Martin Compart


Von Grenzerfahrungen zu -überschreitungen von Jochen König by Martin Compart

Zwischen Globalisierung und stetig fortschreitender Migration, zwischen Verknüpfung von Beziehungen, Schmuggel und Drogenhandel sind Grenzen und die sie umgebenden Landschaften die relevantesten Marker. Zwischen Fakt und Faszinosum spielt das Thema (gerade in den letzten Jahren) in der Populärkultur eine wichtige Rolle. Inklusive der möglichen Übertragbarkeit auf ethisch-moralische, gesellschaftsstrukturelle und individuell konnotierte Konditionen. Nein, „Fifty Shades Of Grey“ ist kein grenzüberschreitender Text, sondern bloß ein kleingeistiges Spiel mit eigenen Beschränkungen. Eine Grenzerfahrung der anderen Art.

Die Grenze als trennendes wie verbindendes Medium hat die schwedische Serie „Die Brücke – Transit in den Tod“ (OT. „Broen“) wesenhaft in Szene gesetzt. Eine Leiche, die auf der titelgebenden Öresund-Brücke genau auf der Grenzlinie zwischen Dänemark und Schweden deponiert wurde, zwingt die Polizeibehörden beider Länder zur (vom Täter beabsichtigten) Zusammenarbeit. Gelungene Charakterzeichnungen, geschickter Spannungsaufbau und das Spiel mit Doppelbödigem machen die Serie zu einem Genuss. Gilt auch, mit leichten Abstrichen, für die Folgestaffeln.

Im Verlauf der zweiten Staffel wurden die Serienschöpfer von der Realität eingeholt. Zu einen kündigte der dänische Hauptdarsteller Kim Bodina wegen des wachsenden Antisemitismus in der Öresund Grenzregion (sowie inhaltlicher Differenzen) seinen Ausstieg an, zum andern wurde die ehemals völkerverbindende freie Überfahrt 2016 durch reinstallierte Grenzkontrollen wesentlich erschwert. Als ein Grund dafür wurden die steigenden Migrationszahlen von Dänemark Richtung Schweden genannt.

Der amerikanische Ableger „The Bridge – America“, der zwischen dem texanischen El Paso und dem mexikanischen Ciudad Juárez spielte, agierte auf ähnlich hohem Niveau wie das Original.

Weitere Ableger gab es in Frankreich (mit dem Eurotunnel statt einer Brücke), Russland, Asien (angesiedelt zwischen Malaysia und Singapur) sowie mit der mäßigen, verschwurbelten deutsch-österreichischen Koproduktion „Der Pass“. Ein wahrhaft weltumspannendes Serienuniversum.

Was „The Bridge – America“ eher am Rande inszenierte, rückte in Denis Villeneuves „Sicario“ (und dem schwächeren zweiten Teil) in den Mittelpunkt: Drogenhandel sowie die schwierige Zusammenarbeit der unterschiedlichen Behörden, bei der Kompetenzen, Vertrauen, Verrat und Eigeninteressen einen komplexen und stellenweise unberechenbaren Verbund eingehen. „Sicario“ gehört zur „American-Frontier“-Trilogie des Autoren Taylor Sheridan, dessen vorzüglicher Wüsten-Noir „Hell or High Water“ eine familiäre Grenzlandodyssee darstellt, während „Wind River“ Ausgrenzung und Verbrechen an der indigenen Bevölkerung der USA darstellt.
In der Serie „Yellowstone“ rücken Grundstücks- und Weidegrenzen in den Mittelpunkt. Spätestens hiermit hat sich, der auch als Schauspieler („Sons Of Anarchy“) tätige Sheridan als einer der wichtigsten aktuellen Kulturschaffenden etabliert.

Den hoffnungslosen „War On Drugs“ hat Don Winslow mit seinem Magnum Opus „Tage der Toten“ zum Thema, in dem Grenzüberschreitungen von mexikanischer und US-amerikanischer Seite an der Tagesordnung sind. Trotzdem ist der voluminöse kein Pamphlet, das Donald Trumps „Let‘s build a wall“-Ideologie unterstützt. Ebenso wenig wie Robert Crais‘ „Straße des Todes“ der seinen Detektiv Elvis Cole gemeinsam mit dem schlagkräftigen Joe Pike an seiner Seite in einen Kampf gegen brutale Schleuserbanden schickt. Bereits 1982 waren Jack Nicholson, angenehm zurückhaltend und intensiv, in Tony Richardsons „Der Grenzwolf“ sowie Charles Bronson zwei Jahre früher, und qualitativ blasser, in Jerold Freedmans „Grenzpatrouille“ unterwegs. Eine spannende Ergänzung, die den Überlebenskampf der Flüchtlinge stärker visualisiert, stellt Jonás Jonás Cuaróns (Sohn von Alfonso Jonás Cuarón) „Desierto – Tödliche Hezjagd“ dar, der mit Gael García Bernal und Jeffrey Dean Morgan zwei vorzüglich aufspielende Antagonisten aufzubieten hat.

In Deutschland prägte das Thema Grenze und ihre Überwindung die Geschichte seit dem Ende des zweiten Weltkriegs. Gelegenheit, auf John Le Carrés Klassiker „Der Spion, der aus der Kälte kam“, inklusive der gelungenen Verfilmung zu verweisen. Doch auch im Westen spielten Grenzübertretungen eine Rolle. In Mechtild Borrmanns „Grenzgänger“ wird der Kaffeeschmuggel für die junge Henni und ihre Freunde zum Verhängnis. Denn auch hier gibt es einen Schießbefehl, der von Ordnungskräften mal widerstrebend, mal mit Begeisterung umgesetzt wird. Die befehlsgebende Gewalt hat sich geändert, die Verhaltensweise der Subalternen bleiben gleich. Henni kommt mit dem Leben davon, landet jedoch nach dem Tod der Mutter in einem kirchlich geführten Kinderheim. Dort sind Nächstenliebe, das Achten der menschlichen Würde Fremdwörter. Es gibt keine Grenze zwischen Himmel und Hölle. Borrmanns Roman ist ein aufwühlender Streifzug durch eine Zeit, die bei Weitem noch nicht aufgearbeitet ist.


Noch näher am Genre und doch ganz ähnlich ist Seamus Smyths Revenge-Thriller „Spielarten der Rache“, der die Perfidie eines menschenverachtenden Systems, geschützt und bewahrt von kirchlichen Trägern und Handlangern, in bitterer Konsequenz schildert. Die Grenzen der Menschlichkeit werden bewusst und mit ausufernder Brutalität überschritten, der spät folgende Rachefeldzug erscheint geradezu zwangsläufig. Ein so kraftvoller wie schmerzlicher Roman.

An der realen Grenze Nordirlands zur irischen Republik, im Gebiet zwischen Armagh im Norden und dem County Monaghan in der Republik Irland siedelt Anthony J. Quinn seine Reihe um den nachdenklichen und obsessiven Polizisten Celsius Daly an. Hier stellt die Zusammenarbeit der nordirischen Beamten mit der Guardia Civil eine Herausforderung mit manch böser Überraschung dar. Es gibt viel zu tun, haben sich doch im Grenzbereich ehemalige IRA-Mitglieder, Kriminelle unterschiedlicher Couleur und Nationalität sowie Immobilienspekulanten angesiedelt, die gerade angesichts der vorhandenen Armut für eine Atmosphäre der Angst, Gewalt und Verzweiflung sorgen.

In „Frau ohne Ausweg“ trifft Daly auf die kroatisch-stämmige Lena Nowak, die an einem ausgefeilten Plan arbeitet, ihrem kriminellen Chef und der Zwangsprostitution zu entkommen. Nowak ist nur eine von vielen Frauen, die über Grenzen verschleppt wurden, ihrer Pässe und damit der Identität beraubt zu werden. Aber sie ist klug und zäh genug, um Mitstreiterinnen zu motivieren und der Polizei sowie verbrecherischen Zuhältern ein Schnippchen zu schlagen. Ein Hauch von Hoffnung am Ende von schwarzen Tagen.

