Filed under: Geschichte des Polit-Thrillers, Krimis,die man gelesen haben sollte, MICK HERRON, Porträt, Spythriller | Schlagwörter: 007, Ian Fleming, London, MICK HERRON, Polit-Thriller, Spionageroman, Thriller
River Cartwright ist ein ausgemusterter MI5-Agent, und er ist es leid, nur noch Müllsäcke zu durchsuchen und abgehörte Telefonate zu transkribieren. Er wittert seine Chance, als ein pakistanischer Jugendlicher entführt wird und live im Netz enthauptet werden soll. Doch ist das Opfer der, der er zu sein vorgibt? Und wer steckt hinter den Entführern? Die Uhr tickt, und jeder der Beteiligten hat seine eigene Agenda. Auch Rivers Chef Jackson Lamb, ein Falstaff des Thrillers.
Slough House, das ist der Ort, an den Agenten des Geheimdiensts MI5 in London verdammt werden, deren Karrieren frühzeitig gescheitert sind. Hier soll man in Verzweiflung, freiwillige Kündigung, hysterischen Niedergang und Selbstaufgabe getrieben werden (welch grandiose Paraphrase für das 21.Jahrhundert!).
Ein Ort, der nur von einem genossen und geliebt wird: Jackson Lamb.
Vielleicht haben diese ›Slow Horses‹ einen Auftrag komplett vermasselt, kamen einem ehrgeizigen Kollegen ins Gehege, oder sie hingen einfach zu sehr an der Flasche, was in diesem Gewerbe nicht unüblich ist. Außer dass sie Einzelgänger sind, haben sie noch eins gemeinsam: Sie alle wollen wieder zurück in den aktiven Dienst in Regent’s Park, raus aus Lambs Abdeckerei.
Slow Horses
Aus dem Englischen von Stefanie Schäfer
Hardcover Leinen
480 Seiten
ISBN 978-3-257-07018-7
€ (D) 24.00 / sFr 32.00* / € (A) 24.70
Der Diogenes Verlag liefert einmal mehr Grundnahrungsmittel für den anspruchsvollen Thriller-Fan: Mick Herron, einer der fünf besten britischen Polit-Thriller-Autoren der Gegenwart. In Großbritannien und jetzt auch in den USA wird er bereits als Klassiker gehandelt.
Und das mit vollem Recht: Er ist nicht nur ein eindrucksvoller Stilist, er bringt auch Innovationen in ein Genre, dass seit zwanzig Jahren stagniert oder in dümmlichen Anti-Terroristen-Agenten-Thrillern verharrt. Herron bestätigt Eric Amblers Postulat des „Thrillers als letzte Zuflucht für Moralisten“ und zeigt unsere heutige Moral als Anpassung an Sozialsysteme.
Sein zynischer allwissender Erzähler kriecht jeder Figur so tief unter die Haut, dass denn Leser selbst die scheinbar uninteressanteste Figur interessiert. Nur bei der Hauptperson Jackson Lamb ist er weniger allwissend; sie scheint er selber noch zu erforschen. Ihr gelingt es, diesen so dominanten Erzähler zu überraschen. Überraschungen gehören zu den großen Stärken von Herron: Die Plots nehmen überraschende Wendungen, die Charaktere verhalten sich überraschend und die Dialoge sind es auch – immer gespickt mit witzigen Zynismen.
Herron überrascht den abgebrühtesten Thriller-Fan immer wieder.
Ein Grund sich etwas ausführlicher mit ihm zu beschäftigen.
Denn seine überfällige Veröffentlichung auf dem deutschen Markt ist ein absolutes Highlight. Auch wenn er es nicht auf die Jauchegrube unserer Bestsellerlisten schafft (dazu sind seine Romane zu intelligent und anspruchsvoll), sollte er doch eine große Gemeinde finden, für die in hoffentlich kurzen Abständen die bisherigen sechs Bände der SLOUGH HOUSE-Serie von Diogenes veröffentlicht werden. 1)
Mit diesen Romanen hat Herron sich als einer der besten Stilisten und intelligentesten Autoren seiner Generation etabliert; nicht nur im Spy-Genre. Seinem traumwandlerisch sicheres Sprachgefühl merkt man die frühe und langjährige Leidenschaft für Lyrik an. Sie fließt völlig unangestrengt in seine Epik.
Herron wurde 1963 in Newcastle upon Tyne geboren und studierte in Oxford am Balliol College, wo er seinen Abschluss in englischer Literatur machte. Schon als Teenager begann er Gedichte zu schreiben. „Erst später begann ich mit Romanen. Aber seit meiner Jugend schreibe ich jeden Tag.“
Nach dem Studium arbeitete er mehr als 15 Jahre lang als Textredakteur in London. Er wohnte in Oxford und fuhr jeden Tag zum Job in die Metropole. „Der Job lehrte mich eine Menge über das Schreiben. Besonders über das Weglassen von Worten. Nebenher schrieb ich nachts täglich 350 Worte an Romanen.“
Es dauerte zwei Jahre, bis er einen Verleger für seinen ersten Roman fand: DOWN CEMETERY ROAD, 2003, war der erste Band in seiner Oxford Serie über Sarah Tucker und Zoe Boehm. Er hatte 18 Monate an dem Roman gearbeitet. Ein Jahr später folgte der zweite Band der Serie. Insgesamt schrieb er bis 2009 vier Romane über seine weiblichen Protagonisten.
