Martin Compart


DENN SIE WISSEN NICHT, WAS SIE TUN: ÜBER DIE HOLZHALTIGKEIT EINIGER KRITIKER by Martin Compart
15. Juli 2012, 4:25 pm
Filed under: Crime Fiction, Heftroman, Krimis, Noir-Theorie, Pulp, Rezensionen | Schlagwörter: ,

Immer wieder blökt es in der Krimikritik laut und erschreckt „pulp“ wie aus einer Hammelherde, die den Wolf gesehen hat. Der falsche Umgang mit literaturgeschichtlichen Begriffen bei uns zeigt einmal mehr, die erbärmliche Rezeption von Kriminalliteratur in Deutschland. Eine konsequente Tradition, die sich aus den Printfeuilletons ins Internet fortsetzt: Kein Hauch von Genre geschichtlichen Kenntnissen. Da bezieht sich dann ein Unwissender auf einen anderen und durch diese Parallelquellen soll ein genügender Grad an Verifikation erreicht werden.
Der auffälligste Fehler dabei ist die Nutzung dieses Terminus für Inhalte statt Form. Selbst Wikipedia behauptet, dass „Pulp“ umgangssprachlich für „Schund“ zu verwenden wäre. Dafür gibt es wohl eher das schöne neudeutsche Wort „trash“. Wikipedia: „Der Name „Pulp“ leitet sich vom billigen, holzhaltigen Papier (engl. wood pulp) ab, auf dem die Magazine gedruckt wurden. Pulp ist umgangssprachlich auch als „Schund“ zu verstehen (siehe Intro des Spielfilmes Pulp Fiction).“ Der Titel von Tarantinos Film bezieht sich nicht nur auf die Inhalte, sondern mehr noch auf den anthologischen Aufbau, der dem strukturellen Aufbau der Pulp-Magazine folgt. Außerdem sollten umgangssprachliche Idiotismen – von „chillen“ bis „public viewing“ – in Rezensionen nichts zu suchen haben; die kann man getrost RTL-Kunden wie der Schuhfachverkäuferin Sheila überlassen.
Diese Kritiker benutzen den Begriff „pulp“ fast so, wie Proll-Gert und Tony Blair mit dem Begriff „Reformen“ umgegangen sind, also der ursprünglichen Bedeutung entkleiden und ins Gegenteil kehren. Sie wollen mit dem Ausdruck „pulp“ anzeigen, dass es sich um etwas wildes, subversives, ursprüngliches, den Hard-boiled-Traditionen verpflichtetes, handelt, das ihrer sonstigen Lektüre abgeht. Ihre selbstgefällige Kleinbürgerlichkeit und ihre brave Spießigkeit erschrecken vor der Maßlosigkeit des Genres.
Falsche Begriffsnutzung ist ein Ärgernis und fördert falsches, bestenfalls ungenaues denken.
So werden Groschenhefte wie JERRY COTTON, LASSITER oder PERRY RHODAN als „deutsche Pulps“ bezeichnet, was ein großer Blödsinn ist. Denn die Heftromane lassen sich auf den publizistischen Vorläufer der „Pulps“ zurück führen, den „Dime Novels“: 1860 wurde in den USA von Verleger Erasmus Beadle die ersten Dime Novels veröffentlicht, Heftromane mit abgeschlossenen Abenteuern einer Serienfigur. Die erste Dime Novel-Reihe, die sich ausschließlich der Detektivliteratur widmete, war die OLD CAP.COLLIER LIBRARY des Verlages Norman L.Munro. Die Reihe erschien von 1893 bis 1899 und brachte neben ausländischen Lizenzen, wie Übersetzungen Gaboriaus, auch Originalstoffe; z.Bsp. OLD BROADBRIM, THE QUÄKER-DETECTIVE. 1886 erschien dann NICK CARTER von John Russell Coryell. Er war wohl der berühmteste Held der Dime Novels und für die Entwicklungsgeschichte der Kriminalliteratur im Allgemeinen und des Heftromans im Besonderen von zentraler Bedeutung. In Deutschland wurde NICK CARTER ab 1906 veröffentlicht.