„Frau ohne Ausweg“ zeigt – wie alle gelungenen Werke zum Thema Grenze – wie brüchig die menschliche Gemeinschaft gebaut ist, in einer Welt in der Recht und Gerechtigkeit oft wenig miteinander zu tun haben. Menschen werden zu Waren, die über Grenzen geschafft werden, Waren werden zu Schmuggelgut und der sogenannte Krieg gegen Drogen scheint schon seit langem verloren.

Grenzüberschreitungen können zu Erkenntnissen führen, halten aber auch den Abstieg in die Hölle bereit. Dazwischen gibt es, gerade kulturell, viel zu entdecken.



BOSTON TERAN-VERFILMUNG by Martin Compart
25. August 2023, 9:51 am
Filed under: Boston Teran, Elsinor Verlag, Film, NOIR-KLASSIKER | Schlagwörter: , , ,

Ursprünglich wollten wir bei Elsinor die Boston Teran-Edition mit dem Erstling GOD IS A BULLET starten. Aber wir haben uns dann für GARDEN OF GRIEF entschieden. Dieses Jahr ist nun endlich die Verfilmung von GOD IS A BULLET in die US-Linos gekommen; es hat Jahrzehnte gedauert, das er realisiert wurde.

https://ok.ru/video/5889304300190



Jahresrückblick 2022 von Jochen König by Martin Compart
18. Januar 2023, 6:05 pm
Filed under: JAHRESRÜCKBLICK, Jochen König, MUSIK, Rezensionen, Taylor Swift, TV-Serien | Schlagwörter: , , ,

2022 hatte die Chance das Vorjahr in die Schranken zu verweisen. Doch es wurde versaubeutelt.

Corona rückte zwar in den Hintergrund, verblasste aber nicht völlig. Krieg, Naturkatastrophen, die FIFA, Korruptions- und Fake-News-Skandale, dazu viel zu viel eklige Menschen, die laut polternd zwischen Realitätsverweigerung und sozialer Verwahrlosung bevorzugt in den (anti)sozialen Netzwerken Nachrichten aus der Hohlwelt verbreiteten. Linus Volkmann bezeichnete 2022 in seinem Rückblick im „Musikexpress“ sehr treffend als „ein Jahr wie ein Typ, der einem ins Auto kotzt – und sich später nicht mal entschuldigt.“

Bleibt, wie so oft, das kulturelle Schaffen der vergangenen zwölf Monate, eine verkorkste Zeit zu retten. Oder die Krätze auszulösen (wie viel zu viele grottenöde Serienkiller-Thriller, Nena, Van Morrison, Filme, die nicht wissen, dass ein Ende zur rechten Zeit was Gutes ist)?

Schön, dass es wieder Konzerte gab.

Einen gelungenen Auftakt bildeten PURE REASON REVOLUTION und GAZPACHO im Columbia-Theater in Berlin. Zwischen Dancefloor, Art-Rock und großen Gesten boten beide Bands atmosphärisches Schwelgen, besonders GAZPACHO lieferten eine stimmungsvoll bebilderte Zeitreise. MELODY GARDOT, ebenfalls in Berlin, belegte, dass sie eine äußerst charmante Geschichtenerzählerin und große (Jazz)-Chanteuse ist. Leider kein „Preacherman“ für mich.
In der Elbphilharmonie gab es zwei Jugendorchester mit starkem Programm zum moderaten Preis. Von einer Eigenkomposition über Rachmaninoff und Shostakowich bis zur „What A Feeling“-Zugabe (die zur unbewussten Hommage an die kurz darauf verstorbene Irene Cara wurde) ein hervorragendes Konzert, mit viel Verve vorgetragen von jungen Musiker*innen zwischen 10 und 27 Jahren. Und die Bildungsbürgerreise in die „Elphi“ abgehakt.

Trotzdem muss man mit Erschrecken feststellen, dass Live-Events in Gefahr sind. Nicht wegen Corona. Während bekannte Künstler (vertreten durch viel zu groß gewordene „Dienstleister der Kulturbranche“ wie Live Nation oder Eventim) stellenweise Ticketpreise bis ins Vierstellige nehmen können, bleibt der Nachwuchs und unabhängige Kunst auf der Strecke.

Durch den Verkauf von Tonträgern lässt sich schon lange keine Tour mehr pushen, geschweige denn finanzieren. Logistik ist teuer, der Brexit sorgt für ein Aufblühen umständlicher und ebenfalls kostspieliger Zoll-Aktivitäten. Das Couch-Arrangement (und die Angst vor Ansteckung in prall gefüllten Räumen) mit Corona führte auch zu weniger Interesse an Konzerten. Zahlreiche Bands und Solokünstler sagten ihre bereits geplanten Touren ab oder verschoben sie auf unbestimmte Zeit. Prognosen sind düster.

Zu den musikalischen Veröffentlichungen, die mein Jahr prägten, stieß bereits früh „Call To Arms & Angels“, das neue Doppelalbum von ARCHIVE. Ein hypnotischer, langsamer Tanz, der sich sowohl bei Trip Hop, Pop wie Art Rock auskennt und auch passend für den Soundtrack eines Nicolas Winding Refn-Films (oder einer Serie) wäre.
Passend wäre auch „Nights Of Lust“, der Darkjazz-Slowburner des LOVECRAFT SEXTETs, die gegen BOHREN & THE CLUB OF GORE geradezu dem Geschwindigkeitsrausch verfallen sind.

Gefallen hat auch der gutgelaunte, spannende Retroprog der MOON LETTERS, deren erstes Album ich nicht so toll fand, während das zweite, „Thank You From The Future“, strahlte: „Überbordend, diffizil, dabei höchst ökonomisch, kein Ton zuviel“.

Ebenso klasse war die neue Inkarnation MAJOR PARKINSONs, der Beginn einer Trilogie. Ein weiteres Selbstzitat: „„Valesa – Chapter 1: Velvet Prison“ ist ein Grand Guignol-Musical der exzessiven Art. Genregrenzen interessieren MAJOR PARKINSON nicht, hier wird überbordend musiziert: Prog, Stadion-Rock und AOR treffen auf elektronische Entdeckungsreisen und grüblerische Singer-Songwriter-Sequenzen“.

Düsterer und intimer gings es bei der fabulösen Karin Park zu, deren eindringliche „Private Collection“ ein würdiger Nachfolger des exzellenten „Church Of Imagination“ ist. Steve Kilbey und Martin Kennedy hingegen überzeugten einmal mehr als vers(p)onnene Psychedeliker mit ihrem kryptisch betitelten „The Strange Life of Persephone Nimbus“. THE CHURCH sind stets präsent.

Kein Weg führte vorbei an TAYLOR SWIFTS neuem Output „Midnights“. Streamingdienste brachen bei Veröffentlichung zusammen und Swifty-Achselshirts waren ausverkauft. Ansprechend melancholischer Electro-Pop mit anrührenden, nachdenklichen Lyrics und nur sachtem R’n’B-Hochglanz-Muzak. Was der Musik gut tut. Nur selten klingt es nach einem Stück aus dem „Victorious“-Soundtrack. Aber auch da gibt es Schlimmeres.

SWIFT gelingt es mainstreamkompatibel zu sein und trotzdem die Dringlichkeit und den Charme von Indie-Produktionen zu bewahren. Das Album erschien in vier Ausführungen mit unterschiedlichem Artwork (Standard, Jade Green, Blood Moon, Mahogany). Besonders lohnt sich die später erschienene „Lavender“-Version mit drei famosen Bonustracks. Diese sind wieder originell instrumentiert und strahlen die bestrickende Intimität von TAYLOR SWIFTs in der Pandemie rearrangierten Werken aus. Digital erschien zudem die „3am“-Ausgabe mit insgesamt sieben Bonustracks.

SWIFT ist eine der wenigen Megastars, die einem nie auf den Senkel gehen. Und dass sie eine fantastische Musikerin ist, hat sie längst bewiesen. Allein mit E-Gitarre auf der Bühne ist sie die pure Freude. Davon bitte irgendwann ein komplettes Album!

Ein postumes Album bildet den Abschluss meiner kleinen musikalischen Reminiszenz ans Jahr 2022. Auch in dieser Beziehung ein ätzendes Jahr. Für mich wichtige und prägende Künstler starben: Dazu gehörten VANGELIS, MARK LANEGAN, MANUEL GÖTTSCHING, PHAROAH SANDERS, Jeff Beck und TERRY HALL. Mit dem Verlust von JULEE CRUISE und ANGELO BADALAMENTI wurde das „Twin Peaks“-Universum kleiner.