“The two women are very different, I hope, so shuttling between them allows me to indulge opposing viewpoints. Sarah is the more feeling of the pair, and I sometimes claim that I’m getting in touch with my feminine side when writing about her. The more likely truth is that, when writing about Zoë, I’m trying to bolster my masculine nature.”
Bedingt durch seinen Fulltimejob arbeitete Herron sehr langsam. Besonders viel Zeit nahm und nimmt das Lektorieren in Anspruch: „Das Ausmerzen der verdammten Semikolons!“
2006 verfasste er mit LOST LUGGAGE seine erste Kurzgeschichte für „Ellery Queen´s Mystery Magazine“. 2009 wurde er von dem Magazin für seine Story DOLPHIN JUNCTION mit dem „Ellery Queen Readers Award“ ausgezeichnet.
2010 gelang ihm mit SLOW HORSES der große Wurf, der erste Roman über die „Abdeckerei“-Abteilung des MI 5.
Obwohl er gleich für den „Ian Fleming Steel Dagger Award“ nominiert wurde, stand er plötzlich ohne Folgevertrag bei Soho Crime da. Soho Crime hatte den Roman zuerst erfolglos in den USA veröffentlicht und die Resonanz in England war auch nicht besonders. Deshalb dauerte es drei Jahre, bis der Verlag sich durchrang den zweiten Roman, DEAD LIONS, zu veröffentlichen. Es dauerte zwei weitere Jahre, bis Herron und sein Agent einen neuen Verlag fanden. Als dann John Murray die Serie übernahm, erkannten die dortigen Mitarbeiter das Potential und bedienten es entsprechend. Ein britischer Kritiker nannte das Verhalten von Soho Crime das „literarische Äquivalent zur Ablehnung der Beatles durch Decca“.
Warum der Wechsel von düsteren Psychothrillern zum Spionage-Roman?
„Ich wollte über größere Themen schreiben. Der Spionageroman bietet diese Möglichkeiten. Als Kind war ich ein großer Fan der frühen Romane von Alistair MacLean. Ich begann früh Bücher für Erwachsene zu lesen. Das war sofort Kriminalliteratur. Angefangen mit Agatha Christie. Alistair MacLean. Der wunderbare Dick Francis. Dann entdeckte ich die amerikanische Literatur: Hemingway, Fitzgerald, Steinbeck. Ich las sehr früh Nabokov, da wir ein Buch von ihm zu Hause hatten. Vor allem war ich ein Bibliotheks-Gänger – das bin ich immer noch. Ich greife mir, was mich anspringt. Heute vergessene Autoren wie John O´Hara oder Victor Canning.“
Ein Autor, der noch Victor Canning kennt und liest, kennt das Genre in all seinen Verästelungen.
Und selbstverständlich kennt er die Klassiker wie Ian Fleming (sein Lieblings-Bond-Roman ist MOONRAKER) oder Len Deighton („Ich hatte einen Goldfisch namens Harry Palmer.“).
Welcher Autor hat ihn am stärksten beeinflusst?
„GORKY PARK von Martin Cruz-Smith ist meine Messlatte. Aber ich kaufe jedes Buch von ihm, sobald es veröffentlicht wird. Dialoge waren für mich anfangs das schwierigste zu schreiben. Inzwischen fällt es mir leicht. Ich habe die großen Dialog-Schreiber intensiv studiert – Elmore Leonard zum Beispiel.“
Und welche aktuellen Spionageautoren bewundert er?
“ Ich mag eine Reihe von Büchern von Alan Judd und John Lawton. Es gibt noch einige andere Autoren, die ich sehr mag, aber die beiden fallen mir zuerst ein.“
Große TV-Serien wie THE SANDBAGGERS oder SPOOKS sind unter seinen Einflüssen vermutbar: Sie dürften die Ensemble-Struktur der SLOUGH HOUSE-Serie angeregt haben.
“There are some good thriller writers working today in the spy genre but they’re thin on the ground. Many of the good ones tend to write within a historical context. Modern espionage fiction is not what it once was. Maybe the fact that the real spy world is now a team game with secret services conducting wars more with technology than field operatives, has contributed to rendering some of the traditional tropes of the contemporary spy thriller redundant. Lone agents fighting to save the world have simply lost their relevance.”
Das ihn Kritiker für seinen „neuen Realismus“ loben, amüsiert Herron: „Because I’m a thriller writer that narrows the choices. My stuff could have been police officers but then I would have had to do actual research. And you’d have to get the procedure right because if you don’t, if you just make stuff up and you write about the police, you’re going to get into trouble. But if you make stuff up about the Secret Service, people say, ‘you seem to know an awful lot about that’ and then they assume you have some sort of experience.”
Bei Herrons Qualität wird natürlich der gottgleiche Langweiler als Vorbild, Vergleich oder Pate herbei gequält. “I won’t say that le Carré cast a shadow, rather he cast a light over the spy genre that will continue for a long, long time.”