1896 war das Geburtsjahr der Pulps: Frank Munsey änderte die Jugendzeitschrift ARGOSY in ein Abenteuermagazin für Erwachsene. Gedruckt auf 192 Seiten, rauen, holzigen und unbeschnittenen Papier im Format 17,5×25 cm. Von den Seiten wurden ca.60 für Anzeigen verwendet. Um 1900 lag die Auflage von „Argosy“ bereits bei eine halben Million. „Der Vorteil der Pulp-Magazine gegenüber den Dime Novels – 1919 wurde die letzte Dime-Novel-Serie, THE NEW BUFFALO BILL WEEKLY, in ein Pulp-Magazin umgewandelt – war neben einer größeren Variationsbreite die Experimentierfreudigkeit, die das Medium förderte. Nur wenige nutzten das Pulp-Format um inhaltlich das Dime Novel-Konzept fortzuführen. Beispielsweise DOC SAVAGE und THE SHADOW.
Da das Publikum der Pulps relativ konsumschwach war, sank die Zahl der Anzeigen. Die Profitrate war sehr gering (in den 30er Jahren etwa zwischen 450 und 750 Dollar bei einer Auflage von 100000) und basierte alleine auf dem Verkaufserlös und nicht auf den Anzeigen. Das zwang die Verleger dazu, das Literaturmaterial billig einzukaufen (3-4 Cents pro Wort in den 1920ern, ein Cent durchschnittlich in den 1930ern).
1905 führte der Dresdener Eichler Verlag mit der Lizenz der amerikanischen Dime Novel-Serie BUFFALO BILL den Heftroman in Deutschland ein und prägte mit seinem 20 Pfennig-Preis auch den Begriff „Groschenheft“.
Die Pulp-Magazine unterscheiden sich von den Dime Novels konzeptionell dadurch, dass sie als Anthologien mit unterschiedlichen Geschichten verschiedener Autoren aufgebaut waren. Die meisten dieser Magazine konzentrierten sich auf ein bestimmtes Genre: BLACK MASK auf Kriminalliteratur, WEIRD TALES auf Horror, AMAZING STORIES auf Science Fiction – um nur einige der bekanntesten zu nennen. Deswegen ist Evolver Books SUPER PULP tatsächlich ein Pulp-Magazin (sowohl im inhaltlichen Konzept wie im formalen), dagegen aber JERRY COTTON, PERRY RHODAN oder LASSITER reine Dime Stories.
Gerne werden auch die Paperback Original-Autoren (Thompson, Brewer, Whittington, Goodis, Williams, Block, Westlake usw.) unter „pulp“ subsumiert. Dabei waren es genau diese Taschenbuchromane, die dem Medium Pulp-Magazin die massenmediale Dominanz im Printbereich nahmen, sogar auslöschten und einer völlig anderen Dramaturgie folgten. Die wenigen Pulp-Magazine (etwa ELLERY QUEEN´S MYTERY MAGAZINE), die die Marktbereinigung überstanden, mussten sich in das zeitgemäßere „Digest-Format“ wandeln.
Wenn man inhaltlich „pulp“ etwa als Schund oder „trash“ verwendet, geht das ebenfalls völlig daneben. Denn die Pulps waren Veröffentlichungsorte für Autoren wie Dashiell Hammett, Raymond Chandler, Jack London, H.P. Lovecraft, Philip K.Dick, Louis L´Amour, Upton Sinclair oder Ray Bradbury. Also für Schriftsteller, die subversive Weltliteratur geschrieben haben.
Die weniger gebildeten „Kritiker“ sollten wenigstens ein paar Standardwerke zur Literaturgeschichte lesen, um nicht dauernd ihre Ahnungslosigkeit wie eine Monstranz vor sich her zu tragen. Ihr Verhältnis zum Genre erinnert an Alkoholiker, die sich für Whiskysammler halten.