Besonders schwer traf mich der Tod KLAUS SCHULZEs, dessen Musik mich noch länger begleitet als die von VANGELIS. Mit „Deus Arrakis“, einer erneuten „Dune“-Reminiszenz, hinterließ er ein inspirierendes, atmosphärisches letztes Album.

Lobende Erwähnungen gibt es noch für die Comebacks von PORCUPINE TREE, „Closure P/T“ ist feinster Pop-Prog nach dreizehn Jahren Sendepause, die BROKEN BELLS (letzte Veröffentlichung 2014) mit dem der psychedelisch-poppigen Wundertüte „Into The Blue“. Der Übersong „The Chase“ enthält Spuren aus dem ARCHIVEt.

MADRUGADA melden sich mit dem funkelnden Nachtschattengewächs „Chimes At Midnight“ zurück. Ärgerlich ist die Veröffentlichungspolitik, bei der man es sich immer weiter mit der schrumpfenden Schar von Tonträger-Käufern verscherzt. Während PORCUPINE TREE ihr Album gleichzeitig in verschiedenen Versionen auf den Markt brachten, was eine Wahl möglich machte, erschien von „Chimes At Midnight“ nur wenige Monate nach dem Originalalbum eine Expanded Edition mit fünf(!) starken Bonustracks.
So verprellt man seine Interessenten.

Im Kino erledigte das über lange Zeit Corona. Und für mich und viele andere ist die Veränderung der Kino-Kultur hin zu einem umfassenden Event mit dauerhafter Fress-, Smartphone-, Trink-Begleitung und damit verbundenen Toilettenbesuchen ein Verweigerungsgrund.
Ist anscheinend schwer, Konzentration, Mund und Wasser eine ganze Filmlänge halten zu können. Von konzertierten Störaktionen irgendwelcher TikTok-Deppen ganz zu schweigen. Die Kino-Magie verflüchtigt sich ins Nichtige, was dazu führte, dass ich 2022 nur einen einzigen Film im Kino gesehen haben. Und das gleich im Januar.


Guillermo del Toros „Nightmare Alley“, die zweite Adaption des Romans von William Lindsay Gresham ist ein visuell ansprechender, passend düsterer Noir, ausgezeichnet besetzt und gespielt. Der Film leidet allerdings unter einer weitverbreiteten Krankheit des aktuellen Filmschaffens: Er ist mit 150 Minuten viel zu lang (Die erste Verfilmung von 1947 beschränkte sich auf, damals exorbitante, 110 Minuten).
Der Plot, und die nicht ganz so schwer zu entschlüsselnden Twists tragen neunzig Minuten locker, alles darüber hinaus ist Ignoranz gegenüber filmischer Ökonomie. Trotzdem eines der besseren Werke in del Toros Agenda der jüngeren Zeit.
Sein „Cabinet Of Curiosities“ blieb trotz hochinteressanter Regisseur*innen eine müde Angelegenheit mit wenigen Ausreißern nach oben. Besser als die unsäglichen „American Horror-Stories“, aber das will nichts heißen.

Weitere filmische Glanzpunkte:

Ein Highlight des Jahres gab es gleich zu Beginn. Brandon Cronenberg (richtig, David Cronenbergs Sohn) schuf mit „Possessor“ (der 2021 noch in der Warteschleife steckte) einen so intensiven wie verstörenden Psycho-Horror-Tripp. Mein Fazit: „“Possessor” ist ein kunstvoller, zwischen Meditation und psychedelischem Schlachtfest angesiedelter Trip zum Ende der Menschlichkeit. Gefühle und Bewusstsein sind austauschbar, Individualität kaum ein Schimmer in glitzernden Oberflächenreizen. Die Welt ist ein Modell, das Geschäftemacher untereinander aufteilen.“ Der Soundtrack ist ebenfalls highly recommended.

Alex Garlands „Men“ ist eine Mischung aus Gesellschaftskritik, Folk-, Slasher-Horror und Mindfuck. „Men“ beinhaltet Beziehungsdrama, Satire, Psycho-Thriller und blutigen Body-Horror als sperriges Gesamtpaket.
Ein Meta-Film, wie auch Jordan Peeles „Nope“, der wieder geschickt zwischen Horror, Science Fiction und Satire pendelt, dabei gespickt ist mit filmhistorischen Verweisen.

Kaum eine Jahresbestenliste kommt an „Everything Everywhere All at Once“ vorbei, so auch diese nicht. Bereits wegen der Besetzung mit Michelle Yeoh und Jamie Lee Curtis (direkt der Beamtenhölle entstiegen) ein Muss, überzeugt der Film auch als relevantes Multiversumsspektakel.

Im Gegensatz zu „Dr. Strange In The Multiverse Of Madness“, das, von einigen selbstreflexiven Sam Raimi-Momenten abgesehen, ein blutleeres CGI-Gehampel blieb. So seelen- und gehaltlos wie die meisten Marvel-Werke der letzten Jahre. Der Film ging zudem sehr liederlich mit dem eigenen Personal um.
Während sich das MCU im Fernsehen unterhaltsam zeigt (von „Moon Knight“, zwischen Langeweile und Hyperaktivität schwankend, abgesehen), bleiben die Kinofilme bestenfalls Zeitvertreib für einen regnerischen Sonntagnachmittag.

Besonders erfreulich und trickreich war das Horror-Genre mit ganz unterschiedlichen Gewächsen. „X“ beginnt als ironisches Spiel mit Erwachsenenfilmen und wird zum leichenreichen Backwood-Slasher mit Pfiff und sehr originellem Killer.

„The Innocents“ wagte sich, hervorragend gefilmt, in die bisweilen tödlichen Untiefen der Kindheit. Magischer Realismus vom Feinsten.

„Barbarian“ schließlich war ein außergewöhnlich spannendes Ereignis zum Jahresabschluss. In Deutschland leider nicht im Kino gelaufen, spielt der Film mit Erwartungen, bricht und bedient sie gleichzeitig gekonnt. Nicht nur von der Erzählstruktur her transportiert Regisseur Zach Cregger Alfred Hitchcock stilvoll in die Gegenwart. Und liefert nebenbei Bilder einer nicht nur sozial zerfallenden Zivilisation. Das überbordende Grindhouse-Finale, mit einigen der wenigen sehr blutigen Sequenzen, dürfte die Geschmäcker teilen. Zach Cregger darf das. Weil er es kann.


Mein TV-Höhepunkt waren „Die schwarzen Schmetterlinge“. Ein französische Produktion, die wild und visuell artistisch Psychothrill, Surrealismus und Giallo verband, dabei gleichzeitig als eine Reflexion über Erzählen und Wahrnehmen taugte. Obendrauf versehen mit einem traumhaften Soundtrack.

„Wednesday“ machte überwiegend Spaß, zumindest in den von Tim Burton inszenierten Episoden. Der Mystery-Anteil blieb unausgegoren und zu durchschaubar, die Monstereffekte waren stellenweise Power Rangers-würdig und in den letzten drei Folgen war das Ganze eher eine Art Addams-Familienbesuch in Hogwarts. Aber hey, „Wednesday“ hat die wunderbaren Jenna Ortega (auch in „X“ sehr experimentierfreudig dabei) UND Christina Ricci an Bord.
Die Miniserie wurde rasend schnell zum Medienhype, inklusive unzähliger überflüssiger Tanzvorführungen bei TikTok. Aber hey…

Heimisch geriet ich schnell wieder in der „Umbrella Academy“, die ebenfalls ihr Multiversum beherrschten.


„Reacher“ bot solide Kost und mit Alan Ritchson, nach dem Gernegroß Tom Cruise, endlich einen amtlichen Jack Reacher-Darsteller vorzuweisen hatte. Die Verfilmung des ersten Lee Child-Romans verriet die Vorlage nicht, blieb lakonisch und kantig. Besetzungstechnisch war das insgesamt eine Freude, mit Sonderlob an die bezaubernde und schlagkräftige Willa Fitzgerald.

