Martin Compart


LEE CHILD – Hard-boiled Brite by Martin Compart

Nach den grausamen Adaptionen mit Tom Cruise, gibt es nun eine serielle Umsetzung der REACHER-Romane, die uns Fans wohl eher befriedigt. In der ersten Staffel, gerade auf Amazon Prime angelaufen, setzte man in acht Folgen den ersten Roman, KILLING FLOOR (1997), nahe am Buch um. Die 2. Season ist beauftragt.
Ein Grund, meinen alten TIP-Artikel nochmal auszugraben.

Trivia zur TV-Serie: https://www.imdb.com/title/tt9288030/trivia/?ref_=tt_trv_trv

Unterschiede zwischen Buch und TV sind hier analysiert: https://crimereads.com/how-lee-childs-killing-floor-was-transformed-into-reacher/

Er kennt alle Kniffe und weiß genau, was er tut: „Der Roman ist die reinste Form der Unterhaltung. Näher kommt kein anderes Medium an sein Publikum. Stundenlang ist der Leser mit dem Autor ganz allein – und hört ihm zu.

Lee Child genießt seinen Erfolg: „Mit das Schärfste für einen Autor ist, zu sehen, wie Leute dein Buch im Flugzeug oder am Strand lesen, daß Hollywood dich im Zug anruft – und deinen Namen auf den Bestsellerlisten zu sehen.

Alles bereits erlebt. Child ist innerhalb von wenigen Jahren zum Bestseller-Garanten aufgestiegen. Jedes Jahr verkauft er eine Million Romane in 20 Sprachen. Da spielen die Lebenshaltungskosten in New York keine Rolle mehr. Vor ein paar Jahren ist er aus dem teuren London in die noch teurere US-Metropole umgezogen. Amerika war und ist aus mehreren Gründen wichtig für ihn: Er ist mit einer Amerikanerin verheiratet, und seine Karriereplanung als Bestseller-Autor war von Anfang an auf die Staaten ausgerichtet.

Deshalb hat er auch seine Serie über den Ex-Militärpolizisten Jack Reacher gezielt in den USA angesiedelt.

„Es ist der größte Buchmarkt der Welt. Wer ihn erobert hat, dem stehen alle anderen Märkte offen. Durch meine Frau habe ich die USA regelmäßig besucht. Außerdem habe ich in all den Jahren beim Fernsehen eines gelernt: Du mußt dahin gehen, wo du das meiste Publikum erreichst. Die USA sind der größte Thriller-Markt. Ich nenne das meine Basketball-Theorie. Wenn du Basketballspieler werden willst, wirst du in Europa immer nur für die Zweitbesten spielen. Man muß in die Staaten zur NBA gehen, um rauszukriegen, ob man wirklich das Zeug zum Spitzenspieler hat. Dasselbe gilt für Schriftsteller.“

Child ist freundlich und ein Gentleman. Die guten Manieren hat er jedoch nicht aus der Kinderstube: Er stammt aus Birmingham und wuchs mitten in den miesesten Industrieregionen auf, wo man schon ins Krankenhaus mußte, wenn man auch nur mit dem Flußwasser in Berührung kam. Kleine Konflikte wurden mit Fahradketten ausgetragen; alte Narben erinnern an die schönste Zeit des Lebens.

Der 1954 geborene Autor blieb nicht auf der Strecke und studierte Jura, ohne Anwalt werden zu wollen. Von Anfang an war sein Ziel das Showbiz. Nach dem Studium ging er zu Granada TV in Manchester, bekanntlich ebenfalls ein urbanes Juwel in der Krone Britanniens.
Die Glotze brachte wichtige Erfahrungen: „Ich habe 17 Jahre lang Fernsehen gemacht. Ich weiß, wie das Spiel funktioniert. Als ich rausflog, war ich für 40.000 Stunden Qualitätsfernsehen mitverantwortlich gewesen, darunter Serien wie „Prime Suspect“ und „Für alle Fälle Fitz“. Das hat meine DNS auf spannende Unterhaltung programmiert.“

Mit 41 war sein Leben auf Null gestellt: Granada TV feuerte ihn 1995. „Es war diese typische 90er-Jahre-Nummer“, sagt Child. „Wenn Sie Ihren Job behalten wollen, müssen wir Ihr Gehalt halbieren.“ Da er Gewerkschaftsaktivist war, stand er nicht auf der Wunschliste anderer TV-Gesellschaften und wurde freudig gefeuert.

