen die reichen Kinder nur hin um Drogen zu kaufen. Auch in diesem Roman verwendet Carr wieder eine ganze Reihe historischer Personen, u.a. Clarence Darrow. „Ich nutzte Darrow als Charakter und Leser dachten, er sei eine fiktive Figur. Was wird eigentlich in amerikanischen Schulen unterrichtet? Aber wir bewegen uns in eine Epoche, in der alle Fortschritte und Errungenschaften der letzten zweihundert Jahre zurückgedreht werden.“
ANGEL hatte nicht denselben Erfolg. Einige Kritiker und Leser bemängelten, den blumigeren Ich-Erzähler und.den weniger gelungenen Plot.
Die renommierte „Kirkus Review“ bemängelte und lobte: „…and disastrously slows down the otherwise absorbing courtroom scenes by including needless detailed summaries of cases of child murder offered as precedents. But these are minor blemishes. Carr has learned to plot since The Alienist, and this novel usually moves at a satisfyingly rapid pace.”
Durch den Verkauf der Filmrechte kam er in Kontakt mit der Filmindustrie. Er schrieb mehrere Drehbücher und musste deshalb natürlich nach Los Angeles. Als er die Drehbücher zu EXORCIST: THE BEGINNING und DOMINION: PREQUEL TO THE EXORCIST, das der Autor des Ur-Romans, William Peter Blatty, sehr lobte, schrieb, war er häufig dort.
Und diese Stadt mag er noch weniger als das heutige New York. „Ich war in Beverly Hills während des Northridge-Erdbebens. Keiner kam aus seinem Haus um nach den Nachbarn zu sehen. Die Kalifornier sind größtenteils gemeine, hässliche Leute, die bereit sind, dir jederzeit ein Messer in den Rücken zu jagen. In New York kümmert sich niemand um dich, wenn alles normal läuft. Aber wenn dir was Schlimmes passiert, versuchen sie zu helfen. Anders herum in Kalifornien: Solange alles gut für dich läuft, und du keine Hilfe brauchst, sind die Leute nett zu dir. In Los Angeles spürst du überall diese Konkurrenzkultur. 99% der Männer sind außerdem kindische sexuelle Neurotiker. Die Hälfte der Frauen, die hierher zieht, wird lesbisch und die andere Hälfte jammert herum. Dass sie keine Männer abkriegen. Südkalifornien ist das Hinterletzte.“
Zum Bücherschreiben musste er zurück nach New York, die entscheidende Inspiration für Carrs Noir-Detektivromane. Selbst als er eine halbe Million Dollar für die Filmrechte erhielt, blieb er in seiner alten Wohnung. Inzwischen hat sich das geändert und Carr hat New York verlassen. „Ich hasse, was aus New York geworden ist. Sie haben den Charakter der Stadt getötet. Die Straßen sind zwar sauberer und sicherer, aber alle sind gleich langweilig.“
Die inzwischen Jahrzehnte andauernde Geschichte der Verfilmung von THE ALIENIST ist ein Paradebeispiel für den Mist, der seit den 1980ern in Hollywood abläuft:
Produzent Scott Rudin kaufte für Paramount die Rechte an dem noch nicht veröffentlichten Roman für eine halbe Million Dollar. Das Drehbuch des Dramatikers David Henry Hwang gefiel dem Regisseur nicht. Dann setzten sich Regisseur Curtis Hanson und Autor Steven Katz hin, um ein neues Drehbuch zu schreiben. Dabei zerstritt sich Hanson mit Rudin. Der neue Regisseur Phillip Kaufman wollte nun ebenfalls sein eigenes Drehbuch und.. und… und…
Inzwischen gibt es mindestens neun Drehbücher zu THE ALIENIST. Bis 1997 hatte Paramount bereits zwei Millionen Dollar für unbrauchbare Skripte ausgegeben.