Ansonsten gehörte das Jahr eher Aufholterminen. Viel Spaß mit elf Staffeln „Modern Family“ gehabt, „Superstore“ neigt zwar zu arg hohem Fremdschämfaktor, ist aber eine der besten, bittersten Betrachtungen über die ausbeuterischen Machenschaften von Großfirmen und dabei urkomisch.

„Gotham“ gefiel als ansprechend besetzter, visuell finsterer Noir, in dem Ben McKenzie aka Jim Gordon mit einer Handvoll Verbündeter gegen die Organisierte Kriminalität kämpft. Taugte ebenfalls als DC-Origin-Serie, wenn auch der juvenile Bruce Wayne einem gehörig auf den Senkel gehen konnte. Das entschärften Catgirl Camren Bicondova und Sean Pertwee als wehrhafter Butler und Ersatzvater Alfred. Jeden Penny worth.

Literarisch beschäftigten mich einige Zeit ein Buch, das nicht erscheinen wird und eines, dass erst im Herbst 2023 veröffentlicht wird. Daneben blieb die Leseauswahl überschaubar. Zu den Tops gehören:

Willi Achten – „Rückkehr“. Wenn Amazon mich zitiert, darf ich das auch: „Willi Achtens Roman ist ein melancholischer Rückblick auf etwas, das nie existierte. Die Sehnsucht nach Neuanfängen gepaart mit Verlustängsten. Eine ungesunde Kombination. Ein Text, so leise wie faszinierend, der einen reißenden Fluss als idyllischen Bergbach tarnt.“

Terry Miles – „Rabbits – Spiel um dein Leben“. Und wieder ein Multiversum. Donnie Darko irrt in Twin Peaks durch die Pforten der virtuellen Wahrnehmung. So in etwa. „Rabbits“ vereint gekonnt Mystery- mit Verschwörungsthriller, angesiedelt in High Tech-Universen, die von einer nicht allzu fernen Zukunft erzählen. Basiert auf Terry Miles eigenem Rabbits“-Podcast. So können großangelegte Verschwörungsmythen gefallen. NUR so.

Mechtild Borrmann – „Feldpost“. Auf Borrmann ist Verlass. Sprachlich gelingt ihr wieder die Kombination von Poesie und Effizienz. Sie kann mit wenigen Sätzen eindrücklich skizzieren, was anderen Autor*innen nicht über mehrere Seiten gelingt. Kompetent entwickelte Charaktere, überzeugende Handlung, die das Grauen des Dritten Reichs nachdrücklich schildert und in der Gegenwart weiter schwelen lässt. Mit der Chance auf Verarbeitung. Spannend, klug und im besten Sinne lehrreich (ohne erhobenen Zeigefinger).

Etwas älter, aber unbedingt einen Lesetipp wert: Kanae Minatos „Geständnisse“. Kongenial 2010 verfilmt von Tetsuya Nakashima nach einem Drehbuch der Autorin. Das Buch erschien auf Deutsch 2017 und schildert aus verschiedenen Perspektiven die Geschichte einer nachvollziehbaren Rache, die aus dem Ruder läuft.
Statt einer erlösenden Katharsis entwickelt sich eine Eigendynamik, die Todesopfer fordert. Ein furioser Abstieg in eine Hölle, die nicht nur die anderen sind. Die bildgewaltige Verfilmung erfasst die Essenz des Romans, ohne ihm sklavisch zu folgen. Zwei Wunderwerke.

Das nachfolgende „Schuldig“ (mehr Romane sind von Minato leider nicht auf Deutsch erschienen) bewegt sich auf ähnlichem Terrain, ist immer noch lesenswert, aber deutlich schlichter und damit schwächer.

Trotzdem würde ich gern mehr von Minato lesen.

Meine kleine popkulturelle Nabelschau darf nicht ohne die Erwähnung einer starken Frau, mit der ich viel zeit verbracht habe. Mit Aloy durch „Horizon Forbidden West“ zu streifen war das reine Vergnügen. Eine wohl austarierte Spielmechanik und -dynamik, atemberaubende Grafik und eine solide Geschichte ergaben ein Videospiel-Highlight der besonderen Art. Mehr brauchte ich an der Konsole 2022 nicht.

Zum Schluss noch ein bisschen Eigenwerbung:

Die Arbeit auf und mit http://www.Booknerds.de war 2022 ebenfalls ein Hort der Freude. Chris Popp hat mit Dominic Schlatter einen ebenso würdigen wie engagierten Nachfolger als Chefredakteur gefunden, unter dessen Ägide ein monatlicher Redfaktions-Chat eingerichtet wurde und das Team quantitativ wuchs und qualitativ überzeugte.

Besonders freut mich, dass meine ehemaligen „Couch“-Kollegen Eva Bergschneider und Jörg Kijanski ebenfalls für Booknerds schreiben. Tolle Arbeit leistete auch Sarah Teicher (aka Sari Sorglos), die die sozialen Netzwerke mit positiven Inhalten pflegt (gibt es eh zu wenige von) und mit ihrer Kollegin Mariann Gaborfi den feinen Podcast „Autorinnen im Porträt“ am Start hat, der sich auch auf und via Booknerds finden und hören lässt. Lohnt sich. Wie das gesamte Booknerds-Programm mit Besprechungen quer durchs kulturelle Schaffen.

Ich habe 2022 sogar ein LP-Review geschafft. „Bleed’n’Blend“ der Isländerin KJASS wird hiermit vollumfänglich empfohlen. „KJASS weiß, wie man einnehmende Melodien schreibt und atmosphärisch vorträgt, während ihre Mitstreiter so kompetent, wie gefühlvoll zwischen Pop, Jazz, Folk und angrenzenden Genres wandeln.“ Lest den Rest (und auch meine anderen Betrachtungen zu Film, Fernsehen und Literatur) gerne selbst. Würde mich freuen.

2022 ist vorbei, und das ist verdammt gut so. Leider bin ich skeptisch, was 2023 angeht. Aber wie zitiert Martin Compart Urban Priol am Telefon so gerne wie treffend: Es kann immer noch besser als 2024 werden. Hauptsache, der kotzende Kerl ist weg.

Jochen König



INTERVIEW MIT DR. HORROR by Martin Compart
11. Oktober 2022, 12:25 pm
Filed under: Dr. Horror, Film, Rolf Giesen, Sekundärliteratur | Schlagwörter: , ,

https://buchmarkt.de/menschen/was-wirklich-fehlt-ist-eine-kriminalgeschichte-des-films-besonders-der-wirtschaftskriminalitaet/



DAURISCHE GOTIK – ÜBER ZENTRALASIATISCHE HORROR-KULTUR 2/ by Martin Compart

ENTWICKLINUGSGESCHICHTE DES GENRES

DIE 1920er

Zwei belletristische Werke, beide über Ungern-Sternberg, legten den Grundstein für die daurische Gotik.
Das erste war Ferdinand Ossendowskis romanhafter „Reisebericht“ TIERE, MENSCHEN UND GÖTTER („… diese slawistischste aller Reisebeschreibungen“, James Webb, S.242.). In dem Buch von 1922, dass in den USA im Erscheinungsjahr 300 000Exemplare in 28 Auflagen verkaufte, popularisierte der Autor im Westen den ein Jahr zuvor füsilierten „blutigen Baron“.

Die Poetik der daurischen Gotik spiegelt sich in den Kapitelüberschriften: „In die Wälder hinein“, „Drei Tage unter Feinden“, „Die Schlacht am Seybi“, „Mysterien“, „Das Herz Asiens in Zuckungen“, „Vor dem Antlitz Buddhas“, „Die Prophezeiung des Königs der Welt“ etc.
Das Buch behandelte als erstes die beiden wichtigsten Figuren des Genres: den „wahnsinnigen Baron“ und den „Rächer-Lama“.

Ossendowski berichtete auch von den eurasischen Träumen des Barons. Seine Motivation zur Schaffung eines zentralasiatischen Reichs, das sich auch auf Europa ausdehnen sollte, war zuerst Kampf gegen- und Vernichtung des Bolschewismus, dann aber auch die Führung eines dekadenten Europas hin zum tibetanischen Mystizismus.