Also setzte er sich hin und schrieb innerhalb weniger Wochen seinen ersten Thriller „Größenwahn“, dessen Protagonist Reacher ganz anders war als die aktuell üblichen: „Ich wollte einen großen, starken Mann, ohne Bindungen und ohne die üblichen Freunde und Liebschaften – vor allem keinen blinden oder tauben Hobbykoch mit Alkohol- und Beziehungsproblemen. Reacher bleibt mysteriös. Zuviel über ihn zu wissen, wäre das Ende der Serienfigur. Nach dem ersten Buch dachte ich, der Kerl ist viel zu barbarisch für weibliche Leser. Ich hatte mich total geirrt. Frauen sind die größten Fans.

In jedem seiner Bücher findet man allerdings auch starke Frauen, die jedem Ballermann-Macho den Angstschweiß auf die Stirn treiben. Reacher verbindet Schwarzeneggers körperliche Kraft mit der analytischen Brillanz eines Sherlock Holmes und der militärischen Ausbildung eines Special-Forces-Soldaten: „Braungebrannt und in bester Form, wie ein mit Walnüssen vollgestopftes Kondom.“
Trotzdem ist Reacher eher eine Hard-boiled-Version von Neal Cassady als ein Marvel-Held – denn im Grunde ist er auf der Flucht vor Enge, Uniformität und Erstarrung.

Der Noir-Held als Beat.

Nirgends Verwandte, er schuldet niemanden Geld, hat nie jemanden betrogen oder irgendwelche Kinder gezeugt. Sein Name steht auf so wenigen Dokumenten, wie es einem Menschen überhaupt möglich ist. Der ruhelose Rumtreiber, der fast sein ganzes Leben außerhalb der USA verbracht hat, bewegt sich wie ein Außerirdischer durch God´s Own Country. Eine Inspiration für Reacher war John D. MacDonalds großartige Travis-McGee-Serie.

Mit seinem distanzierten Blick gelingen dem Autor treffende Schilderungen der amerikanischen Landschaft, der diese Spannung aus Realität und Mythos innewohnt. Nebenbei erklärt er, wie mies die Mythologen des freien Unternehmertums heute Geschäfte machen und dabei begeistert über Leichen trampeln.

Der verwahrloste Kontinent liefert die Weite, die er braucht. Die Unabhängigkeit und Bindungslosigkeit von Reacher ermöglicht es Child, mit jedem Roman eine andere Art von Thriller zu schreiben.

Als alter Fernsehprofi weiß ich natürlich genau, auf welche starken Strukturen ich verzichte, indem ich meinem Helden keine Soap-opera-Elemente mitgebe, die Leser oft an Serienfiguren binden. Andererseits kann ich einen Roman als psychologisches Kammerspiel machen und den nächsten als Polit-Thriller auf höchster Ebene. So halte ich die Serie frisch, ohne dass sie in ihren eigenen Klischees erstickt.

Seine Mischung aus Hard-boiled-Krimi und faktengespicktem Polit-Thriller gehört im Genre zum heißesten, sein Thriller-Konzept (eine zeitgemäße Mischung aus Ian Fleming, Peter O´Donnell und John D. MacDonald) schafft es, aus längst dahingestorbenen Plots noch Vitalität zu holen. Obwohl – auch das muss gesagt werden -: Abgewichste Krimi-Fans durchschauen die Handlung auf halber Strecke. Trotzdem bleibt man dran, was für Childs Erzählkunst spricht.

Sein Stil hat nichts mit dem expressionistischen Minimalismus der Hammett-Ästhetik zu tun, sondern ist eine gelungene Synthese aus britischem Suspense-Thriller und amerikanischer Hard-boiled-Literatur. Die Reacher-Romane sind süchtig machende Page-Turner, und die Fans bitten flehentlich darum, ihnen jährlich statt einem Roman doch bitte zwei in den Rachen zu rammen.

Seit 1998 lebt Lee Child in Westchester, New York – mit seiner Frau Jane, der erwachsenen Tochter Ruth und der kleinen Hündin Jenny.
„Deshalb komme ich so gerne nach Europa: um andere Raucher zu treffen“, sagt Lee Child und steckt sich eine weitere Zigarette an. Und was hätte er gern auf seinem Grabstein stehen? „Hier liegt ein Kerl, der niemanden bösartig behandelt hat und seinen Unterhalt bestritt, ohne den Planeten auszuplündern.“

Unseren Segen hat er!

P.S.: Lee Child war der erste (Kriminal)literat, der zumindesr dezent die Nerd-Kultur berücksichtete/nutzte. Die TV-Serie trägt dem dezent Rechnung, in den Auseinandersetzungen zwischen Reacher(Blues) und Finlay(weißer Pop) bei ihren musikalischen Vorlieben.


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