Carr gelang es nicht, ins Spiel zu kommen. Er wollte sogar selbst Regie führen. „Das Projekt ist tot. Ich glaube, die wissen nicht mal, warum sie das Buch gekauft haben. Es hat nichts, was diese Typen mögen: Es ist ein Ensemble-Stück ohne Liebesgeschichte. Nichts für Hollywood.“
(P.S.: In den zwei Staffeln mit Daniel Brühl als Kreisler wird Carr als Consultant Producer geführt.)
Mit Rudin hatte Carr bereits Ende der 1980er zu tun. Damals arbeitete er eine Weile im New Yorker Büro der Paramount als Stoffentwickler.
1991 wurde sein Drehbuch BAD ATTITUDE als TV-Movie umgesetzt und „komplett in den Sand gesetzt“. Danach begann er mit der Arbeit an THE ALIENIST. Aber „meine große Liebe ist das Kino. Man findet nicht viele Autoren, die das Kino so sehr lieben wie ich. Filme formen die meisten Bilder in meinen Romanen. Sprache interessiert mich nicht besonders. Ich liebe Filme mehr als Bücher. Ich bin Geschichtenerzähler, kein Schriftsteller.“
Da inzwischen TV-Serien wie RIPPER STREET, COPPERS, BOARDWALK EMPIRE oder PENNY DREADFULS als period pieces Erfolge feiern und Paramount unbedingt in den lukrativen Serienmarkt einsteigen will, holte man die Rechte an THE ALIENIST wieder hervor. 2014 wurde angekündigt, dass man zusammen mit Anonnymous Content (der Produktionsfirma der Erfolgsserie TRUE DETECTIVE) eine Serie entwickelt, die auf THE ALIENIST beruht.
Caleb Carr wurde am 2.August 1955 als zweiter von drei Söhnen von Lucien Carr und Francesca von Hartz in New York geboren.
Er wuchs in einet üblen Ecke Manhattans in einer ziemlich bizarren Familie auf. Sein Vater, Lucien Carr, gehörte bereits früh zum Umfeld der Beats. Er war zwar selber kein Schriftsteller, aber er machte Jack Kerouac, Allan Ginsberg und William S. Burroughs miteinander bekannt und war bis zu deren Lebensende mit ihnen eng befreundet. „Diese Beats waren lärmende Säufer. Ich wollte um nichts auf der Welt wie sie Schriftsteller werden.“
1944 hatte Lucien Carr einen Mann namens David Kammerer erstochen, der ihn wohl sexuell belästigt hatte. Kerouac half ihm dabei, die Tatwaffe zu beseitigen und das Verbrechen zu vertuschen. Vergeblich. Carr kam zwei Jahre wegen Totschlags hinter Gitter.
Carrs Eltern ließen sich früh scheiden. Er war acht Jahre alt und lebte mit seiner Mutter Francesca und seinen beiden Brüdern mit Francescas zweitem Mann, dem Romancier John Speicher, in Lower Manhattan. Sein Stiefvater, ebenfalls Alkoholiker, brachte drei Töchter mit. „Man nannte uns dark Brady Bunch.“ Sie wohnten im Block 14th Street zwischen Second und Third Street, damals eine der übelsten Gegenden in Manhattan. „Ich sah meinen ersten Mord mit elf. Auf der Straße gegenüber wurde ein Mann abgestochen, wegen eines Drogen-Deals.“ Häusliche und urbane Gewalt bestimmten seine Kindheit. „Ich bin das einzige Kind in meiner Familie, das sich nicht umbringen wollte… Wahrscheinlich, weil ich glaubte, irgendjemand wird das schon für mich besorgen.“
Zu seinem Vater hatte er kein enges Verhältnis. Wenn er ihn besuchte, hingen die Beat-Autoren dort rum und soffen oder nahmen Drogen. Als Kind empfand er das, verständlicher Weise, als eher verstörend. Die schönste Zeit seiner Kindheit waren die Sommer auf der Farm der Großmutter, nördlich von New York. Später sollte er ein angrenzendes Grundstück kaufen, auf dem er jetzt lebt.