Da der extreme Antikommunist Ossendowski polnischer Herkunft war, erklärten die chauvinistischen russischen Theoretiker aber ein späteres Werk zur Grundlage des Genres.
Für sie entstand die daurische Gotikd in den 1920er Jahren in Harbin unter russischen Emigranten. Auch der russische Faschismus entwickelte sich in diesem Umfeld.

Als erstes Werk des russischen Kanons gilt DIE BALLADE DES DAURISCHEN BARONS aus 1928, das ebenfalls Ungern-Sternberg heroisiert und mystifiziert.
In der Ballade werden gotische Motive in extremem Maße ausgeführt: Wie ein apokalyptischer Reiter erscheint der verrückte Baron aus dem Nichts. reitet auf einem schwarzen Pferd, steigt herab und „geht auf Leichen zu“ und durchbohrt einige mit seinem Dolch, seine Augen leuchten dämonisch in der Dunkelheit, begleitet von einem Raben und dem Heulen der Steppenwölfe. In der Ballade schwingt auch der Okkultismus von Helena Blavatsky mit, die seit dem 19. Jahrhundert großen Einfluss bei russischen Esoterikern ausübte.

Geschrieben von Arseny Mitropolsky (1889—1945) unter dem Pseudonym „Nesmelov“. Mitropolsky, alias “Nesmelov” war ein weißrussischer Offizier, der im Weltkrieg und im Bürgerkrieg gekämpft hatte. Er war Mitglied der faschistischen Partei in Harbin und machte Propaganda für die Japaner. Aber er gilt bis heute auch als talentiertester Lyriker der weißrussischen Diaspora in der Manschurei, respektive China. Unter dem Pseudonym „Nikolay Dozorov” war er der führende Propagandist für die japanische Kwantung-Armee.

Weißrussische Emigranten machten in häufig fragwürdigen Memoiren aus dem blutigen Baron einen romantischen Helden des Faschismus. Es wurden alle Arten von Memoiren, neben offenen Mystifikationen, von ehemaligen Offizieren der asiatischen Kavalleriedivision geschrieben. Idiotische Verklärungen und Rechtfertigungen, vollgestopft mit antisemitischen Phrasen, wie sie der Baron so leidenschaftlich verkündet hatte.
So weitete sich unter den Emigranten der Mythos aus.
Der Antisemitismus hatte Tradition in der weißrussischen Armee – und nicht nur, weil zu den führenden Bolschewisten Juden wie Trotzki zählten.
Als organisierte Propaganda wurden DIE PROTOKOLLE DER WEISEN VON ZION nachgedruckt und in der Armee verteilt. Admiral Koltschak ließ sie in Sibirien in großer Zahl produzieren und in seiner Administration ausgeben. Mit dümmlicher Perfidie versuchten sie die Revolution durch antisemitische Propaganda zu diskreditieren. Auch in der aktuellen daurischen Gotik findet sich Antisemitismus und Antirationalismus als Sinnangebot.

Die Beziehung zwischen dem Genre und Faschismus drückte sich unbewusst schon früh aus: Einer von Ossendowskis größten Fans war Heinrich Himmler, fasziniert von zentralasiatischer Mystik richtete er mehrere Tibet-Expeditionen aus, die wohl inoffiziell auch nach Agarthi oder Shambala suchen sollten. Auch ein Artikel von Julius Evola von 1973 beschreibt den faschistischen Kult um Ungern, basierend auf dem Buch von Ossendowski.

1930er UND SOWJETUNION

In der Sowjetzeit wurde der Baron als abschreckendes Beispiel für einen blutrünstigen Konterrevolutionär gelegentlich in Buch und Film behandelt. Er ist der Antagonist in einer Reihe von Spielfilmen über revolutionäre Ereignisse im Fernen Osten: SEIN NAME IST SUKHE-BATOR (1942), EXODUS (1968), DIE WANDERNDE FRONT (1971) und einige andere.

Das erste Sachbuch war wohl die Monographie von B. Tsibikov von 1947; zuvor war 1931 in der Zeitschrift „Krieg und Revolution“ der längere Aufsatz „Die Niederlage von Ungern“ von A.N. Kislov erschienen. 1937 befasste sich Valentin Tikhonov in einem frühen Roman mit ihm.

Die Propagandamaschine des Dritten Reiches erzeugte schließlich das Bild von Ungern als dem ersten Führer eines neuen Typs, dem ersten Faschisten. Ein Höhepunkt war Bernd Krauthoffs Roman ICH BEFEHLE (1938). Wenn man so will: der (bisher) einzige deutsche Beitrag zur daurischen Gotik.

Reichsleiter Alfred Rosenberg, wie Ungern-Sternberg Este und Antisemit und wichtiger Nazi-Ideologe, beschrieb den Baron als „den idealen Arier„, bemerkt Professor Mikhalev (in . https://iq.hse.ru/en/news/296270159) und stellte Ungern als „den ersten Führer eines neuen Typs, den ersten Nazi“ dar. Angeblich widmete Rosenberg Ungern ein Theaterstück, das in den 1930er Jahren in deutschen Theatern lief. „Nach unserer Hypothese liegt der Grund darin, dass Ungerns Kult – im Gegensatz zu denen um Koltschak oder Krasnow – in den 1930er Jahren in Nazi-Deutschland entstand. Die heutigen Imperialisten und die extreme Rechte reproduzieren alte ideologische Muster und Mythen in neuen Kontexten. Der Mythos Ungern wird genutzt, um verschiedene politische Kräfte zu konsolidieren.“

1990 BIS HEUTE

Die Renaissance der daurischen Gotik in den 1990er bis 2000er Jahren war im rechten politischen Kontext eingegliedert, genauso wie in den 1920er Jahren. Die Hauptkonsumenten dieses Produkts waren und sind Vertreter verschiedener radikaler eurasischer Kreise und ihre Anhänger.

1993 veröffentlichte Leonid Yuzefovich das Buch HERRSCHER DER STEPPE über Ungern-Sternberg. Nach Mikhalev ist dieses Buch auch Teil des daurisch-gotischen Kanons, vielleicht das Schlüsselwerk für die Neubelebung.

Auch in westlicher Literatur fand und findet der Baron Eingang, insbesondere in die romanische.
In Frankreich wurde durch Hugo Pratts Graphic Novel CORTO MALTESE IN SIBIRIEN (1973) Interesse entfacht; zwei weitere Umsetzungen als Comic folgten.
Die französische Punk Band Paris Violence widmete ihm 2005 einen Song:

In den Thrillern DARK STAR von Alan Furst, THE FULLER MEMORANDUM von Charles Stross, CLUB DUMAS von Arturo Pérez-Reverte und THE NINTH BUDDHA von Daniel Easterman wird Ungern erwähnt oder spielt sogar eine Rolle

PROTAGONISTEN

Neben Dja Lama und einigen konterrevolutionären Schlächtern ist der blutige Baron zweifellos die populärste und meistgenutzte Figur der daurischen Gotik und in der Verbreitung einer rechten eurasischen Ideologie.

Ungern war laut Augenzeugen, die ihn persönlich kannten, der perfekte Genre-Held: „Die Figur des Barons erinnerte an das Mittelalter, und etwas atavistisch war auch, dass er von seinen Vorfahren, den Deutschen Ordensrittern, denselben Durst nach dem Kriegerleben geerbt hatte, und vielleicht den gleichen Glauben an das Übernatürliche, Jenseitige. Er war abergläubisch; er wurde immer, auch im Feldzug, von Lamas, Astrologen, Wahrsagern begleitet… Er war überzeugt davon, dass er den Menschen bei ihrer Inkarnation half, wenn er sie umbrachte.“ (Pershin).

Seine Aussage „Denken ist Feigheit“ bringt jede rechte Ideologie trefflich auf den Punkt. Der faschistischen Doktrin gemäß: „Immer im Irrtum, nie im Zweifel.“

Hier nur ein kurzer Überblick: Die Offensive und die Guerillaaktionen der Roten Armee in Transbaikalien führten zur Niederlage der Weißen Armee. Der Baron zog sich aus Dauria zurück, marschierte in die Mongolei ein (1920), vertrieb chinesische Truppen aus der Hauptstadt Urga und stellte dann die buddhistische theokratische Monarchie in der Mongolei wieder her. Am Ende der Geschichte verschwörten sich seine eigenen Offiziere gegen ihn und überließen ihn den Bolschewiki, die ihn vor Gericht stellten, verurteilten und hinrichteten.