cover

Aus dem Inhalt:
On the Noir Road: Die schmutzigen Straßen des JAMES CRUMLEY,
CHARLES WILLEFORD: Keine Hoffnung für die Lebenden, Der Texaner: JOE R.LANSDALE, EVIL von JACK KETCHUM, Es war einmal in Washington: GEORGE P.PELECANOS, Queneau in den Mean Streets: JAMES SALLIS, Stadtführer für Perverse: MATTHEW STOKOES Roman HIGH LIFE oder Noir goes mainstream, ,PAINT IT BLACK – intermediale Betrachtung zu einer Noir-Theorie, HINTERWÄLDLER, KANNIBALEN UND MONSTER – zum Backwood-Genre, WAS IST PULP?, LEO MALETS Schwarze Trilogie und der Neo-Polar, Noir-Abenteurer: PIERRE MACORLAN und vieles mehr.


4 Kommentare so far
Hinterlasse einen Kommentar

Okay, den Unterschied Pulp – Dime Novels habe ich verstanden. Aber was ist dann der Unterschied Pulp – Digest Magazine? Beides sind Anthologien von Kurzgeschichten. Eines mit thematischer Eingrenzung, das andere ohne?

Kommentar von Octavius Zelma

Hallo!
Digest-Magazine waren nie ein Massenmedium in der Größenordnung von Pulps oder Dime Novels. Der Erfolg dieser Magazine war relativ gering. Zuerst versuchte man die Pulp-Magazine in diesem Format weiter zu führen, da sie in die meisten Vertriebsformate passten (z.Bsp. Drehständer), in denen die nun erfolgreicheren Taschenbücher (Paperback Originals) präsentiert wurden. Vom Format her kleiner Als die Pulps (aber etwas größer als ein Taschenbuch). Es gab auch nie so viele und thematisch unterschiedliche Digest Magazine wie Pulp Magazine. Inhaltlich konzentrierten sie sich erst auf die erfolgreichsten Genres, die auch von den Pulps bedient wurden, Science Fiction und Kriminalliteratur (in den 50ern auch Western und vor allem True Crime). Genre überschneidende Magazine gab es im Digest-Format so gut wie nie. Die erfolgreichsten Digest-Magazine waren und sind oder waren keine Genre-Magazine: zum Beispiel READERS DIGEST (Namensgeber des Formats) und vor allem die Programmzeitschrift TV GUIDE (das dieses Format 2005 aufgegeben hat).
Für die ehemaligen Pulp-Autoren waren die Paperback Originals außerdem attraktiver: Der Markt verlangte ungeheuer viel Nachschub und die Romane wurden auch besser bezahlt.
P.S.: Als erfolgreiche „Weiterentwicklung“ der Dime Novels könnte man die „Men´s Adventure-Serien im Taschenbuchformat seit den 1970ern ansehen: Don Pendletons EXECUTIONER, die Serie mit NICK CARTER als Spymaster, DOOMSDAY WARRIOR, WOLF KILLER, JOHN EAGLER, PHOENIX TEAM und Legionen anderer (dazu gibt es eine tolle Page:http://glorioustrash.blogspot.de/) einordnen.

Kommentar von Martin Compart

Mit dem Begriff ‚pulp‘ geht es offenbar so, wie mit dem Wort ’schwul‘. Da wird alles Mögliche zusammengepackt, was Außenstehende auch nur entfernt an Andersartiges erinnert. Es fehlt nur noch eine vollständige Umdeutung ins Positve, dann ist die Vermischung leichter erträglich.

Kommentar von Ria

Ach, ich vergaß den Nachsatz: Danke für die umfassende Aufklärung!

Kommentar von Ria




Hinterlasse einen Kommentar