„Ich war ein ziemlich wütendes Kind. Um diese Wut in den Griff zu bekommen, begann ich mich für Militärgeschichte zu interessieren. Es rührte meine Mutter zu Tränen; für sie war es fast dasselbe wie töten.“
Dank eines kleinen Familienvermögens, das die Großmutter verwaltete, konnten er und seine Brüder eine teure Privatschule besuchen und Carr anschließend am Kenyon College in Ohio und an der New Yorker Universität Geschichte studieren.
Seine Bewerbung für Harvard war abgelehnt worden, weil seine Lehrer in die Unterlagen geschrieben hatten, er „sei sozial problematisch“.
Nach dem Studium stellte ihn 1977 ausgerechnet das umstrittene Council of Foreign Relations als Redakteur ihres vierteljährlichen Magazins ein. Anschließend arbeitete er in den 1980ern als freier Journalist mit dem Schwerpunkt auf Zentralamerika.
1980 erschien sein erster Roman, CASING THE PROMISED LAND, den er aus seiner Bibliographie getilgt hat und als „blöden Roman“ bezeichnet „voll mit dem Zeugs, das junge Autoren schnell aus dem System kriegen sollten.“
Erste internationale Aufmerksamkeit als Autor weckte er mit der Biographie von Frederick Townsend Ward, des amerikanischen Söldnerführers im Taiping-Aufstand: THE DEVIL SOLDIER, 1992 (deutsch: DER VERGESSENE HELD; Diana Verlag, 1999).
2002 erschien seine Studie zum Terrorismus, THE LESSONS OF TERROR (TERRORISMUS – DIE SINNLOSE GEWALT; Heyne, 2002), in der er dieser Gewaltstrategie seit dem Römischen Reich nachgeht und nachweist, dass Terrorismus langfristig erfolglos bleibt. Egal, ob von Extremisten oder nationalen Armeen angewandt. Seine Analysen (ausführlich der Mittlere Osten), kamen in Washington nicht besonders gut an und lösten eine Kontroverse aus. Als Historiker und politisch bewusster Zeitgeschichtler faszinierte ihn der Bush-Gore-Wahlkampf. „Der Schlüssel war Florida, der korrupteste Staat der Union mit dem Bush-Bruder Jeb als Gouverneur. In der Wahlnacht, als sich abzeichnete, das Bush verlieren würde, griff man zum Telefon und rief Jeb an. Sie sagten ihm, dass sie hinten lägen, aber nur ein bisschen. Jeb schickte sofort die State Trooper los um 20 000 Stimmen einzukassieren. So etwas passiert dauernd, im ganzen Land.“
Von den Medien erwartete er nichts: „Das sind bezahlte Diener der Konzerne, die ja auch die Politik bestimmen und wer gewählt wird.“
Aber auch von der Militärmacht USA ist der Militärhistoriker nicht besonders überzeugt: „Wie lange hat es gedauert, bis sich die USA von den 58 000 toten Soldaten in Vietnam erholt hat? Wenn man wirklich eine imperiale Macht sein will, muss man auf Dauer schon etwas mehr wegstecken können.“
Zynisch ist auch sein dystopischer SF-Roman KILLING TIME (DIE TÄUSCHUNG; Heyne 2001), veröffentlicht 2000, nachdem er zuvor dem Magazin „Time“ als Fortsetzungsroman erschienen war. SF ist ein weiteres Genre, das er sehr liebt. „Ich sage gerne, SF sind period pieces, die in der Zukunft spielen. Ob historische Stoffe oder SF – beides spiegelt werde Vergangenheit noch Zukunft, nur die Zeit, in der sie geschrieben werden. Ich liebe Geschichte und Science Fiction, also die Vergangenheit und die Zukunft. An der Gegenwart bin ich nicht besonders interessiert. Ich habe schon als Kind eher in der Vergangenheit gelebt. Sowohl ästhetisch wie ethisch bin ich vergangenheitsorientiert.“
2012 hat er mit THE LEGEND OF BROKEN einen voluminösen Fantasy-Schinken vorgelegt, den er auch als eine Parabel verstanden haben möchte. Für viele eine Enttäuschung. Carr bedient sich zwar geschickt bei Tolkien, Geogre Martin, aber im Vergleich bleiben seine Charaktere zweidimensional. Aber wer braucht eigentlich diesen sich unentwegt wiederholenden Fantasy-Mist?