JÜNGERE MEDIALE VERMARTUNG

Wie schon erwähnt: In der Sowjetzeit wurden fünf oder sechs Filme über Ungern gedreht. In ihnen wurde er als verrückter reaktionärer Diktator dargestellt.
In den 2000er Jahren wurde er auch vom russischen Fernsehen entdeckt. In der erfolgreichen Serie BRIGADA (8 Folgen, je 37 Min.) wurde er als Hauptfigur dargestellt.
In VEPR (das Wildschwein) erscheint Ungern als mystischer Antiheld, der eine gewisse Sympathie weckt.

Ungern taucht verstärkt in der Musik auf. Die Musikgruppe Kalinov Most widmete ihm ein ganzes Album, in dem es im Hauptlied um den Orden Nr. 15 ging, den berüchtigten Vernichtungsbefehl. Die ukrainische Black-Metal-Band „Ungern“ benannte sich nach ihm und schwelgte in Texten zur Verherrlichung des Nationalsozialismus.

Vor allem die osteuropäische Fantasy soll eine Vielzahl von Verweisen auf Ungern enthalten.

Im Jahr 2014 unterstützte das russische Kulturministerium die Finanzierung eines Dokumentarfilms über die Spuren der Wilden/Asiatischen Division.

Ungerns Konterfei ziert heute T-Shirts und gefälschte buddhistische Ikonen.

In den letzten Jahren wurden in Russland Anfragen zur Errichtung eines Denkmals für Roman Ungern gestellt. Die initiierende Gruppe bezog sich auf die Erfahrung der mongolischen Nazi-Gruppierung Tsagaan Haas, die nach unbestätigten Daten die Erlaubnis erhalten hat, ein Denkmal für Ungern in Ulaanbaator zu errichten. Aber bisher ist es noch nicht errichtet worden, und Tsagaan Haas ist eine kleine Gruppierung ohne großen politischen Einfluss.
Während einer Abstimmung in Transbaikalien über die Frage nach einer „Symbolfigur“ für die Region erzielten Ungern und Ataman Semenov die meisten Stimmen. Infolgedessen änderten die regionalen Behörden das Format der Abstimmung und entfernten einige der problematischen historischen Figuren.

Aber auch die Tanibalisierung der USA durch fundamentalistische Christen-Sekten wird dieses merkwürdige Genre in der westlichen Welt kaum marktfähig machen.

LITERATURHINWEISE u.ä.:

Aleksey Mikhalyev, ein Politikwissenschaftler an der Buryatischen Staatsuniversität State University, hat die Popularität Ungern-Sternbergs im heutigen Russland und das Genre untersucht; siehe dazu: http://windowoneurasia2.blogspot.com/2019/06/dauria-gothic-why-russians-today-are.html .

James Webb: Das Zeitalter des Irrationalen. Politik, Kultur & Okkultismus im 20. Jahrhundert. Marix, Wiesbaden 2008, ISBN 978-3-86539-152-0.


hhttps://www.youtube.com/watch?v=8dkPIjfikKcttps://www.youtube.com/watch?v=2TBsJVecfI0

P.S.:

Nichts Neues aus Estland

Im November 2020 erhielt der Verein Ungern Khaan von der Koalitionsregierung Estlands 45.000 Euro an Zuschüssen. Es löste einige Diskussionen in Estland aus. Einige fanden es bedauerlich, dass die estnische Regierung eine Statue eines antisemitischen Kriegsverbrechers mit Plänen zur Weltherrschaft aktiv unterstützte.

Auch der Historiker Ago Pajur von der Universität Tartu wies darauf hin, dass Ungern-Sternberg keine wichtige Rolle in der Geschichte Estlands gespielt habe:

– Es gibt viele Menschen in der Geschichte Estlands, die ein Denkmal mehr verdienen als Ungern-Sternber. Ich sehe keinen Grund, ihm im heutigen Estland ein Denkmal zu errichten.

Eine verdrehte Interessenvereinigung lehnte das Geld dann ab. Grund seien „die medialen Beschreibungen des Barons als Warlord und Kriegsverbrecher, nicht als Befreier der Mongolei (…) Wir treffen die Entscheidung, weitere Beleidigungen des Barons in den Medien zu vermeiden.“

Ungern Khaan hat die Pläne für ein Denkmal von Baron Ungern-Sternberg jedoch nicht aufgegeben. Doch der Plan wird nun ausschließlich durch Spenden finanziert.

Der Wunsch, dem „Blutigen Baron“ Ungern-Sternberg eine Statue zu errichten, sei ebenso politisch wie historisch motiviert, sagt der Archäologe Torgrim Sneve Guttormsen.

Guttormsen betont, dass das Entfernen oder Einsetzen umstrittener Denkmäler in einen Kontext nicht dasselbe ist wie das Entfernen oder Verändern von Geschichte. Stattdessen kann es konstruktive Möglichkeiten geben, die Geschichte zu diskutieren oder zu korrigieren. Doch das ist wohl kaum die Motivation für den Verein Ungern Khaan, glaubt Guttormsen:

Der Artikel wurde ursprünglich in Vi Menn Nr. 07 2022 veröffentlicht
https://www-klikk-no.translate.goog/historie/den-blodige-baronen-mente-han-var-den-gjenfodte-djengis-khan-7121065?_x_tr_sl=no&_x_tr_tl=de&_x_tr_hl=de&_x_tr_pto=sc

https://news.err.ee/1192453/coalition-grants-45-000-for-memorial-to-baltic-german-war-crimes-baron



KINO, WIE ES KEINER MAG by Martin Compart
29. Dezember 2021, 10:44 am
Filed under: Film | Schlagwörter: ,

Er wirkt wie ein liberaler Evangelist, aber er sagt treffende und kluge Analysen.



TOM CLANCY GNADENLOS GEGEN DEN STRICH GEBÜRSTET by Martin Compart

Als russische Soldaten seine Familie als Vergeltung für seine Beteiligung an einer streng geheimen Operation der Navy SEALs töten, verfolgt Sr. Chief John Kelly die Mörder. Er tut sich mit seiner Kollegin Karen Greer und dem CIA-Agenten Robert Ritter zusammen. Hierbei kommt er unbeabsichtigt hinter das Geheimnis einer Verschwörung, die versucht, die USA und Russland in einen Krieg zu verwickeln. Kelly ist zwischen dem Pflichtgefühl, seine Familie zu rächen, und der Loyalität gegenüber seinem Land hin und her gerissen.

Der Film GNADENLOS (WITHOUT REMORSE) basiert auf Clancys Roman von 1993 WITHOUT REMORSE, der den Vietnamkrieg als Hintergrund hat und John Clark als spin-off in das Jack Ryan-Universum einführt. Das zehn Jahre alte Drehbuch war von Shawn Ryan (THE SHIELD) geschrieben worden und wurde von Taylor Sheridan (WIND RIVER, YELLOWSTONE) überarbeitet.

Tom Clancy hätte wahrscheinlich einen Infarkt bekommen, hätte er diese düstere Interpretation seines Werkes noch erlebt! Denn vom Superpatriotismus seiner Bücher – Trump wäre sicherlich Clancy-Fan, wären die Romane nicht zu anspruchsvoll für ihn – bleibt in diesem düsteren Film nicht viel übrig.

Ich lasse mich sogar zu der kühnen Bemerkung hinreißen: Clancy goes noir!

Der Film kommentiert die zunehmende Spannungserhitzung der USA/des Westens und Russlands. Um die innerlich gespaltenen US-Staaten wieder zu einen, bedarf es wieder eines großen, mächtigen Feindes, denn „nicht die Militärs haben den 2. Weltkrieg oder den kalten Krieg gewonnen, sondern die Ökonomen. Der beste Feind, den wir je hatten, war die Sowjetunion. Mehr Panzer, mehr Waffen – das hat die Ökonomie stark gemacht und uns wohlhabend“, so Guy Pearce als Secretary Clay.