Wenige Autoren schreiben so eindrucksvoll über London. Sicherlich werden seine Romane künftig auch im Genre „London Novel“ verzeichnet sein, als Bücher, die das Zeitgefühl der Stadt im frühen 21.Jahrhundert unter der Terrordrohung ähnlich überzeugend wiedergeben wie etwa Joseph Conrads THE SECRET AGENT es für den Anfang des 20.Jahrhunderts tat.
“I worked in London for fifteen years, without ever living there. And yes, I think love/hate sums it up. As a locale for fiction, it fulfils all my needs: it’s bright and dazzly, grubby and creepy; it’s got all the history one could want, and still offers huge scope for making up more when required. But it’s noisy and crowded, and doesn’t always work properly, and you have to travel annoying distances to get anywhere. And the reputation it’s developed as the world’s money-laundering capital, which goes hand-in-hand with all manner of other corruption, fills me with unease.”
1) Ein Problem dabei könnte sein, dass 90% der deutschen Kritiker (nicht nur sogen. Genre-Kritiker) mit ihren bescheidenen Maßstäben Stil weder erkennen, einordnen noch würdigen kann. Man muss sich nur bisherige Besprechungen der deutschen Ausgabe ansehen, ohne durch Fremdschämen betroffen zu werden. Aber Stil ist ein intelligentes Vergnügen, dem man folgen können muss. Ich tu mich daran selber schwer, bin dann aber über die nicht allzu schwere Erkenntnis höchst erfreut.
FORTSETZUNG FOLGT
12 Kommentare so far
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„Mick Herron, einer der fünf besten britischen Polit-Thriller-Autoren der Gegenwart. “ Die anderen vier?
Kommentar von Stefan Heidsiek 21. September 2018 @ 5:19 pm… wird man über kurz oder lang in diesem Blog genannt bekommen.
Kommentar von Martin Compart 21. September 2018 @ 5:35 pmGerissen. 😉 – Wäre nicht von Gegenwart die Rede, meine Riege sähe wie folgt aus: Ross Thomas, Eric Ambler, Gerald Seymour, John le Carré und Graham Greene.
Kommentar von Stefan Heidsiek 21. September 2018 @ 6:13 pmSind sie tot oder sterben sie gerade?d
Kommentar von Martin Compart 21. September 2018 @ 7:28 pmStefan, sollten wir nicht alles dafür tun, ein gewisses Niveau in dieser Branche zu ermutigen?. Das bisherige hat ja wohl – unabhängig von neuen Passiv-Medien -abgeschreckt.
Kommentar von Martin Compart 21. September 2018 @ 7:41 pmt,
@ Martin – Point taken. – Aber mit dem Niveau ist das halt heutzutage so eine Sache.
Kommentar von Stefan Heidsiek 21. September 2018 @ 8:04 pmKeine Serienkiller, kein kochender Privatermittler, keine Polizistin mit einem Schicksal schlimmer als der Tod, kein alleinerziehender Detective – endlich wieder intelligente Unterhaltung auf der Höhe der Zeit. Das Buch ist gekauft.
Kommentar von Big T 21. September 2018 @ 5:32 pmKein Preis für intelligente Spitzenunterhaltung. Bedenke, was eine Cinemax-Karte für einen AVENGERS-Film kostet, in dem evolutionsbehinderte Geisteskrüppel mit offenem Maul neben Dir sitzen (für sie hat man den Vorspann abgeschafft, damit sie nicht gleich zum Nacho-Stand torkeln. Oder ein Buch von …., bei dem sich nachgewiesene Alphabeten nach einer Seite fragen, ob sie es richtig herum halten.
Kommentar von Martin Compart 21. September 2018 @ 5:43 pmLe Carre, den habe ich gefressen. M.C traut sich wenigstens ihn Langweiler zu nennen, denn genau das ist er.
Kommentar von Gunther Feist 22. September 2018 @ 7:44 amSpooks und Sandbaggers als Inspiration sind mir Empfehlung genug.
Ambler, Deighton, Freemantle, Household, Mather, Rathbone.
Kommentar von krimiautorenaz 1. November 2018 @ 7:22 pmLe Carré (Smiley-Romane).
Ross Thomas natürlich, ist aber kein Engländer.
[…] konnte mir das dato davon noch kein Bild machen, traue aber dem fachlichen Urteil der Kritiker (u.a. Martin Compart) genug, um auch beim zweiten Band bedenklos zuzuschlagen, zumal sich der Klappentext wie ein Le […]
Pingback von +++ Vorschau-Ticker „Crime“ – Winter 2019/Frühjahr 2020 – Teil 2 +++ | crimealley 15. Mai 2019 @ 9:01 am[…] Beste deutsche Erstausgabe: DEAD LIONS von Mick Herron https://martincompart.wordpress.com/2018/09/21/mick-herron-der-abdecker-des-secret-service-1/ […]
Pingback von MEIN BESTER ROMAN 2019: HOW BEAUTIFUL THEY WERE von BOSTON TERAN | Martin Compart 16. Januar 2020 @ 9:29 am