Sein Sherlock Holmes-Roman, THE ITALIAN SECETARY (DAS BLUT DER SCHANDE; Heyne 2006), 2005 erschienen, ist seiner Katze Suki gewidmet, seiner konstantesten Gefährtin, mit der er jetzt alleine auf einem Berg in einem eine Million Dollar teuren Haus auf einer riesigen Farm lebt, 180 Meilen nördlich von New York.
Der nächste Ort, Cherry Plain, hat ein Postamt und eine Kirche und nicht viel mehr.
Für ihn hängt die erneute Sherlock Holmes-Renaissance nach 9/11 mit einem steigenden Bedürfnis nach Rationalität zusammen. „Wir sind in eine Epoche eingetreten, in der alle Fortschritte und Errungenschaften der letzten zweihundert Jahre zurückgedreht werden.“
Inzwischen gibt es etwa 4000 Holmes-Romane, Geschichten und Film- und TV-Serien, die nicht von Conan Doyle sind. „Publishers Weekly“ stellte zum Erscheinen von Carrs kurzem Holmes-Buch fest: „Eine Sherlock Holmes-Geschichte zu schreiben, scheint für viele Autoren dasselbe zu sein, wie für männliche Schauspieler einmal den Hamlet zu geben; eine Herausforderung, der wenige widerstehen und viele bereuen… Nicht Carr… Er hat ein tiefes Verständnis für die Figur und macht nichts falsch.“ Ein weiteres Holmes-Pastiche ist nicht geplant.
Carr arbeitet nachts und monomanisch. „Wenn ich arbeite, gibt es für mich nichts anderes als das Buch, an dem ich gerade schreibe. Sonst nichts. Ich schreibe nachts. Es fällt mir leicht, mich in eine vergangene Epoche zu versetzen. Aber natürlich mache ich auch spezielle Recherchen. Für die Kreisler-Romane hieß das: Fünf Monate Recherche und fünf Monate schreiben.“
Im Gegensatz zu seinen Sachbüchern, bestimmen historische Begebenheiten nicht seine Vorgehensweise bei der Fiktion: „Ich habe immer zuerst die Story, die historischen Details kommen an zweiter Stelle. Eine gute Geschichte funktioniert fast in jeder Epoche.“ Carr ist nicht auf ein Genre festgelegt, wie sein Oeuvre zeigt.
„Ich habe es jahrelang versucht zu verdrängen, aber ich bin ein Misanthrop. Ich lebe nicht umsonst alleine auf diesem Berg namens Misery Mountain.“
Obwohl er doch so mit New York verwurzelt ist, sagt er:. „Es heißt: Hollywood zerstört dich und dein Talent. Aber die Literatenszene in New York macht dasselbe.“
Er liebt die Einsamkeit hier, gelegentlich unterbrochen durch Frauenbesuche. Er bevorzugt jüngere Frauen, ist aber zu ungeduldig um eine längere Beziehung aufzubauen. „Mein Lieblingsregisseur ist, was viele wundert, Preston Sturges, denn mein Liebesleben ist eine screwball comedy.“
Seine Beziehungsprobleme begründet er mit seinen Kindheitserfahrungen: „Wer häuslicher Gewalt durch betrunkene Väter ausgesetzt war, tut sich schwer damit, anderen Menschen zu vertrauen.“
HOMEPAGE: http://17thstreet.net/
Zu den Schauplätzen gibt es eine schöne Page unter: http://theboweryboys.blogspot.de/2014/03/the-alienist-by-caleb-carr-released-20.html
<img src=“http://vg08.met.vgwort.de/na/b5a87a59d1b14c6fa7223f148691dcf0″ width=“1″ height=“1″ alt=““>