Dafür müssen dann auch eigene Delta Force-Soldaten, CIA-Agenten und ihre Angehörigen über die Klinge springen. Denn im Film provozieren die Mächtigen der USA nicht mit der Einkreisungspolitik der NATO die Russen, sondern durch getürkte Kommando-Unternehmen, die in beiden Ländern breite Blutspuren hinterlassen.

Atemberaubend glaubwürdig gefilmt durch Regisseur Stefano Sollima (GOMORRAH) sind besonders die unrealistischen Action-Szenen (die den Großteil des Films einnehmen). Seine bösartige Adaption zeigt beeindruckend den aktuellen zivilisatorischen Zustand der kapitalistischen Machteliten.

Gut, das es noch Filme, Romane oder TV-Serien gibt, die nicht behaupten, was Amerika sein könnte, sondern was es ist.



FILMKRITIK BLACKOUT – Sternstunden des Schwachsinngelabers by Martin Compart
25. November 2021, 7:14 pm
Filed under: Film, Rezensionen, Sternstunden der Verblödung | Schlagwörter: , ,

In Hollywood Blackout widmet sich Filmautor Christian Keßler der ebenso hartgesottenen wie vielfältigen Tradition des klassischen Noir-Kinos der USA, die von etwa 1940 bis 1960 währte. An der Seite von Legenden wie Humphrey Bogart, Lauren Bacall, Burt Lancaster, Ava Gardner und vielen anderen durchstreift er die dunklen Bezirke von Hollywood, wo Gesetze nichts wert sind und Menschenleben noch viel weniger. Über 27.000 Minuten aufregenden Kinos werden besungen. Viele dieser Minuten können Leben verändern. Manche können sie auch beenden. Ein tiefschwarzer Reigen der Gangster, der Gestrauchelten und der Geläuterten, zeitlos und wunderschön.

Christian Keßler
Hollywood Blackout
Sternstunden des amerikanischen
Noir-Kinos 1941–1961
376 S., geb. Hardcover, farb. Abb.
ISBN 978-3-927795-90-7
Euro 35,00

Ich wollte dieses Buch mögen!

Denn beim ersten in-die-Hand-nehmen beeindruckt es sofort durch optische und herstellerische Qualität.

Aber dafür ist es leider zu textlastig und die unfreiwillige Komik des Autors trägt natürlich nicht über lange 370 Seiten.

Bestes zuerst: Das Buch ist gespickt mit Farbillustrationen (farbige Filmplakate zu jedem Artikel) und Schwarzweiß-Abbildungen in bester Druckqualität. Außerdem behandelt es zahlreiche Filme der Epoche, die man nie oder selten zu sehen bekommt. Leider gibt es zu keinem Film eine auch nur rudimentäre Credit-Leiste (aber die Credits könnte man sich im Netz oder aus Standardnachschlagewerken parallel zur eventuellen Lektüre zusammensuchen; doch selbst die ausführlichsten Stabangaben hätten das Buch nicht retten können).

Die Gestaltung von Jürgen Frohnmaier ist atemberaubend schön. Optisch ist das Buch ein Prachtband, der in jede Bibliothek mit Sekundärliteratur zum Noir-Film gehören sollte, wären da nicht diese Texte, die kein Lektor hätte retten können, bedauerlich in ihrer pubertären Ich-Bezogenheit voller ungeschickter bis mehr als peinlicher Formulierungen.

Die subjektivistische Herangehensweise ist – um es im Jargon des Autors zu sagen – meine Sache nicht. Dadurch strotzen die Texte von unfreiwilliger Komik und es wimmeln nur so von nicht belegten subjektiven Behauptungen. Des Weiteren erinnert der ungeschickt flapsige Stil an Schülerzeitungs- oder Fanzine-Besprechungen aus längst vergangen Zeiten:

Das Drehbuch von Sydney Boehn und Melvin Wald (beide Könner!“ (The Undercover Man))

„…niemand hält es für nötig, ihm Geld abzugeben, denn alle gehen davon aus, daß er schwer Dresche bezieht.“ (The Set-Up)

„Eine gewohnt saubere Fox-Verfilmung von Chandlers THE HIGH WINDOW, die sicherlich nicht die umwerfende Qualität der beiden Laird-Cregar-Lattenkracher von Brahm erreicht… Montgomery war ursprünglich ein Boxer gewesen. Sein Gesicht wurde ihm aber scheinbar niemals zerdellt, denn er stellte es eine ganze Zeit lang für die Fox zur Schau, später für Columbia wobei er meistens auf Western und Kriegsfilme spezialisiert war.“ (The Brasher Douboon)

Keine Ahnung, wie man ausgerechnet zur Hohezeit der Kommunistenhatz in Hollywood auf den Gedanken kommt, diesen Film zu drehen, aber er ist wirklich ganz hervorragend.“

Die meisten Schauspieler sagen mir nichts.“ (Cry Venegeance)

„Obwohl die Landschaft frei ist von Hindernissen, die den Blick verstellen könnten, handelt es sich um ein Kammerspiel;“ (Bad Day at Black Rock)

„(=ein atemberaubend aufspielender Richard Conte, der seine Dialogzeilen sanft, aber ungeheuer bedrohlich formuliert, wie Garben aus einem schallgedämpften Maschinengewehr)“
(The Big Combo)

„THE BIG COMBO ist ein beinharter Thriller, der nicht nur eine ungewöhnliche Folterszene per Hörgerät enthält, sondern einige Tabubrüche launig zelebriert.“

„Berühmt wurde eine Szene, in der Conte erst der Wallace mit Gewalt einen Kuß aufzwingt, dann aber – wenn er merkt, daß sie `reagiert´ – vor ihr langsam auf die Knie geht. Warum er das macht, werden wir wohl niemals erfahren, aber auch im Jahr 1955 wird es bereits Oralsex gegeben haben.“ (The Big Combo)

„Der mit Abstand beste Republic-Film, den ich jemals gesehen habe… Mit Sicherheit nicht für jedermann, aber Jedermann kann mir im Mondschein begegnen.“ (Moonrise)

Im Verbund mit dem niedergeschlagenen Grundton der Story wirkt sie merkwürdig traurig, und es sollte auch der letzte Film der Schauspielerin sein… doch der Tiefpunkt ihres Lebens blieb noch zu ergründen. Die Suche wurde begleitet von massivem Alkoholabusus, unzähligen falschen Männern… Mit 39 Jahren fand ihr Martyrium ein Ende am Boden eines Badezimmers.“ (Murder Is My Beat)

„Für sich gesehen ist KISS ME DEADLY ein ziemlicher Kracher und wohl mein Lieblings-Hammer.“ (Kiss Me Deadly)

„In vielen seiner Drehbücher baute Fuller irgendwo eine Figur namens Griff ein, als Held oder Edelstatist. Warum er das tat, entzieht sich meiner Kenntnis.“ (House of Bamboo) 1)

„…doch am Schluß ist auch hier das Heim eine uneinnehmbare Festung, umschmeichelt von David Manafields lieblicher Musik.“ (The Desperate Hours)

„Der in Australien geborene John Farrow muß wohl so eine Art `Renaissance Man´ gewesen sein, der kaum etwas in seinem Leben ausließ. So begleitete er auch schon mal wissenschaftliche Expeditionen in unwirtliches Gebiet. An seiner Seite hatte er die wunderschöne Maureen O´Sullivan, die ihm sieben Kinder gebar. Darunter befand sich Mia (die an Woody Allen geraten sollte), aber auch Tina (die an italienische Zombies geraten sollte).“ (The Big Clock)

So läuft das ununterbrochen über 370 Druckseiten. Man kann das Buch aufschlagen, wo immer man möchte, und findet umgehend solche Stilblüten (um es freundlich zu formulieren). Die Beispiele wurden systemlos herausgegriffen (und vieles noch blöderes wahrscheinlich übersehen). Der Autor kriegt kaum einen geraden Satz hin. Das hat bei allem Amüsement auch etwas erschreckend Hilfloses, in diesem grundlos zelebrierten Selbstvertrauen.
Das er häufig bei den literarischen Vorlagen blufft (anscheinend weiß er nicht, dass der englische Begriff „Novel“ einen Roman und keine Novelle bezeichnet) – geschenkt.

Exzessive Subjektivität liest sich besser ohne inflationären Gebrauch von Personalpronomen. Die durchaus erkennbare Leidenschaft des Autors für sein Sujet überschreitet seine stilistischen Mittel.

Extrem peinlich ist im „Vorspann“ der Teil, in dem sich der Autor selbst (und in der misslungenen Diktion) als einen typischen hard-boiled-Priivate eye beschreibt, der zum Verfassen dieses Buches genötigt wird („Die düsteren Wolken schoben sich ineinander, als würden sie dafür bezahlt“). Sowas klingt zu vorgerückter Stunde bei Konzeptgesprächen in der Paris-Bar oder im Zwiebelfisch erstmal ganz witzig, sollte dann aber keinen Einzug ins Endprodukt halten.

Anschließend stolpert der Autor in einer Art Vorwort durch seine wirren Vorstellungen vom Film noir und was dieses Buch eigentlich soll: „Das Ziel von Hollywood Blackout ist es, ein Gefühl für diese Welt des Noir-Kinos zu vermitteln, in der eine gänzlich neue Sicht auf die Menschen und das Leben verhandelt wurde.“ So die Behauptung dieses Buches.

Der Autor sollte sein erstaunliches Vielwissen lieber auf Tresengespräche konzentrieren. Aber vielleicht hat er sich ja mit diesem Werk als Dozent für die Filmakademie Ludwigsburg qualifiziert.

Nach dieser anstrengenden Lektüre sehnt man sich nach Filmbesprechungen von Hans Gerhold um wieder ins geistige Gleichgewicht zurückzufinden.
Und eine Frage stellt sich: Hat ein Verlag nicht auch die Verpflichtung, einen Autor vor sich selbst zu schützen?

P.S.: Um den einstigen Ullstein-Vertriebschef Meier zu zitieren: „Es gibt keine negativen Kritiken, solange Autor, Titel und Verlag richtig geschrieben sind.“

1) Jochen König kommentierte zu FILMKRITIK BLACKOUT:

Griff“ war ein Soldat, mit dem Samuel Fuller im zweiten Weltkrieg zusammen diente und der darin umkam. Die Namensnennung in Fullers Filmen ist eine Reminiszenz an den Mann. Das zumindest hätte man ganz leicht eruieren können. Sehr schade. Ich mag Kesslers Bücher eigentlich. Aber das klingt, als hätte er sich gewaltig überhoben.



BACKCOUNTRY – SCHÖNES AUS DEN BACKWOODS by Martin Compart
23. August 2021, 7:28 pm
Filed under: Backwood, Film | Schlagwörter: , ,

Es müssen nicht immer Kannibalen, Serienkiller oder durchgeknallte Faschisten sein, die für gute Laune im Backwood-Genre sorgen.

Seitdem wir durch permanente und kompetente Umweltzerstörung immer mehr Naturkatastrophen bewirken, dürften Filme wie BACKCOUTRY uns mit Freude oder Trost darüber erfüllen. Wer den Film gesehen hat, wird nicht mal mehr in den Stadtpark gehen wollen. Der Film thematisiert die tiefe Entfremdung von der Natur, begleitet von einer gleichzeitigen Arroganz urbaner Trottel.

Arrogant trampelt ein junges Paar durch einen wilden kanadischen Naturschutzpark (wahrscheinlich inzwischen abgebrannt). Alle Ratschläge des Rangers, bestimmte Pfade keinesfalls zu verlassen, schlägt das Männchen in den Wind um das Weibchen vermeintlich zu beeindrucken. Zuvor hat es in seiner Hybris auch heimlich dafür gesorgt, dass weder Karte noch Handy im Reisegepäck blieben. Alles läuft erstmal einigermaßen, obwohl sich das Männchen bald den Fuß verletzt.
Aber dann müssen sie auf einmal feststellen, dass sie sich hoffnungslos verirrt haben und auch Vorräte und Wasser knapp werden.
Als dann auch noch ein schlecht gelaunter Bär auf sie aufmerksam wird, geht die Party richtig los.

Backcountry – Gnadenlose Wildnis ist ein kanadischer Backwoodfilm von 2014. Geschrieben und gedreht wurde der Film von Adam MacDonald, der sich auf seine unglaubliche Hauptdarstellerin Missy Peregrym (REAPER, ROOKIE BLUE, FBI etc) und die Wildnis von Ontario verlassen konnte.

Regisseur und Hauptdarstellerin

Robert Abele schrieb in der Los Angeles Times vom 26.März 2015:
„…eine atmosphärische Wildnis-Horrorgeschichte…. Was kann schon schief gehen, wenn sich zwei Menschen in einem Wald aufhalten? Horrorfilme, die in diese Überheblichkeit verliebt sind, haben verrückte Mörder, böswillige Außerirdische, sogar mythische Tiere vorgeschlagen. Drehbuchautor und Regisseur Adam MacDonalds moderat nervenaufreibender Wildnis-Thriller Backcountry erinnert jedoch mit grimmiger, grausiger Entschlossenheit daran, dass menschliches Versagen und pelzige, wilde, kaltblütige Natur alles ist, was man braucht, um … das Publikum ordentlich in Wallung zu bringen… Christian Bielz’ kunstvolle Kameraarbeit ist ein Plus, und MacDonald weiß, wie man ein Spannungsfeuer anfacht. Backcountry bringt unweigerlich einen Blutrausch mit sich, aber der Film findet atmosphärische Wege, um zu zeigen, wie sich die idyllische Ruhe bei einem Ausflug in die Natur in einen Überlebensalptraum für die Unvorbereiteten verwandeln kann.“

Zu sehen ist der Film, der bei uns nie in die Kinos kam, bei Amazon Prime.



DIE ERBÄRMLICHKEIT ALLER STREAMINGDIENSTE… by Martin Compart
17. April 2021, 6:21 pm
Filed under: Weise Worte | Schlagwörter: , , ,

… beruht auf ihrer an Dämlichkeit in der menschlichen Kulturgeschichte unübertroffenen Präsentation ihres Produkts. Die immer gleichen Floskeln, gepaart mit Nicht-Informationen, verhindern eine interessierte Ansteuerung. Über kurz oder lang wird sich neben digital-strukturellen Komfort (muss ich bei jeder Folge in folge einen Alterscode eingeben und kann „was bisher geschah“ nicht wegdrücken) daran mitentscheiden, welcher Streamingdienst erfolgreich im Markt sein/bleiben wird.

Momentan sind  alle auf demselben Idiotenniveau.

Wahrscheinlich werden die deutschen Texte dieser zweizeiligen  inhaltslosen Präsentationen nebenbei von Springer- oder Burda-Idioten, oder wie sie alle heißen, gemacht, immer auf der Suche nach einem Zubrot für ihre überflüssige Existenzsicherung.

 

Um einen Claim der webungsfinanzierten Verblödungssender zu zitieren: SO SIEHTS AUS:

„In dieser dauernd preisgekrönten Serie muss die Heldin alles geben um ihre Lieben/Menschheit/Kosmos/Haustier/Beziehung zu retten.“

„In dieser preiswürdigen Krimi-Serie wird die alleinerziehende/unter Schwachsinn leidende/gelähmte/hyperaktive Kommissarin in ihr Heimatdorf in der Nähe des Golf-Stroms versetzt, wo ihr Vater wohnt, und kommt einer unglaublichen Verschwörung auf die Spur.“

„Ausgezeichnet mit internationalen Preisen und voll mit großen Stars. Es steht schon fest: Es wird eine 2. Staffel geben.“

„Sie war eine erfolglose Influencerin, dann wurde sie von einem radioaktiven Buddhisten vom Mars gebissen, bekam Superkräfte und zeigte es allen.“

„In dieser unglaublich guten deutschen Serie, die es mit internationalen Standards aufnehmen kann und keinen Vergleich mit LINDENSTRASSE, BONANZA oder DER PATE 3 scheuen muss, wird ein fränkischer Transvestit Ministerpräsident und verirrt sich im Wald.“

„Eine Frau sucht sich selbst und findet die Autobahnausfahrt. Ab Freitag: die 5.Staffel.“